Der Baron Bagge

Novelle von Alexander Lernet-Holenia (1936)

Der Baron Bagge ist eine Novelle von Alexander Lernet-Holenia, die im Jahr 1936 im S. Fischer Verlag erstmals veröffentlicht wurde. Sie gilt als eines der wichtigsten Werke des Autors und als Hauptwerk der phantastischen Literatur in Österreich.

Der Baron Bagge, Erstausgabe, Fischer 1936

Die Rahmenhandlung spielt in Österreich zu einem nicht näher definierten Zeitpunkt in der Ersten Republik. Während eines Empfangs beim Ackerbauminister (historisch korrekt: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft) kommt es zu einem Eklat. Einem gewissen Baron Bagge, der als Gutsbesitzer zurückgezogen in Kärnten lebt, wird vorgeworfen, dass seinetwegen zwei junge Frauen aus Liebeskummer Selbstmord begangen haben. Der anonyme Ich-Erzähler kann aber dazu beitragen, dass sich die peinliche Situation auflöst. Bagge und der junge Mann verlassen das Ministerium. Auf der Straße gibt Bagge seinem jungen Begleiter Aufklärung, indem er bestätigt, dass die beiden Frauen tatsächlich vergeblich ihren Kopf daran gesetzt haben, ihn zu heiraten. Dies sei allerdings nicht möglich gewesen. Dann erzählt Bagge seine ungewöhnliche Geschichte.

Die Handlung springt in die Anfänge des Ersten Weltkrieges. "Ich"-Erzähler ist nun Bagge. Im Winter des Jahres 1915 befindet er sich als Offizier mit seiner berittenen Einheit im nordöstlichen Zipfel Ungarns, nahe der Stadt Tokaj. Das Oberkommando führt Bagges Vorgesetzter Rittmeister von Semler, ein launischer und schwieriger Mann, über dessen Familie zahlreiche Geistergeschichten im Umlauf sind. Obwohl nicht näher ausgeführt, ist schon damals den Beteiligten der beginnende Anachronismus berittener Kriegsführung bewusst. Eine Atmosphäre der Vergeblichkeit umgibt das Geschehen von Anfang an. Bagges Reitereinheit befindet sich auf einer Aufklärungsmission nordwärts. An einer Brücke wird die Schwadron aufgrund Semlers impulsiven Befehls in einen waghalsigen Angriff gegen russische Maschinengewehre verwickelt, der wider Erwarten erfolgreich verläuft. Die Reiter galoppieren über die Brücke. Während des Gefechts wird Bagge von aufgewirbelten Gesteinsbrocken an der Brust und an der Schläfe getroffen, jedoch nicht ernstlich verletzt.

Kurz darauf trifft die Einheit in der Garnisonsstadt Nagy-Mihaly ein. Die Soldaten werden herzlich begrüßt. Man macht Bekanntschaft mit den führenden Familien im Ort, darunter der Familie v. Szent-Kiraly, Freunde von Bagges Mutter. Bagge verliebt sich in die ebenso schöne wie rätselhafte Tochter der Szent-Kiralys und geht eine leidenschaftliche Beziehung zu ihr ein. Die beiden heiraten. Zunehmend indes zweifelt Bagge an seinen Sinneswahrnehmungen; die seltsam friedliche und festliche Atmosphäre der Stadt verwirrt ihn. Dazu kommt, dass in der ganzen Umgebung keine feindlichen Truppen mehr gesichtet werden.

Unmittelbar nach der Hochzeit befiehlt Rittmeister Semler den Aufbruch; auch er ist unruhig und hofft, den Feind weiter im Norden zu finden. Tagelang zieht die Schwadron durch Ungarn, dabei verdüstert sich die Landschaft immer mehr. Als man schließlich erneut einen Fluss überqueren soll, erkennt Bagge die Unwirklichkeit des Geschehens und überschreitet die Brücke nicht, während seine Kameraden hinüber reiten. Nun erst stellt sich heraus, dass alle Erlebnisse seit dem Überqueren der ersten Brücke acht Tage zuvor ein traumähnlicher Zustand waren. In Wirklichkeit starben beinahe alle Mitglieder der Schwadron im Maschinengewehrfeuer der Russen. Bagge wurde schwer verwundet.

Die Novelle verlässt im Ausklang den Ersten Weltkrieg und kehrt zurück zur Rahmenhandlung. Bagge reflektiert und interpretiert für seinen jungen Zuhörer das Geschehen: Er schwebte nach dem Angriff acht Tage lang in einem Lazarett in einem Dämmerzustand zwischen Leben und Tod, während seine Kameraden die Grenze ins Jenseits überschritten. Nach dem Krieg ist Bagge nochmals nach Ungarn gereist und sucht nach den Spuren. Namentlich die Liebe zu Charlotte steht intensiv vor ihm. Er findet die Landschaft und die Städte weitgehend so, wie er sie in seinem Traum gesehen hat. Doch sind die Ähnlichkeiten traumhaft. Sie entsprechen der Wirklichkeit, weichen aber in entscheidenden Aspekten davon ab. Die Menschen, die er im Traum getroffen hat, sind in Wahrheit tot. Auch eine reale Charlotte hat es gegeben, doch auch diese verstorbene junge Frau hat mit dem Traumgespinst allein den Namen gemeinsam. Wieder gelangt Bagge zur selben Brücke. Er wagt aber immer noch nicht, sie zu überschreiten.

Rezeption

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Zeitgenossen

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„Inmitten der vielfachen Ärgernisse, mit denen die Zeit mich beschenkt, muss ich einer seltenen Freude besonders gedenken. Ihr „Baron Bagge“ ist ein Meisterwerk! Wie hier Traum und Wirklichkeit randlos ineinandergleiten und eine Sphäre visionärer Helligkeit geschaffen ist, eine aus Fieber und erregtem Blut bildnerisch gefärbte Fülle, das ist gerade zu magisch. […] wirklich, Sie haben diese Novelle, diese unvergessbare, im Zustand der Gnade geschrieben.“

Stefan Zweig an Alexander Lernet-Holenia[1]

„Nirgends ist dieser Gang in „jenes unbekannte Land, aus des' Bezirk kein Wanderer wiederkehrt“, mit solcher Bildkraft, Anschaulichkeit und Traumphantasie nachgezeichnet worden wie im „Baron Bagge“, der schönsten Novelle, die Alexander Lernet-Holenia geschrieben hat.“

Friedrich Torberg betrachtete die Novelle als Lernet-Holenias Meisterwerk und sprach von einer „oszillierenden, im rechten Sinn tiefgründigen Durchdringung von Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit.“[2] Jorge Luis Borges zeigte sich vom Baron Bagge beeindruckt und erkannte Parallelen zu Juan Rulfos später entstandenem einflussreichen Roman Pedro Páramo – in beiden Werken bereist der Protagonist eine Traumwelt zwischen Leben und Tod, begegnet bereits verstorbenen Menschen und erlebt eine unwirkliche Atmosphäre.[3] Horst Lange schätzte Lernet-Holenias Novelle sehr und wies vor allem auf die Verbindungen zu Rilkes Erzählung Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke und Hofmannsthals Reitergeschichte hin.[4]

Literaturwissenschaft

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„Die leicht melancholische Novelle in ihrer knappen, dichten und oft lyrischen Sprache behandelt das Motiv des allmählichen Sterbens, jenes Intervalls das „zwischen dem Sterben und dem wirklichen Totsein“ liegt. Die Beschreibung der fließenden Übergänge zwischen dem Wirklichen und dem Wunderbaren mit dem Symbol der Brücke macht die Novelle zu einem bedeutenden Werk der deutschen phantastischen Literatur.“

Lexikon der Weltliteratur, hg. v. Gero von Wilpert

„Man könnte Baron Bagge mit einem gewissen Recht Lernet-Holenias „Traumnovelle“ nennen. Und doch wäre der Vergleich mit Arthur Schnitzlers zehn Jahre zuvor erschienenem Werk irreführend. Denn während Schnitzler das Spiel mit dem Traum thematisierte, versucht sich Lernet-Holenia an einem Experiment ganz anderer Art: Er verwischt die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit so gründlich, dass ihm ein Stück meisterlicher Illusionsprosa gelingt.“

Das unmerkliche Hineingleiten in den Traumzustand, obwohl vorher ausdrücklich angekündigt, sowie die überraschende Umkehr durch die Enthüllung des Traumzustandes, welche vom Leser am Schluss eine Neuinterpretation des eben Gelesenen erfordert, erheben Baron Bagge zu einem erzählerischen Konstrukt von klassischer dramatischer Handlung. John Cheever hat in seiner 1964 erschienenen Kurzgeschichte Der Schwimmer, 1968 als The Swimmer mit Burt Lancaster verfilmt, eine ähnliche Grundstimmung aufgegriffen. Vom Aufbau her ist der Baron Bagge auch mit der Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce vergleichbar, die im amerikanischen Bürgerkrieg spielt. Marcel Reich-Ranicki lobte Lernets Buch ebenfalls und meinte, es sei eine literarische Leistung, „der in deutscher Literatur dieser Zeit wenig zur Seite zu stellen ist“.[6] Roman Rocek schrieb über den Baron Bagge: „Von den meisten Kritikern als ein Gipfel der Erzählkunst der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen gepriesen, ist im „Baron Bagge“ unverkennbar die nüchterne Erzählhaltung Kleists mit einem emotionell stark aufgeladenen Traumgeschehen zu übersinnlicher Realität verschmolzen.“[7]

Rezensionen zum Baron Bagge veröffentlichten u. a. Martin Meyer, Armin Ayren und Wolf von Niebelschütz.

Bearbeitungen und Übersetzungen

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Der Norddeutsche Rundfunk produzierte im Jahr 2000 ein Hörspiel nach der Novelle, mit Christian Redl in der Rolle des Barons.

Eine Theaterfassung wurde 2015 von Alexander Waechter im Theater franzjosefskai21 in Wien zur Aufführung gebracht.[8]

Der Baron Bagge wurde in elf Sprachen übersetzt, zuletzt 2007 durch Sándor Tatár ins Ungarische und 2021 durch Martin Michael Driessen ins Niederländische.

Ausgaben

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  • Der Baron Bagge oder Von Traum und Wirklichkeit. S. Fischer Verlag, Berlin 1936. 2. Auflage 1940.
  • Der Baron Bagge. Nachwort von Lambert Binder. Reclam, Stuttgart, 1957. 2. Auflage 1964, 3. Auflage 1968, 4. Auflage 1974, 5. Auflage 1980.
  • Der Baron Bagge. Nachwort von Hilde Spiel. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1978. Reprint als Fischer Taschenbuch, 2016.
  • Der Baron Bagge. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1998.
  • Der Baron Bagge. Nachwort von Rüdiger Görner. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001.
  • Der Baron Bagge. Radierungen von Robert Schmiedel, Nachwort von Franziska Mayer. Edition Sonblom, Münster 2014.

Literatur

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  • Robert von Dassanowsky: Phantom Empires: The Novels of Alexander Lernet-Holenia and the Question of Postimperial Austrian Identity. Ariadne Press, Riverside, California 1996, ISBN 1-57241-030-2.
  • Wolfgang Nehring: Trauer, Verständnislosigkeit oder Kritik? Alexander Lernet-Holenias 'Baron Bagge' und 'Mars im Widder' als zeitgeschichtlicher Kommentar zur österreichischen Situation. In: Donald G. Daviau (Hrsg.): Jura Soyfer and his Time. Ariadne Press, Riverside, California 1995, ISBN 978-1-57241-005-3, S. 305–320.
  • Roman Roček: Die neun Leben des Alexander Lernet-Holenia. Eine Biographie. Böhlau, Wien / Köln / Weimar 1997, ISBN 3-205-98713-6.
  • Daniela Strigl: Wirklicher als die wirkliche Welt. Der Baron Bagge als Reflex des habsburgischen Mythos. In: Margit Dirscherl, Oliver Jahraus (Hrsg.): Prekäre Identitäten. Historische Umbrüche, ihre politische Erfahrung und literarische Verarbeitung im Werk Alexander Lernet-Holenias. Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 2019, ISBN 978-3-8260-6764-8, S. 249–270.

Einzelnachweise

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  1. ZweigHeft 21,, hrsg. vom Stefan-Zweig-Zentrum, Salzburg 2019, S. 30
  2. Friedrich Torberg: Voreingenommen wie ich bin. Von Dichtern, Denkern und Autoren. Langen Müller Verlag, München, 1991, ISBN 3-7844-2364-7, S. 108f.
  3. Gerhard Drekonja-Kornat: Gabriel Garcia Marquez in Wien und andere Kulturgeschichten aus Lateinamerika. Lit Verlag, Wien 2010, ISBN 978-3-643-50141-7, S. 138
  4. Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950. Walter de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-020103-1, S. 226f.
  5. Rüdiger Görner: Nachwort. in: Alexander Lernet-Holenia: Der Baron Bagge. Novelle. Insel Verlag, Frankfuft/Main 2001, ISBN 978-3-4583-4436-0, S. 105-112, hier S. 105
  6. Marcel Reich-Ranicki: Romane von gestern, heute gelesen. 1933–1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 1990. ISBN 978-3-10-062912-8, S. 47
  7. Roman Rocek: Die neun Leben des Alexander Lernet-Holenia. Eine Biographie. Böhlau, Wien u. a. 1997, ISBN 3-205-98713-6. S. 11
  8. Franzjosefkai21: „Der Baron Bagge“ Die Presse, 3. Dezember 2015
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