Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld
Der Abituriententag ist ein 1928 erschienener Roman von Franz Werfel. Der Roman trägt den Untertitel Geschichte einer Jugendschuld.
Handlung
BearbeitenWerfels Roman spielt in einer nicht näher benannten österreichischen Provinzstadt zwischen den beiden Weltkriegen.
Dort hat der dreiundvierzigjährige, aus Wien stammende Untersuchungsrichter Landesgerichtsrat Dr. Ernst Sebastian von Portorosso im Jahr 1927, an dem Tag, an dem ein Klassentreffen ansteht, einen Festgenommenen zu verhören, der verdächtigt wird, die Prostituierte Klementine Feichtinger in deren Wohnung erschossen zu haben.
Sebastian ist alleinstehend und bewohnt eine hübsche Wohnung. Eine nach Argentinien ausgewanderte Geliebte hat möglicherweise ein Kind von ihm. Allen Aufforderungen ausweichend, konnte er Beförderungen bisher ausschlagen. Ihm reicht es, als Sohn des ehemaligen obersten Richters der alten Monarchie in die „Schlösser Exösterreichs“ eingeladen zu werden.
Als der Tatverdächtige zu ihm geführt wird, empfängt er ihn höflich stehend, wie er es immer in diesen Fällen tut. Obwohl Sebastian freundlich mit ihm spricht, ist der Mann eingeschüchtert und beteuert nur zwei-, dreimal seine Unschuld. In der Akte, die der Richter aufgeschlagen hat, steht: „Franz Josef Adler, geboren am 17. April 1884 in Gablonz in Böhmen.“ Sebastian ist vom selben Jahrgang. Und zufällig ist er an ebenjenem Abend aus Anlass des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums seines Abiturs zu einem Klassentreffen eingeladen. Einer seiner Mitschüler hieß Franz Adler. Er ist überzeugt, dass dieser ihm nun als Verdächtiger gegenübersitzt, aber er gibt sich nicht zu erkennen.
Von den früheren Schülern, die 1902 ihr Abitur am Nikolausgymnasium machten, kommt nur die Hälfte zum Abituriententag in den Adriakeller. Einige sind bereits gestorben oder im Krieg gefallen, unauffindbar oder haben sich der Einladung entzogen. Sebastian erzählt von seiner Begegnung mit Franz Adler. Der ehemalige Mitschüler werde beschuldigt, eine Prostituierte erschossen zu haben. Burda, ein anwesender ehemaliger Mitschüler, meint, dass Adler in New York sei und ein Genie gewesen sei, worauf Sebastian verneint, denn kein Siebzehnjähriger sei ein Genie. Dann fängt man an, den Gedanken, dass Adler ein Mörder sein könnte, aufzunehmen und empört sich schließlich. Sogar der alte Geschichtslehrer Wojwode, den man hochbetagt eingeladen hat, entsetzt sich über Adler.
Als Sebastian nach dem Abituriententreffen zu Hause eintrifft, setzt er sich an seinen Schreibtisch und beginnt, eine Art Lebensbeichte zu stenografieren.
Sein Vater war zu Zeiten der Monarchie Präsident des Obersten Gerichtshofes gewesen. Von seiner Frau hatte er sich kurz nach der Geburt des Sohns scheiden lassen. Sie starb, als Ernst Sebastian sechs Jahre alt war. Da der arrogante Vater Versager hasste, bestand er darauf, nachdem sein Sohn in der Quinta des renommierten Schottengymnasiums in Wien beinahe durchgefallen wäre, dass dieser zu Beginn der Sexta zum Nikolausgymnasium nach Prag wechselte, wo er bei zwei Tanten wohnen sollte.
Sebastian stand bald auf Grund seiner tölpelhaften Antworten nicht viel besser da als August Komarek, der schlechteste Schüler des Jahrgangs, während ein gewisser Robert Fischer Klassenprimus war, und Franz Adler wurde von Lehrern und Mitschülern Ressl, Burda und Schulhof gleichermaßen als hochbegabt geachtet. Sebastian bewunderte diesen Schüler Adler, der selbstverfasste Texte in einem kleinen Mitschülerkreis vortrug.
Adlers Lebensverhältnisse waren problematisch, seine Mutter war eine kranke, mittellose Witwe, die das Bett hüten musste. Sein Vater hatte sich vor Jahren das Leben genommen. Sein verhasster Onkel, ein Tuchhändler, wollte von Franz nur eines, nämlich dass er in seinem Laden arbeite, um das Leben kennenzulernen. Franz jedoch wollte studieren. Zwischen Franz und Sebastian entwickelte sich im Laufe der Zeit ein Konkurrenzverhältnis. Um Adler und seine vortrefflichen Dramen über Friedrich herabzuwürdigen, log Sebastian, er habe bereits unter einem Pseudonym ein Gedicht in einer Zeitung veröffentlicht. Um sein Lügenkonstrukt aufrechtzuerhalten, schrieb er in einem uralten zerfledderten Werk in der Bibliothek seiner Tanten Gedichte von Justus Frey ab, um sie als seine eigenen auszugeben. Damit stieg er zwar in der Anerkennung seiner Klassenkameraden Burda und Schulhof, Adler allerdings wunderte sich darüber, dass ihn die Revolution gegen Napoleon überhaupt interessiere. Um seine Stellung auszubauen, initiierte Sebastian die Gründung eines dramatischen Vereins. Auf dem Schulweg schwärmte er davon, als erstes Stück Die Räuber aufzuführen und reklamierte die Hauptrolle für sich. Da wies Adler ihn zurecht: „Sei froh, dass du überhaupt mittun darfst, und warte auf die Rolle, die man dir zuweisen wird.“ Für diesen Affront rächte Sebastian sich in einer der nächsten Turnstunden: Als Adler am Barren eine lächerliche Figur machte, stimmte er ein höhnisches Gelächter an, in das alle anderen einschließlich des Lehrers einstimmten. Beim Umziehen begann Adler mit ihm zu raufen, unterlag dabei aber dem Stärkeren. Danach war Adler so verunsichert, dass er selbst im Deutsch- und Lateinunterricht immer häufiger versagte. Er lachte schließlich selbst über sich und verlor jede Selbstachtung.
Sebastian ersann für seine Freunde ausgeklügelte Turnuspläne im Schuleschwänzen und fälschte sämtliche Entschuldigungen. Statt in die Schule gingen sie zum Billardspielen oder in eine Gaststätte, wo sie Adler dazu animierten, Bier und Schnaps zu trinken, obwohl dieser Alkohol eigentlich verschmähte. Adler hatte jedoch eine Naschsucht, durch welche Sebastian die Entwürdigung auf die Spitze treiben konnte. In einer Konditorei brachte Sebastian seinen Rivalen einmal dazu, sich vor ihm auf den Boden zu knien und um eine Fruchtschnitte zu bitten. In einem Nachtlokal, das die Gruppe der Schulschwänzer regelmäßig besuchte, drückte der Industriellensohn Fritz Ressl der Prostituierten Marfa einen Geldschein in die Hand, damit sie sich mit Adler zurückzog. Nach einer Weile folgten Ressl und Sebastian den beiden ins Obergeschoss und öffneten Marfas Zimmertür: Da saß Adler in Unterwäsche verzweifelt am Bettrand. Als sie den völlig verwirrten Adler dann durch die nächtlichen Straßen begleiteten, ihm schwedischen Punsch gaben und schließlich einigermaßen wiederhergestellt nach Hause bringen wollten, trafen sie auf Komarek, der gerade Gemüse vom Markt geholt hatte. Als Komarek sah, wie es um Adler stand, versetzte er wie im Affekt Sebastian die einzige Ohrfeige, die dieser in seinem Leben je bekommen hatte.
Sieben Wochen vor dem Ende des Schuljahrs drohte der Klassenlehrer einigen Schülern, darunter Adler, mit Sitzenbleiben. Daraufhin schlich Sebastian sich mit Adler nach Schulschluss ins Lehrerzimmer. Während Adler aufpassen sollte, dass niemand komme, begann Sebastian, zwei von drei „Ungenügend“ im Fach Mathematik in „Genügend“ zu fälschen. Als er von Kio, dem Klassenlehrer, ertappt wurde, kleckste er zu viel vom Tintenex auf das Buch, sodass eine Korrektur nicht mehr möglich war. Obwohl Adler gar nicht anwesend war, konnte Sebastian behaupten, er selbst hätte nichts getan, sondern Adler sei es gewesen. Kio ließ Sebastian diese Aussage unterschreiben.
Aufgrund der Dokumentenfälschung wurde eine Konferenz der Lehrerschaft einberufen. Sebastian redete Adler ein, dass sie beide der Schule verwiesen werden würden. Ohne Abitur hätten sie nicht studieren können. Um der Schande zu entgehen, planten sie ihren gemeinschaftlichen Suizid, legten sich in Sebastians Zimmer hin und löschten die Flamme der Gasbeleuchtung, damit sich das Gas im Zimmer sammeln konnte. Nach einer Weile erhob Sebastian sich und verließ den Raum. Er überlegte, dass er Adler nach dessen Selbstmord alle Schuld zuschieben könnte, aber dann kehrte er doch zurück, riss das Fenster auf und rüttelte Adler wach, denn inzwischen hatte er eine bessere Idee: Adler sollte fliehen, mit dem Zug nach Hamburg fahren und dort als Schiffsjunge auf einem Dampfer nach Amerika anheuern. Sebastian stahl seinen Tanten Schmuckstücke und überredete Komarek, ihm zu helfen, diese beim Hehler Jolowicz zu versetzen. Von den 800 Kronen, die er bekam, konnte Adler ein Jahr lang leben und nach Amerika auswandern. Hier endet die Rückbesinnung.
Am Montagmorgen setzt der Untersuchungsrichter Dr. Ernst Sebastian das Verhör Franz Josef Adlers fort. Dem Rechtspraktikanten Doktor Elsner, der das Protokoll führt, fällt auf, wie zerstreut der Untersuchungsrichter ist. Schließlich schickt Sebastian den Praktikanten hinaus und fragt den Beschuldigten, ob er ihn immer noch nicht erkannt habe, sie seien doch zusammen zur Schule gegangen. Sebastian gesteht, Adlers Leben ruiniert zu haben. Durch die Schuld sei er jedoch auch selbst gescheitert. Zerknirscht bittet er ihn um Verzeihung. Als er dem Mann wieder ins Gesicht blickt, merkt er plötzlich, dass dieser gar keine Ähnlichkeit mit seinem früheren Mitschüler hat, und als er noch einmal die Personenangaben in der Akte prüft, stellt er fest, dass es sich um eine Verwechslung handelt.
Nachdem der Häftling abgeführt worden ist, kehrt der Rechtspfleger Doktor Elsner zurück und berichtet dem Untersuchungsrichter, dass die Polizei inzwischen einem anderen Verdächtigen auf der Spur sei. Daraufhin ordnet Sebastian die sofortige Freilassung Adlers an. Sein nächtliches Stenogramm legt er dem Rechtspfleger vor, doch der kann die Schrift nicht entziffern, obwohl er im Nebenamt Lehrer für Stenographie ist. So verschwindet die Lebensbeichte in einer Schublade des großen Richtertischs.
Figuren
Bearbeiten- Ernst Sebastian: Untersuchungsrichter, 43-jähriger Ich-Erzähler, der binnen einer Nacht nach einem Verhör und anschließendem Klassentreffen die Geschichte seiner Jugendschuld, der moralischen und gesellschaftlichen Vernichtung Franz Adlers, erzählt und stenographiert.
- Franz Joseph Adler oder Rätseljosef: Delinquent in der kurzen Rahmenhandlung, der vom Untersuchungsrichter mit einem Schulkameraden verwechselt wird.
- Franz Adler: der gedemütigte, verhöhnte und gequälte Schüler, der vom Besten seines Jahrgangs zum Schlechtesten herabgewürdigt wird und sich nicht wehrt, sondern eine äußerst passive Opferrolle einnimmt.
- Kio: Lateinlehrer, ein Archetyp des alten österreichischen Beamtenstandes.
- Ressl, Burda, Schulhof: vermögende Schüler, die sich von Sebastian verleiten lassen, Schule zu schwänzen. Mitglieder eines Lektürekreises.
- Komarek: schlechtester Schüler, spiegelt die tschechische Majorität der damaligen Bevölkerung in der neuen Republik Tschechoslowakei wider und wird als zum Lumpenproletariat gehörig benannt.
- Doktor Elsner: Rechtspraktikant, der die Verwechselung weiter auflöst und mitteilt, dass es einen weiteren des Mordes Verdächtigen gibt.
Entstehungsgeschichte
BearbeitenDas Manuskript des Romans Der Abituriententag schrieb Franz Werfel 1926 innerhalb eines Monats, möglicherweise inspiriert durch ein Treffen mit seinen früheren Klassenkameraden Willy Haas und Ernst Deutsch. In Kindlers Literaturlexikon wird von einem Treffen mit Hermann Sudermann in Italien ausgegangen. Die Schilderungen dessen harter Schulzeit seien Inspiration gewesen. Gleichwohl ist in Werfels Biographie eine auffällige Parallele zu den Romanfiguren zu finden, denn er ist ebenfalls von Wien nach Prag an das deutsche Gymnasium in der Stephansgasse gewechselt und litt unter dem alten Schulsystem.
Interpretationen
BearbeitenSchuld
- „Nicht das Milieu der Schule, nicht die Verwirrungen der Jugend, keinerlei psychologische und weniger noch pädagogische Nebenansichten bilden den wahren Gegenstand der Geschichte, die eine, nein, vielleicht die allerfurchtbarste Frage des menschlichen Lebens aufzuwerfen wagt: Die Frage der Schuld.“ (Franz Werfel, 1937)[1]
Macht und Ohnmacht
Sebastian und Franz Adler repräsentieren Macht und Ohnmacht als Gegensatzpaar. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit der Freundschaft oder der Feindschaft, der Verbindung oder der Vernichtung. Sebastian macht Adler zum Spießgesellen, der völlig passiv alle Grausamkeiten erträgt. Sebastian vollzieht das Vernichtungswerk, „dessen Herr er nicht mehr war“. Schritt für Schritt wird die Erniedrigung vorausgeplant, sie gipfelt in der Gleichstellung Adlers mit dem absoluten Nichts, als er sich eines „Toten entledigen“ will. Adler wird von Komarek in den Zug gepackt, verschwindet aus dem Blickfeld. Doch je größer die Vernichtung eines Opfers, desto chancenloser wird die Aussicht, sich jemals von ihm befreien zu können. Der Schuldige büßt seine Taten durch ein missglücktes Leben. Er sieht ein: „Gegen große Vorzüge eines anderen gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe“ (Goethe: Wahlverwandtschaften, Leitspruch am Anfang des Romans). Bei dem Opfer Franz Adler – erklärte der jüdische Schriftsteller Franz Werfel – habe er sich einen Juden vorgestellt, „weil diese Rasse das geheimnisvolle Schicksal hat, die andern an ihr schuldig werden zu lassen, das Grausame und Böse in ihnen hervorzulocken“. Ernst Sebastian möchte nicht in die Welt hinaus, um dort vielleicht Franz Adler zu begegnen, sondern als kleiner Untersuchungsrichter schön eingerichtet die politischen Revolten der tschechischen Nationalisten überstehen, aus diesem Grund will er auf der Karriereleiter nicht aufsteigen.
Ausgabe
Bearbeiten- Der Abituriententag. Fischer-TB, Frankfurt 2011, ISBN 978-3-596-29455-8.
Verfilmungen
Bearbeiten- Der Abituriententag (Sjezd abiturientu), tschechischer Fernsehfilm von Viktor Polesný aus dem Jahr 2000, mit Jiří Lábus, Radek Zima und Jiří Schmitzer
- Der Abituriententag, deutscher Fernsehfilm von Gerd Angermann. Regie: Eberhard Itzenplitz, mit Hans Jaray, Bruno Dallansky, Wolfgang Weiser. Erstsendung ZDF: 13. Mai 1974
Literatur
Bearbeiten- Hartmut Binder: Werfels jugendliche Umtriebe. „Der Abituriententag“ als autobiographischer Roman. In: Karlheinz Auckenthaler (Hrsg.): Franz Werfel. Neue Aspekte seines Werkes. (= Acta Germanica. 2). Reprir, Szeged 1992, S. 99–151.
- Alexander Schüller: Revolution gegen den Geist. Über die Struktur der Umkehrung in Franz Werfels „Der Abituriententag“. In: Aschkenas. 20, H. 1, 2011, S. 119–165.
Fußnoten
Bearbeiten- ↑ Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, literarische Nachträge. Aus dem Nachlass herausgegeben von Adolf D. Klarmann. Langen-Müller, München 1975, ISBN 3-7844-1562-8, S. 883.