Christophe Thivrier

französischer Politiker, Mitglied der Nationalversammlung

Christophe Thivrier, auch Tivrier, genannt Christou, (* 16. Mai 1841 in Durdat-Larequille; † 8. August 1895 in Commentry) war ein französischer Politiker während der Dritten Republik. Er gilt als der erste sozialistische Bürgermeister der Welt und war als „député en blouse“ (Abgeordneter im Kittel) bekannt.[1][2]

Christophe Thivrier wird aus der Abgeordnetenkammer geworfen – Le Petit Journal (12. Februar 1894)
Büste Christophe Thivriers in Commentry

Christophe Thivrier war der Sohn von Gilbert Thivrier (1809–1904), einem Landwirt und späteren Bergarbeiter, und Marie Moncier (1799–1852). Im Alter von 10 Jahren arbeitet er als Bergarbeiter.[3] Später arbeitete er als Bauunternehmer, Ölarbeiter, Bäcker und Weinhändler, wobei alle seine Berufe dazu dienten, sich aus dem Einflussbereich der Minengesellschaft zu befreien, die versuchte, die aufkommende Arbeiterbewegung zum Schweigen zu bringen.[A 1] Er war Mitglied von La Marianne (einem Geheimbund, der versuchte, die Forderungen der Arbeiter in der Illegalität zu vereinen, da Gewerkschaften verboten waren).[4]

Thivrier war bis zu seinem 28. Lebensjahr Bergmann und wurde später ein Kleinunternehmer im Baugewerbe. Er wurde 1874 auf einer republikanischen Liste in den Gemeinderat von Commentry gewählt. Am 6. Juni 1882 wurde er zum Bürgermeister von Commentry gewählt und war damit der erste sozialistische Bürgermeister der Welt. 1888 wurde er im Amt bestätigt. Am 14. Dezember 1888 wurde er seines Amtes enthoben, weil er eine mit seinem Titel als Bürgermeister unterzeichnete Sympathieadresse an den Gewerkschaftskongress in Bordeaux geschickt hatte.[5]

Als er 1889 als Boulangist zum Abgeordneten gewählt wurde[3], trat er in der Abgeordnetenkammer im blauen Kittel der Arbeiter des Bourbonnais auf und erfüllte damit seine Verpflichtung gegenüber den Bergleuten von Bézenet. Er weigerte sich, den Kittel unter den Aufforderungen der Gerichtsdiener abzulegen, und entgegnete ihnen: „Wenn Abbé Lemire[6] seine Soutane ablegt, wenn General de Gallifet seine Uniform ablegt, werde ich meinen Arbeiterkittel ablegen“. Er präzisierte: „Ich werde meine Bauernschuhe ablegen und versuchen, Stiefel zu ertragen, aber ein Kleidungsstück mit ‚Stockschwanz‘ zu tragen, daran ist nicht zu denken“.[A 2][7][8] In der Kammer organisierte er sich bei der Parti ouvrier. Friedrich Engels betrachtete ihn neben Eugène Baudin[9] und Félix Lachize[10] als einen der Marxisten in der Kammer.[11]

1890 brach in Commentry ein Streik aus, nachdem 300 Bergleute, die zu den aktivsten Sozialisten gehörten, entlassen worden waren. Thivrier sprach sich gegen die Interventionen und Provokationen der Armee und der Gendarmerie zur Unterstützung des Bergbauunternehmens aus. Thivrier war Delegierter der Parti ouvrier beim Kongress von Lille und Calais (1890) und beim Internationalen Kongress von Brüssel. Bald wurde er von seiner Partei wegen seiner Sympathie für das Comité révolutionnaire central (CRC) der Blanquisten kritisiert. Sein Verhältnis zu Jean Dormoy[12] und den Sozialisten von Montluçon verschlechterte sich. Auf dem Nationalen Guesdistischen Kongress 1892 in Marseille löste Thivrier heftige Kontroversen aus, als er den Generalstreik verteidigte. Kurz darauf trat er aus der Partei aus und führte die meisten sozialistischen Organisationen von Commentry in die Mitgliedschaft im CRC.[5]

Besonders bekannt wurde er durch eine Episode im Plenarsaal der Nationalversammlung am 27. Januar 1894. Als der Abgeordnete der Haute-Saône, Georges Chaudey[13], zu Jules Guesde sagte: „Wenn man die Commune hinter sich hat, hat man nicht das Recht, gegen die Verletzung der Freiheit zu protestieren“, rief Christophe Thivrier dreimal „Vive la Commune“ und wurde daraufhin vorübergehend aus dem Parlament ausgeschlossen.[14] In Erinnerung an diesen Vorfall sind die Rathäuser von Montluçon und Commentry seither am 18. März, dem Jahrestag der Commune, geschlossen.[15]

Er war verheiratet mit Marie Martin (1842–1932). Das Paar hatte vier Kinder. Zwei waren Bürgermeistern von Commentry, Alphonse (1869–1936) und Isidore Thivrier, der auch Abgeordneter war. Léon Thivrier[16] war ebenfalls Abgeordneter. Durch seine Tochter Louise Angéline (1879–1973) war er Schwiegervater des Journalisten, Schriftstellers und Politikers Ernest Montusès[17].

Literatur

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Im Text verwendet
  • Alain Bergounioux: Des poings et des roses; le siècle des socialistes. Martinière, 2005, ISBN 978-2-7324-3244-1 (google.de).
  • Fabien Conord: L’encre, la pierre et la parole. Les socialistes de l’Allier et leur histoire, 1944–2001. In: Le Mouvement social. 2003, doi:10.2307/3779896.
  • Leslie Derfler: Paul Lafargue and the Flowering of French Socialism, 1882-1911. Harvard University Press, 2009, ISBN 978-0-674-03422-8 (google.de).
  • Jean El Gammal: Politique et poids du passé : dans la France „fin de siècle“. PULIM, 1999, ISBN 978-2-84287-121-5 (google.de).
  • Marcel Légoutière: Un Siècle de luttes sociales en Bourbonnais. Union départementale des syndicats C.G.T. de l’Allier, 1977.
Sonstige
  • Marie Aynié: Quelle tenue en séance ? Les transgressions du député en blouse, Christophe Thivrier. In: Parlement(s) : revue d’histoire politique. 2016 (cairn.info).
  • Ernest Montusès (Vorwort Jean Jaurès): Le Député en blouse. Figuière, 1913 (Digitalisat auf Gallica).
  • Claude Donadello: Les Tivrier (Thivrier) de La Bregère au château de Montassiégé : essai généalogique, ascendance et descendance du député en blouse. Éd. le Monde en quatre, 2007.
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Commons: Christophe Thivrier – Sammlung von Bildern

Anmerkungen

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  1. Es wurde eine Liste aller Personen erstellt, die während der Wahlen sozialistische Propaganda verbreitet hatten, darunter 135 Bergleute. Am 4. Juni 1881 wurden sie alle entlassen, und die Arbeiter traten in den Streik. Weitere 300 wurden während des Streiks auf die Liste der „Agitatoren“ gesetzt und mussten Vorstellungsgespräche führen, um nach dem Streik ihre Arbeit zurückzubekommen. 60 von ihnen fielen durch diese Gespräche, und 67 wurde mitgeteilt, dass sie von ihren neuen Arbeitgebern Führungszeugnisse benötigten, bevor sie wieder in den Minen arbeiten könnten. Bergleute, die in den Gemeinderat gewählt worden waren, konnten keine Arbeit finden und mussten den Bezirk verlassen. Quelle: Jean-Louis Peaucelle, 2015, Henri Fayol, the Manager, Routledge, ISBN 978-1-317-31939-9.
  2. Das Kleidungsstück mit „queue-de-morue“, hier als Stockschwanz übersetzt, dürfte ein Frack gewesen sein; die französischsprachige Wikipédia unterscheidet allerdings den Frack Queue-de-pie vom Queue-de-morue, der nur eine kurze Weste sei.

Einzelnachweise

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  1. Bergounioux 2005, S. 34
  2. Conord 2003, S. 43–60
  3. a b Derfler 2009, S. 82
  4. Légoutière 1977, S. 21
  5. a b Siehe Biographie im Weblink Assemblée nationale
  6. Jules Lemire. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 17. Oktober 2024 (französisch).
  7. Anne Chemin: La cravate à l’Assemblée nationale, histoire d’une controverse (Paywall). In: Le Monde. 4. März 2023, abgerufen am 17. Oktober 2024 (französisch).
  8. Siehe Weblink Maitron; hier sind weitere Dispute zu diesem Thema genannt.
  9. Eugène Baudin. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 20. Oktober 2024 (französisch).
  10. Félix Lachize. Abgerufen am 20. Oktober 2024 (französisch).
  11. Derfler 2009, S. 382
  12. Justinien Raymond: DORMOY Jean. In: Maitron. Abgerufen am 20. Oktober 2024 (französisch).
  13. Georges, Gabriel, Auguste Chaudey. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 19. Oktober 2024 (französisch).
  14. El Gammal 1999, S. 677
  15. Christophe Thivrier auf Centenaire.parti.socialiste (Memento vom 19. Oktober 2024)
  16. Léon Tivrier dit Thivrier. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 19. Oktober 2024 (französisch).
  17. Ernest Montusès. In: Les amis d’Ernest Montusès. Abgerufen am 19. Oktober 2024 (französisch).