Dedowschtschina

Schikanieren von Wehrpflichtigen in den russischen Streitkräften
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Dedowschtschina (russisch дедовщина, „Herrschaft der Großväter“) bezeichnet das in den russischen Streitkräften und Streitkräften anderer postsowjetischer Staaten teilweise bis heute übliche Schikanieren jüngerer wehrpflichtiger Soldaten durch Dienstältere.

Historische Entwicklung

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Das Phänomen der Dedowschtschina lässt sich bis in die Zarenzeit zurückverfolgen. Es weist offensichtliche Verbindungen zum Straflagersystem in der Zaren- wie Sowjetzeit auf (vgl. Katorga, Gulag) und griff seit den 1970er Jahren in den sowjetischen Streitkräften immer weiter um sich.

Dabei handelt es sich nicht um klassische Initiationsriten, wie sie häufig bei der Aufnahme in geschlossene Gemeinschaften üblich sind (vgl. Bizutage), sondern um kontinuierliche Praktiken über einen längeren Zeitraum hinweg. Ihr Unterworfene haben die Arbeiten der „Großväter“ wie Revierreinigen, militärfremder Arbeitseinsatz usw. zu erledigen, ihnen werden außerdem der Sold und Zuwendungen Angehöriger abgenommen. Ein beleidigender Umgangston ist selbstverständlich und psychische Quälereien treten hinzu. Die Schikanen erreichen mit Körperverletzungen und Morden nicht selten ein schwer kriminelles Ausmaß. Die Dedowschtschina ist häufig die Ursache für ein unerlaubtes Entfernen von der Truppe bis zu Selbstmorden.

Bei der in der DDR stationierten Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland wurde das mit der Dedowschtschina zusammenhängende Entfernen von der Truppe mit drakonischen Strafen belegt. Die Flüchtigen wurden häufig mit Hunden verfolgt. Viele kamen bei den verzweifelten Fluchtversuchen ums Leben.

Bis über die Mitte der 1980er Jahre hinaus galt das Phänomen in der Sowjetunion als Tabuthema, erst die sogenannte Glasnost unter Staats- und Parteichef Gorbatschow trug dazu bei, dass eine breite Öffentlichkeit Notiz davon nehmen konnte. Aber schon zuvor hatte die durch Erzählungen und Gerüchte latent berüchtigte Dedowschtschina dazu beigetragen, eine über das normale Ausmaß in anderen Ländern weit hinausgehende Abneigung gegen den Militärdienst zu erzeugen. Um die Zeit des Zerfalls der Sowjetunion trug es zu einer regelrechten Revolte von Wehrpflichtigen mit massenhafter Dienstentziehung bei. Weiterhin versuchen viele Betroffene, sich auch mit Hilfe von Korruption, also der Zahlung hoher Bestechungsgelder an Verantwortliche wie z. B. Rekrutiertierungsoffizere, der Einberufung zu entziehen.

Jedes Jahr werden Soldaten als Invaliden aufgrund von Misshandlungen, Vergewaltigungen und psychischen Peinigungen aus der russischen Armee entlassen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums gab es im Jahr 2010 bis Anfang September mehr als 1700 Dedowschtschina-Opfer.[1] Im Jahr 2005 starben 16 Soldaten an den Folgen von Misshandlungen, 276 begingen nach Quälereien und Erniedrigungen durch Vorgesetzte Suizid,[2] andere Quellen sprechen von über 500 Opfern.[3] Ungeklärt ist, weshalb manchen Opfern vor der Überstellung zur Beerdigung innere Organe entfernt wurden. Angehörige vermuten, dass diese in den Organhandel gelangen.[1]

Diese Form von teils tödlichen Exzessen wird auch im Einsatz wie dem Ukrainekrieg innerhalb der russischen Streitkräfte insbesondere durch rekrutierte Straftäter weiter ausgelebt.[4]

Für die Aufarbeitung der Fälle und damit für die Durchsetzung der Menschenrechte in Russland tritt hier vor allem die Union der Komitees der Soldatenmütter ein.

Medial bekannt gewordene Fälle

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Im Jahr 2006 wurde der Fall des damals 19-jährigen Wehrpflichtigen Andrei Sytschow auch außerhalb Russlands bekannt. Dieser wurde von Vorgesetzten so schwer misshandelt, dass ihm beide Beine, die Genitalien und Teile der rechten Hand amputiert werden mussten. Gegen zwölf ehemalige Vorgesetzte wurde Anklage erhoben.[5][6] Ein Militärarzt äußerte als Zeuge der Verteidigung, dass Sytschow sich mehrere Monate vor dem Vorfall eine Blutvergiftung zugezogen haben könnte.[7][8][9] Am 26. September 2006 verurteilte das Garnisonsgericht in Tscheljabinsk den Hauptangeklagten zu vier Jahren Haft und erkannte ihm für drei Jahre den Dienstgrad als Unteroffizier ab. Zwei weitere angeklagte Soldaten erhielten eine Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren auf Bewährung.[10]

2019 erregte der Fall von Ramil Shamsutdinov Aufsehen. Aus Angst vor Dedowschtschina erschoss der Rekrut in seiner Kaserne bei Tschita acht Kameraden und verletzte zwei schwer.[11]

Andere Armeen und Gesellschaftsgruppen

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Diese Form von Misshandlungen durch Kameraden und Vorgesetzte ist nicht nur in der russischen Armee vorhanden, allerdings nicht ansatzweise so stark ausgeprägt.

In der NVA gab es die ebenfalls mit bedenklichen Auswüchsen verbundene EK-Bewegung. Auch in der Bundeswehr kam und kommt es, wenn auch nicht systematisch, sowohl zu Initiationsriten als auch zu länger andauernden Formen von Mobbing. Sie sind in einigen Truppenteilen unter dem Namen Heiliger Geist bekannt. Dazu gehören die Aufnahmerituale in das Unteroffizierkorps mit der Unteroffizierfeier und solchen in Teileinheiten mit besonderer Dienstbelastung, so wie bei einem der Hochgebirgszüge. Diese werden teilweise, aber nicht immer von den Vorgesetzten unterbunden, soweit sie bekannt werden.

Die Bizutage ist ein in Frankreich und den frankophonen Ländern lokal unterschiedlich ausgestalteter Initiationsritus im Ober- und Hochschulmilieu, die bis in die jüngste Vergangenheit häufig die Grenze zu kriminellen Handlungen wie Misshandlung, Demütigung, z. T. auch die zu sexuellen Übergriffen sowie manchmal zur Schutzgelderpressung überschritten hat.

In der türkischen Armee kommt es ebenfalls häufiger zu Todesfällen durch Misshandlungen durch Kameraden.[12]

In der US Army wird durch Kameraden teilweise auf Befehl von Vorgesetzten der Code Red ausgeübt, um die Disziplin zu erhöhen oder zu höherer Leistung anzutreiben.

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. a b Russlands Armee – „Die machen mich hier zum Krüppel“. Spiegel Online, 20. September 2010
  2. Das Faustrecht regiert in der russischen Armee, bei Deutsche Welle, 23. Februar 2006
  3. de.rian.ru@1@2Vorlage:Toter Link/de.rian.ru (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2023. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  4. Grausame Zustände an der Front Russische Soldaten misshandeln und töten sich wohl gegenseitig
  5. Manfred Quiring: „Hier liegt ein kleiner Soldat ohne Beine“. In: Die Welt, 27. Januar 2006.
  6. O. Bilger: Die Herrschaft der grausamen Großväter. In: Süddeutsche Zeitung, 11. November 2008; abgerufen am 14. Juli 2009.
  7. Steven Lee Myers: Hazing Trial Bares Dark Side of Russia's Military In: The New York Times, 11. August 2006. Abgerufen am 14. Juli 2009 
  8. Das doppelte Opfer. In: Berliner Zeitung, 16. August 2006
  9. Mediziner-Streit um Ursachen der Verstümmelungen eines russischen Soldaten, bei Deutsche Welle, 24. August 2006
  10. Aksim Bereschnow: Russland: Urteil im Misshandlungsfall Sytschow, bei Deutsche Welle, 26. September 2006; abgerufen am 14. Juli 2009.
  11. Inna Hartwich: „Großväter“ als Folterknechte. In: Stuttgarter Zeitung Nr. 265, 15. November 2019, S. 3.
  12. t-online.de/tv/news (Memento vom 5. Januar 2015 im Internet Archive) Soldaten brechen ihr Schweigen, abgerufen am 14. April 2024.