Deutsche Comicforschung

Buchreihe

Die seit Ende 2004 im Jahresturnus erscheinende wissenschaftliche Buchreihe Deutsche Comicforschung gilt mittlerweile als Standardwerk[1]. Mit einem besonderen Ansatz will der Herausgeber Eckart Sackmann die ganze Bandbreite deutschsprachiger Comicliteratur aufzeigen – vom Mittelalter[2] bis in die heutige Zeit.

Cover Deutsche Comicforschung 2025
Patrimonium Deutsche Comicforschung
Der Herausgeber Eckart Sackmann 2009
Berliner Eneide (71r, 13. Jh.)

Ausgangslage

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Die Geschichte der genuin deutschsprachigen Comics war Ende des 20. Jahrhunderts nur ansatzweise erforscht, vorwiegend in Bereichen, in denen nostalgische Verklärung das Interesse bestimmt hatte. Wegbereiter waren die Sammler (Fachzeitschrift Die Sprechblase ab 1978; Peter Skodzik: Deutsche Comic-Bibliographie 1978). In Sachen Comics war Deutschland eine importierende Nation. Die Vorstellung einer Comic-Geschichtsschreibung litt unter falschen und immer wieder reproduzierten Setzungen: Wilhelm Busch als Stammvater der deutschen Comics, die Sprechblase als obligates Element, der Charakter als „Massenzeichenware“. In die Irre führte auch das Datum „100 Jahre“ Comics, mit dem 1995 das erste Auftreten des Yellow Kid als „Geburt der Comics“ gefeiert wurde.[3]

Das runde Datum fand in den Medien zunächst weit mehr Beachtung als der kontroverse Ansatz des Amerikaners Scott McCloud, der 1993 in seinem Buch Understanding Comics[4] die Grundlagen der Form untersucht hatte und zu der Erkenntnis gekommen war, eine Erzählung in sequentiellen Bildfolgen habe es auch schon vor Jahrtausenden gegeben. So weit wollten die wenigsten zurückblicken: Die Franzosen einigten sich auf die Bildromane von Rodolphe Töpffer, die Engländer auf „Ally Sloper“ als den Anfang der Comics. In der Vorstellung der Deutschen blieb es bei Wilhelm Busch.

Sackmann ist seit 2000 Mitglied der internationalen Forschungsgruppe PlatinumAgeComics. In der Gruppe dominiert die Vorstellung von der Evolution der Ausdrucksform Comic – anstelle der Setzung eines „Geburtstags“. In diesem Umfeld kam Sackmann die Idee, die deutsche Comicgeschichte nach den neuen Vorstellungen[5] aufzuarbeiten. Er wählte die Form einer Sammlung von nach wissenschaftlichen Kriterien erstellten Aufsätzen, verlegt in einer Reihe von jährlich erscheinenden Büchern. Sie kommen jeweils zum Ende des Jahres heraus und verweisen im Titel auf das kommende Jahr.

 
Famany, der fliegende Mensch. Deutscher Superheldencomic von 1937.

Ausrichtung

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Der Herausgeber sieht den Comic als Bildliteratur zum kulturellen Erbe gehörig und hat den Begriff Deutsche Comicforschung im Logo der Reihe mit dem des Patrimonium verbunden. Die wissenschaftliche Buchreihe Deutsche Comicforschung soll die ganze Bandbreite an deutschsprachigen Comics sowie die Umstände ihrer Publikation erfassen. Dabei folgt Sackmann dem erweiterten Comicbegriff, wie er von Scott McCloud vertreten wird. Demnach hat der Comic wie alle kulturellen Ausdrucksformen eine sich über viele Jahrhunderte erstreckende Geschichte.

Was der Herausgeber unter einem Comic versteht, hat er in einer eigenen Definition[6] offengelegt, nämlich „eine Erzählung in wenigstens zwei stehenden Bildern“. Diese Definition sei nicht unabänderlich, sondern zeitgebunden. Obwohl das Bild dem Text übergeordnet ist, ist der Comic primär als Form der Literatur zu begreifen, denn anders als in der Bildenden Kunst ist die grafische Seite des Comic nie Selbstzweck, sondern immer zuerst Träger von Handlung.

Dieser Ansatz führte Deutsche Comicforschung zur Aufnahme der Berliner Eneide, einer Bild-Erzählung des frühen 13. Jahrhunderts, in der die Dialoge über Spruchbänder transportiert werden (Bd. 2013), und auch zu Hans Memlings „Turiner Passion“ (1497; Bd. 2007), einem Simultanbild, in dem die Geschichte nicht in Panels, sondern in über das Bild verteilten Szenen erzählt wird. Des Weiteren räumten die Autoren von Deutsche Comicforschung mit der Legende auf, Sprechblasencomics habe es hierzulande erst nach 1945 gegeben.

 
CDU-Wahlwerbung 1961.

Arbeitsweise

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Deutsche Comicforschung will Interessen bündeln und den Dialog anregen. Um den deutschen Zweig einer internationalen Kulturform auf einem Niveau zu diskutieren, auf dem der Comic in Augenhöhe mit anderen, bereits etablierten kulturellen Ausdrucksformen wahrgenommen wird, gibt der Herausgeber seinen Mitarbeitern strenge Richtlinien vor. Deren wichtigste ist die, Comic-Geschichte nicht nach den Aussagen früherer Sekundärliteratur zu beschreiben, sondern allein nach eigener Anschauung und Bewertung. Grundsätzlich neu war auch der Gedanke von der Veränderbarkeit von Bewertungen. Jeder, der sich zu einer Kultur äußert, tut das unter der Prämisse seiner eigenen Vorbildung sowie unter dem Einfluss der Zeit, in der er schreibt.

Deutsche Comicforschung versteht sich als „work in progress“, als dauerhaft unfertige Arbeit, die der ständigen Ergänzung bedarf. Jeder einzelne Band enthält Beiträge von sehr frühen bis hin zu modernen Erscheinungen der Comicliteratur. Auch wenn das nicht offensichtlich ist, so füllt jeder Band die Lücken des vorhergehenden. Bei einem Umfang von 144 Seiten sind längere Texte ausgeschlossen. Es ist dem Herausgeber wichtig, die Vielfalt der Form zu zeigen und Anstöße zu geben.

Um in jeder Ausgabe einen breiten Bogen durch die Geschichte zu spannen, strukturiert Sackmann jeden Band entsprechend vor. Diese herausgeberische Vorleistung soll einer Beliebigkeit der Beiträge vorbeugen, wie man sie von vielen anderen Anthologien kennt. Um über lange Jahre ein Konzept zu verfolgen, ist ein Masterplan nötig. Der Herausgeber ist bemüht, die Kommunikation zwischen seinen Zuträgern zu fördern, so dass jeder von der Arbeit des anderen profitieren kann. Häufig ist auch ein Zusammenwirken mehrerer Autoren an einem Artikel.

Zum besonderen Prinzip der Reihe Deutsche Comicforschung gehört es, den Bildanteil angemessen hoch zu halten. Damit unterscheidet sich dieser Ansatz vom traditionellen, in dem der Text mit seinen Beschreibungsversuchen höher bewertet wird als die Abbildung des Beschriebenen. Referiert man über Comics, sollte das Bildzitat selbstverständlich sein; sonst fehlen wichtige Informationen. In Deutsche Comicforschung ergänzen schließlich die Bildlegenden den Haupttext, und das nicht selten in einem Maße, dass die Aussage sich erst aus der Summe von Text, Anmerkungen, Bildern und Bildlegenden ergibt.

 
Holger Fickelscherer: Tom Sawyer (DDR-Comic, 1989)

Quellenstudium

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In der Regel haben die Beitragenden zu ihrem Interessensgebiet selbst kleine Sammlungen angelegt. Das reicht nicht, so dass Herausgeber und Autor nach weiteren Primärquellen Ausschau halten. Die Recherchemöglichkeiten des Internets sind heute für die Forschung unverzichtbar; unverzichtbar ist aber auch der Besuch von Bibliotheken mit ihren Bücher- und Zeitungssammlungen. Neben den beiden Nationalbibliotheken in Leipzig und Frankfurt werden geeignete Archive frequentiert. Wichtig sind dem Herausgeber auch der Kontakt zu Privatsammlern sowie der Besuch von Comicbörsen, nicht nur, um Hefte und Bücher selbst in Augenschein zu nehmen, sondern auch zum Aufschnappen von Hinweisen und Spezialwissen. Kontakte zu Sammlern entstehen in der Regel nur durch persönliche Beziehungen. Das Verhältnis Forscher-Sammler ist ein Vertrauensverhältnis.

Deutsche Comicforschung will nicht bereits Vorhandenes neu formulieren, sondern strebt danach, Unbekanntes zu entdecken, um das Wissen um die Bildliteratur zu ergänzen. Einer der wertvollsten Mitarbeiter hierbei ist „Kollege Zufall“, insbesondere bei der Suche nach Pressecomics. Um Kenntnis davon zu erlangen, dass in dieser oder jener Zeitung oder Zeitschrift ein Comic enthalten ist, helfen oft nur willkürliches Stöbern auf Flohmärkten oder Verdachtskäufe bei ebay. Daran schließt sich die Recherche in Bibliotheken an, um die Zusammenhänge zu klären. Grundlagenforschung ist die Basis aller Forschung. Man kann nicht interpretieren, ohne zu wissen, worum es geht.

Gegenwartsbezug

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Deutsche Comicforschung erforscht Vergangenes, in der Regel abgeschlossene Gebiete der Comicliteratur. Das geschieht nicht in der Stille des Elfenbeinturms. Der Herausgeber ist seit über 40 Jahren als Verleger im internationalen Verlagsgeschäft tätig; fast genauso lange publiziert er Fachzeitschriften zum aktuellen Comicgeschehen (RRAAH!, COMICS INFO). In Deutsche Comicforschung scheint das nur am Rande durch, nämlich in den mit „Worte auf den Weg“ betitelten Vorworten zu den einzelnen Bänden.[7]

Wirkung erzielte der Hinweis, eine Ausstellung des Käthe-Kollwitz-Museums Köln zum Simplicissimus (2022) verschweige die NS-Verbundenheit der Macher dieser Zeitschrift. Für Deutsche Comicforschung 2024 recherchierte Matthias Kretschmer und belegte die Vorwürfe.[8] Das war Anlass einer näheren Beschäftigung mit den Zeichnern der Nazizeit und die fast ungehinderte Fortsetzung ihrer Karrieren nach 1945. Dem schloss sich im Band 2025 eine Revision der Person Erich Ohsers (e. o. plauen) durch Eckart Sackmann an.[9]

Literatur

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  • Eckart Sackmann: 2005 bis 2014 – zehn Jahre „Deutsche Comicforschung“. In: ders. (Hg.): Deutsche Comicforschung 2014. Hildesheim 2013. S. 7–17
  • Eckart Sackmann: Auf den Busch geklopft. Wie sich mit der Reihe Deutsche Comicforschung der Blick auf die deutschsprachige Bild-Literatur änderte. In: Ute Schneider (Hg.): Imprimatur 2019. München 2019. S. 259–282. ISBN 978-3-447-11225-3
     
    Podium 20 Jahre Deutsche Comicforschung (2024): vlnr Matthias Kretschmer, Ralf Palandt, Dietrich Grünewald, Eckart Sackmann
  • Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2005–2024 (Registerband[10]). Leipzig 2023. ISBN 978-3-89474-327-7
  • Andreas Dierks: 20 Jahre „Deutsche Comicforschung“. Ein Interview mit Eckart Sackmann. In: Burkhard Ihme (Hg.): COMIC! Jahrbuch 2024. Stuttgart 2024. S. 60–67. ISBN 978-3-88834-954-6
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Commons: Deutsche Comicforschung – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

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  1. Comicforschung: Das Geheimnis der schwarzen Löcher. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 14. Dezember 2024]).
  2. Deutsche Comicforschung. Abgerufen am 14. Dezember 2024.
  3. 100 Jahre Comic-strips. Carlsen, Hamburg 1995, ISBN 978-3-551-72640-7.
  4. Scott McCloud: Comics richtig lesen (= Carlsen-Studio). 4. Aufl., 12. - 15. Tsd. Carlsen, Hamburg 1997, ISBN 978-3-551-72113-6.
  5. Eckart Sackmann: Auf den Busch geklopft. Wie sich mit der Reihe Deutsche Comicforschung der Blick auf die deutschsprachige Bild-Literatur änderte. In: Ute Schneider (Hg.): Imprimatur 2019. München 2019. S. 259–282. ISBN 978-3-447-11225-3
  6. Eckart Sackmann: Comic. Kommentierte Definition. In: ders. (Hg.): Deutsche Comicforschung 2010. Leipzig 2009. S. 6–9.
  7. Deutsche Comicforschung: Inhalt und Gliederung. Abgerufen am 14. Dezember 2024.
  8. Matthias Kretschmer: Alte Kameraden: Köhler, Iversen, Ifland und der Simplicissimus. In: Eckart Sackmann (Hg.): Deutsche Comicforschung 2024. Leipzig 2023. S. 96–123.
  9. Eckart Sackmann: Erich Ohser: Alte „Ullstein“-Seilschaften und Mitleidsbonus. In: ders. (Hg.): Deutsche Comicforschung 2025. Leipzig 2024. S. 88–117.
  10. Deutsche Comicforschung: Inhalt und Gliederung. Abgerufen am 18. Dezember 2024.