Charlotte Bühler

deutsche Psychologin

Charlotte Bühler, geborene Malachowski (* 20. Dezember 1893 in Berlin; † 3. Februar 1974 in Stuttgart), war eine deutsche schulbildende Entwicklungspsychologin.

Aufnahme von Georg Fayer (1927)

Charlotte Malachowski wurde als ältestes von zwei Kindern des jüdischen Architekten Hermann Malachowski und dessen Ehefrau Katharina Rose Malachowski geb. Kristeller in Berlin geboren und evangelisch getauft.

Nach Besuch der Krainschen Höhere Mädchenschule und des Auguste-Viktoria-Lyzeums in Charlottenburg nahm sie 1913 das Studium der Natur- und Geisteswissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin auf.[1] Charlotte Malachowski heiratete Karl Bühler am 4. April 1916. Im Jahr 1917 wurde die Tochter Ingeborg und 1919 der Sohn Rolf geboren.

1918 promovierte sie in München mit der Dissertation Über Gedankenentstehung, Experimentelle Untersuchungen zur Denkpsychologie zum Dr. phil. Im gleichen Jahr ging sie mit ihrer jungen Familie nach Dresden, wo Charlotte weiter im Feld Kinder- und Jugendpsychologie forschte und ihre Habilitation vorbereitete. 1920 habilitierte sie sich an der Technischen Hochschule Dresden. Sie erhielt von dieser TH als erste Frau die Lehrberechtigung für Sachsen in den Fächern Ästhetik und pädagogische Psychologie.[2]

Ihr Ehemann Karl starb 1963 in Los Angeles, sie selbst erkrankte 1970 und kehrte 1971 zu ihren Kindern nach Stuttgart zurück, wo ihr Sohn an der Universität Stuttgart als Professor für Raumfahrt lehrte. Hier starb sie im Februar 1974 im Alter von 80 Jahren.

Im Jahr 1923 wurde Charlotte Bühler als dritter Frau[3] die Lehrberechtigung an der Universität Wien übertragen. Am 18. Juli 1929[4] wurde sie trotz breiten Widerstands gegen sie als Frau zur außerordentlichen Professorin ernannt. Dieses Ereignis ehrte die RAVAG, indem sie am 10. August 1929 durch Bildrundfunk ihr Funkbild (Vorläufer des Fax) ausstrahlte („[Nr.] 1368 Charlotte Bühler, der erste weibliche Professor an der Wiener Universität“).[5]

Beide Bühlers arbeiteten eng in dem neuen Institut zusammen, in dem ihnen ein Laboratorium für ihre Forschung zur Verfügung gestellt war.[6]

Hier erwarb sie sich durch ihre Forschungen und Veröffentlichungen in den nächsten Jahren das internationale Ansehen, das zum Namen der „Wiener kinderpsychologischen Schule“ um Charlotte Bühler - führte, die heute noch in diesem Geist im Charlotte-Bühler-Institut[7] weitergeführt wird. Dabei gab es kaum direkte Kontakte zum psychoanalytischen Kreis um Sigmund Freud, der an der Medizinischen Fakultät lehrte. 1924/25 war sie für 10 Monate auf Einladung der Rockefeller-Stiftung in den USA, wo sie die Methoden des dort vorherrschenden Behaviorismus studierte. Doch blieb das Entwicklungsdenken der Biologie die Leitidee ihrer Forschung. 1930 nahm sie eine Gastprofessur an der Columbia University New York wahr, 1935 war sie in London, um ein Kinderpsychologisches Institut einzurichten.[8]

1929 war sie Gründungsmitglied des ersten österreichischen Club Soroptimist International, ein Serviceclub berufstätiger Frauen.[9]

Im März 1938 erfuhr sie während eines Aufenthalts in London vom „Anschluss Österreichs“. Karl Bühler wurde am 23. März 1938 in Schutzhaft genommen und in Folge wurden beide, da sie jüdischer Herkunft waren, aus der Universität entfernt. Über Beziehungen zu Norwegen erreichte Charlotte Bühler nach sechseinhalb Wochen die Freilassung ihres Gatten. Im Oktober 1938 war die Familie in Oslo wiedervereint.

Beide erhielten zwar Anfang 1938[10] einen Ruf an die katholische Fordham University in New York City, der jedoch aufgehoben wurde, als Charlottes protestantische Konfession bekannt wurde.[11] Karl Bühler nahm dann aber eine Professur in Saint Paul, Minnesota, an, während Charlotte Bühler in Norwegen blieb, da sie 1938 bereits zeitgleich je eine Professur an der Universität Oslo und der Lehrerakademie Trondheim angenommen hatte. Erst nach einer dringenden Bitte ihres Ehemannes emigrierte sie 1940 in die Vereinigten Staaten nach Saint Paul, was ihr noch kurz vor der Besetzung Norwegens gelang.

1942 übernahm sie die Position einer Leitenden Psychologin im Zentralkrankenhaus von Minneapolis. Im Jahr 1945 nahm sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an und wechselte nach Los Angeles, Kalifornien, als Leitende Psychologin des County General Hospital. Diese Funktion übte sie bis zu ihrer Emeritierung 1958 aus, zeitgleich war sie Professorin für Psychiatrie an der University of Southern California in Los Angeles. Anschließend führte sie in Beverly Hills eine Privatpraxis. Ihr Spätwerk diente der Entfaltung der Humanistischen Psychologie.

Schriften

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  • In Dresden erschien 1922 Das Seelenleben des Jugendlichen, welches erstmals eine entwicklungspsychologische Sicht in der Jugendpsychologie verwendete. Ein projektives Testverfahren, das Charlotte Bühler zu verdanken ist, ist der Bühlersche Welt-Test.
  • In Wien spezialisiert auf Kleinkinder- und Jugendpsychologie, begründete die Wissenschaftlerin eine Ausrichtung experimenteller Forschungsarbeit auf der Basis von Tagebüchern und Verhaltensbeobachtungen („Wiener Schule“). Mit ihrer Assistentin Hildegard Hetzer, die 1927 durch Lotte Schenk-Danzinger abgelöst wurde, entwickelte sie Entwicklungs- und Intelligenztests für Kleinkinder, die bis heute verwendet werden.[6]
  • 1933 erschien Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in dem erstmals im deutschsprachigen Raum das höhere Lebensalter in eine Psychologie der Lebensspanne einbezogen und die Gerontopsychologie der Psychologie zugeordnet wird. Sie gilt daher als frühe Wegbereiterin der Gerontopsychologie.[12]
  • In den USA entwickelte sie vier „Grundtendenzen“ des menschlichen Lebens: Bedürfnisbefriedigung, selbstbeschränkende Anpassung, schöpferische Expansion, Aufrechterhaltung der inneren Ordnung; andere Formulierungen hierfür lauten auch: Tendenzen nach persönlicher Zufriedenheit, nach Anpassung zwecks Erlangung von Sicherheit, Kreativität oder Selbstentfaltung und nach Ordnung. Sie schuf zusammen mit Carl Rogers und Abraham Maslow die Grundlagen der Humanistischen Psychologie.
 
Gedenktafel am Palais Epstein, Wien

Ehrungen

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Veröffentlichungen

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Das Verzeichnis ihrer Publikationen umfasst 168 Arbeiten, von denen mehrere in 21 Sprachen übersetzt wurden.

  • Kindheit und Jugend: Genese des Bewußtseins. Hirzel, Leipzig 1928.
  • Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem. Hirzel, Leipzig 1933.
  • Kind und Familie: Untersuchungen der Wechselbeziehungen des Kindes mit seiner Familie. Fischer, Jena 1937.
  • Praktische Kinderpsychologie. Lorenz, Wien, Leipzig 1938.
  • Kleinkindertests: Entwicklungstests vom 1. bis 6. Lebensjahr. Barth, München 1952.
  • Psychologie im Leben unserer Zeit. Droemer/Knaur, München, Zürich 1962.

Literatur

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  • Manfred Berger: Bühler, Charlotte Berta. In: Hugo Maier (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit. Freiburg/Brsg. 1998, S. 115–116.
  • Manfred Berger: Zum 100. Geburtstag von Charlotte Bühler. In: Unsere Jugend 1993, S. 525–527.
  • Charlotte Bühler: Selbstdarstellung. In: Ludwig Pongratz u. a. (Hrsg.): Psychologie in Selbstdarstellungen. Band 1. Huber, Bern u. a. 1972, ISBN 3-456-30433-1, S. 9–42.
  • Gerald Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem. Lang, Frankfurt am Main u. a. 2007, ISBN 3-631-55743-4 (Beiträge zur Geschichte der Psychologie 23), (Biographie).
  • Barbara Reisel: Bühler, Charlotte. In: Gerhard Stumm u. a.: Personenlexikon der Psychotherapie. Springer, Wien u. a. 2005, ISBN 3-211-83818-X, S. 77–79.
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Commons: Charlotte Bühler – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Bühler, Charlotte. In: Uwe Wolfradt, Elfriede Billmann-Mahecha, Armin Stock (Hrsg.): Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933–1945. Springer, Wiesbaden 2017, ISBN 978-3-658-15039-6, S. 58–59.
  2. Tagesbericht. Die erste Dozentin an der Technischen Hochschule Dreseden. In: Grazer Tagblatt / Grazer Tagblatt. Organ der Deutschen Volkspartei für die Alpenländer / Neues Grazer Tagblatt / Neues Grazer Morgenblatt. Morgenausgabe des Neuen Grazer Tagblattes / Neues Grazer Abendblatt. Abendausgabe des Neuen Grazer Tagblattes / (Süddeutsches) Tagblatt mit der Illustrierten Monatsschrift „Bergland“, 27. Dezember 1920, S. 4 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/gtb
  3. Tagesneuigkeiten. Das Sommersemester an der Wiener Universität. In: Neues Wiener Journal, 8. April 1923, S. 4 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwj
  4. Amtlicher Teil. In: Wiener Zeitung, 6. August 1929, S. 1 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/wrz
  5. Funkbilder der „Ravag“. Verzeichnis der durch Bildrundfunk ausgestrahlten Bilder. In: Radio Wien, 16. August 1929, S. 64 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/raw
  6. a b c Gleiche Bildungschancen für alle: Der Schulreformer Otto Glöckel. Das Epstein war auch Wirkungsstätte von Karl und Charlotte Bühler. Parlamentskorrespondenz Nr. 358 vom 14. Mai 2007
  7. Leitbild | Charlotte Bühler Institut. Abgerufen am 28. Mai 2020.
  8. Brigitta Keintzel: Wissenschafterinnen in und aus Österreich: Leben - Werk - Wirken. Böhlau Verlag Wien, 2002, ISBN 978-3-205-99467-1 (google.de [abgerufen am 29. Mai 2020]).
  9. https://wien1.soroptimist.at/ueberunsdet.asp?art=G abgerufen am 14. Oktober 2019
  10. Prof. Dr. Charlotte Bühler, Wiener Kinder-Psychologin, wurde an die Fordham-Universität in New-York berufen (Bildunterschrift). In: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ / Neues Wiener Abendblatt. Abend-Ausgabe des („)Neuen Wiener Tagblatt(“) / Neues Wiener Tagblatt. Abend-Ausgabe des Neuen Wiener Tagblattes / Wiener Mittagsausgabe mit Sportblatt / 6-Uhr-Abendblatt / Neues Wiener Tagblatt. Neue Freie Presse – Neues Wiener Journal / Neues Wiener Tagblatt, 1. Februar 1938, S. 36 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwg
  11. Lieselotte Ahnert: Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie. V&R unipress GmbH, 2015, ISBN 978-3-8471-0430-8 (google.de [abgerufen am 29. Mai 2020]).
  12. Ulrich M. Fleischmann: Gerontopsychologie. In: Lexikon der Psychologie. wissenschaft-online, abgerufen am 11. Februar 2011
  13. Herbert Posch: Tore der Erinnerung am Campus der Universität Wien. In: 650 plus – Geschichte der Universität Wien. Universität Wien, 7. März 2017, abgerufen am 1. September 2021.
  14. orf.at - Sieben Frauendenkmäler für Uni Wien. Artikel vom 28. Oktober 2015, abgerufen am 28. Oktober 2015.
  15. derStandard.at - Arkadenhof der Uni Wien beherbergt nun auch Frauen-Denkmäler. Artikel vom 30. Juni 2016, abgerufen am 1. Juli 2016.