Die Geißelung Christi (Piero della Francesca)

Öl-Tempera Gemälde Piero della Francescas

Die Geißelung Christi ist ein Öl-Tempera-Gemälde Piero della Francescas. Das 59 cm × 81 cm messende Tafelbild ist ein frühes Beispiel konsequent angewandter Zentralperspektive und gehört zur Sammlung der Galleria Nazionale della Marche in Urbino. Der genaue Entstehungszeitpunkt und die Bedeutung des Bildes sind umstritten.

Die Geißelung Christi (Piero della Francesca)
Die Geißelung Christi
Piero della Francesca, 1444/78[1]
Öl mit Tempera auf Holz
59 × 81 cm
Galleria Nazionale delle Marche

Geschichte

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Das Bild wird zum ersten Mal 1744 in einem Inventar der alten Sakristei des Urbiner Doms erwähnt, wo es als „Geißelung Unseres Herrn an einer Säule von Pietro Dall’Borgo, während die Herzöge Oddo Antonio, Federico und Guid’Ubaldo beiseite stehen“ von dem Erzpriester Ubaldo Tosi aufgelistet wird.[2] Johann David Passavant, ein deutscher Kunsthistoriker, sah das Bild im Jahre 1839 und fand wahrscheinlich auf dem Rahmen des Bildes die Inschrift CONVENERUNT IN UNUM[3] vor. Nach Angaben von Crowe und Cavalcaselle[4] waren Inschrift und Rahmen 1864 verschwunden. 1916 wurde das Bild aus der Sakristei des Domes in den Palazzo Ducale gebracht, wo es bis heute aufbewahrt wird.

Im 19. Jahrhundert wurde das Bild restauriert, wobei drei große Risse auf der Oberfläche entstanden, die bei einer weiteren Restaurierung Anfang der 1950er-Jahre durch das Istituto Centrale del Restauro in Rom beseitigt wurden. Eine weitere Restaurierung erfolgte 1968 durch dasselbe Institut. Aufsehen erregte Anfang Februar 1975 der Diebstahl des Gemäldes aus dem Palazzo Ducale. Das Gemälde sollte versteigert werden, wurde jedoch am 23. März in einem Hotel im Locarno wiedergefunden.[5]

Beschreibung

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Signatur am Thronsockel

Thema des Bildes ist die Geißelung Christi vor den Augen des römischen Statthalters Pontius Pilatus. Der Statthalter, gekleidet in die Amtstracht eines byzantinischen Würdenträgers, schaut von seinem Thron aus der Geißelung zu, die von zwei Folterknechten in Anwesenheit eines orientalisch gekleideten Mannes mit Turban vollzogen wird. Das Ereignis findet im Hintergrund des Bildes in einer Säulenhalle statt, aus der eine Treppe in ein oberes Geschoss führt. Auf der rechten Bildhälfte stehen im Vordergrund drei Männer wie in einem Gespräch zusammen, deren Blicke jedoch aneinander vorbeigehen. Ein barfüßiger, in eine rote Tunika gekleideter blonder Jüngling schaut mit melancholischem Blick am Betrachter vorbei in die Ferne. Der in orientalische Gewänder gekleidete Mann mittleren Alters an seiner rechten Seite hat die linke Hand in einem Redegestus erhoben, auch sein Blick geht an seinem Gegenüber vorbei. Dieser Dritte in der Gruppe, der vollständig im Profil dargestellt ist, trägt einen kostbaren Mantel aus blauem Goldbrokat, eine schmale hellrote Schärpe liegt kaum sichtbar über seiner rechten Schulter. Die drei stehen zusammen in einem Hof, der von der offenen Gerichtsloggia, einer Renaissancearchitektur aus Palast und Turm und hinter ihnen durch eine Mauer zum Garten umschlossen wird. Hinter der Mauer ragen Bäume in einen pastellblauen Himmel.

Das Bild ist vollkommen nach den Gesetzen der in der Renaissance entdeckten Zentralperspektive durchkonstruiert, während Lichteffekte und detaillierte Oberflächenbehandlung den Einfluss flämischer Malerei erkennen lassen.

Das Bild ist auf dem Thronsockel mit der Inschrift OPUS PETRI DE BORGO SANCTI SEPULCRI (= Werk des Petrus aus Borgo San Sepolcro) in römischen Versalien signiert.

Deutungen

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Die drei rätselhaften Personen

„Die Geißelung Christi“ gehört in die stattliche Reihe rätselhafter Bilder der italienischen Renaissance, die sich bis heute einer umfassenden und schlüssigen Deutung entzogen haben. Es ist auf unterschiedlichste Weise interpretiert worden und hat bisher keine gültige und in allen Aspekten befriedigende Deutung erfahren. Die Rätselhaftigkeit des Bildes dürfte eine Ursache der ungebrochenen Faszination sein, die es immer wieder neu auf Historiker und Kunsthistoriker ausübt und die zu weit auseinanderliegenden Theorien über den Bildinhalt, über Funktion und Auftraggeber und über vermutete dynastische, politische oder kirchenhistorische Hintergründe geführt hat. Die amerikanische Kunsthistorikerin Marilyn Lavin listet in ihrer 2002 erschienenen Monographie allein 35 unterschiedliche Deutungsvorschläge auf, die zudem größtenteils einander ausschließen.[6] Über das Bild existieren, außer dem Namen des Autors auf dem Bild selbst, so gut wie keine Quellen und Belege, trotzdem gibt es nur wenige Kunstwerke des Abendlandes, über die mehr geforscht, diskutiert und publiziert worden ist.

Der Schlüssel zur Bedeutung des Bildes liegt in ihm selbst, nämlich in der Beziehung der drei Männer im Vordergrund und der Geißelungsszene im Hintergrund.

Seit dem 18. Jahrhundert ist die in einer Inventarliste von 1744 überlieferte Bezeichnung der Männer als Oddantonio da Montefeltro, Herzog von Urbino, bei einer Verschwörung im Jahre 1444 getötet, im Bild flankiert von seinem Halbbruder und Nachfolger als Herzog, Federico, und dessen Sohn Guidobaldo, verbreitet. Diese wegen der Absurdität bezüglich des Alters der beiden Begleiter und der nicht vorhandenen Porträtähnlichkeit der Personen – Guidobaldo wurde 1472, lange nach der Entstehung des Bildes, geboren, von Federico existieren genaue Porträts aus der Hand Pieros – nicht haltbare These wurde aufgegeben: die beiden Begleiter des barfüßigen Jünglings mutierten zu den „schlechten Ratgebern“ Manfredo dei Piedi und Tommaso dell'Agnello, die bei der Verschwörung ebenfalls getötet wurden oder auch zu drei Personen, die über die Passion Christi meditieren, angesichts der Bedrohung der Christenheit durch die Türken, die durch die Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 ausgelöst worden war.[7]

Gombrich deutet den Bärtigen als den Verräter Judas, der gerade dabei ist, von zwei Mitgliedern des Hohen Rates den „Judaslohn“ von 30 Silberlingen entgegenzunehmen, von denen auf dem Bild allerdings nichts zu sehen ist.[8] Jean-Louis Ferrier hält eine Allegorie auf den Fall Konstantinopels für wahrscheinlich – die linke Figur sei ein abendländischer Fürst, der, wie Pontius Pilatus, untätig blieb und die rechte Figur ein Grieche. Dem Jüngling in der Mitte käme die Rolle eines „Athleten der Tugend“ zu, in Analogie zu dem, im Renaissancesinn, „athletischen Christus“ an der Säule. Er soll den Fürsten zum Kampf gegen die Ungläubigen auffordern. Der britische Kunsthistoriker Pope-Hennessy vertritt hingegen eine völlig andere Ansicht: Die Gestalt an der Säule sei der heilige Hieronymus und die Geißelungsszene beziehe sich auf einen Traum des Heiligen, in dem dieser wegen heidnischer Lektüre gezüchtigt wurde. Die Gruppe im Vordergrund diskutiere also über das Problem paganer Schriftsteller.[9] Aldous Huxley und andere Betrachter vertreten hingegen die These, das Bild sei inhaltlich gar nicht ausdeutbar, sondern habe lediglich als Schaustück für Pieros Meisterschaft in perspektivisch-mathematischer Bildkonstruktion gedient.[10]

Der italienische Historiker Carlo Ginzburg argumentiert, das Gemälde sei im Kontext des Konzils von Ferrara/Florenz zu verorten.[11] Piero gliedere es in eine primär allegorische und eine primär realistische Hälfte. Die Kopfbedeckung der Figur auf dem Thron ganz links im Bild lasse auf einen byzantinischen Kaiser schließen, in diesem Fall also auf Johannes VIII. Palaiologos. Die Rückenfigur mit Turban stehe sinnbildlich für das osmanische Reich, welches das christliche Konstantinopel, Hauptstadt des oströmischen Reiches, bedroht (verkörpert im gegeißelten Christus). In der rechten Figurengruppe lässt sich Ginzburg zufolge Giovanni Bacci, Vertreter der Medici-Bankiers, die das Konzil finanzierten, identifizieren. Es handele sich um den Mann am rechten Bildrand im prächtig ornamentierten blauen Gewand. Sein Gegenüber, die Figur mit Kopfbedeckung im roten Gewand, stelle vermutlich den oströmischen Kardinal Bessarion dar, der als byzantinischer Vertreter am Konzil teilnahm.

Anknüpfend an Ginzburg deuten Lisa Jardine und Jerry Brotton den symbolischen Gehalt des Gemäldes als „equipoised between East and West, legible to both Eastern and Western Churches“.[12]

Einzelnachweise

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  1. Roeck 2006. S. 10
  2. zitiert nach Ginzburg 1985, S. 133.
  3. = Die Könige der Erde stehen auf, die Großen haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Gesalbten, ein Passus aus einem Vers des zweiten Psalms
  4. J. A. Crowe, G. B. Cavalcaselle: A History of painting in Italy. Bd. 2, London 1864.
  5. Ferrier. München 1998; Diebstahl auf Bestellung. Die Zeit. 1979 [1]
  6. A. M. Lavin: Piero della Francesca. London, New York 2002, S. 96.
  7. Kenneth Clark: Piero della Francesca. 2. Aufl. 1970, S. 34.
  8. Ernst Gombrich: The Repentance of Judas in Piero della Francesca's Flagallation of Christ. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. Bd. 22, 1939, S. 105–107.
  9. Jean-Louis Ferrier: Die Abenteuer des Sehens. Eine Kunstgeschichte in 30 Bildern. München: Piper 1998, ISBN 3-492-04019-5, Kapitel: Ein mathematischer Traum, S. 27–38. (Anm.: Auf S. 37 Schreibung Poppoe-Hensy statt Pope-Hennessy)
  10. Aldous Huxley: Along the Road. New York 1925, S. 189; Philip Guston: Piero della Francesca. The Impossibility of Painting. In: Art News. 64, 1965, S. 38–39; Urte Krass: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Piero della Francescas Flagellazione als Schaustück für die Unerbittlichkeit der Perspektive. In: Beate Fricke, Urte Krass (Hrsg.): The Public in the Picture. Involving the Beholder in Antique, Islamic, Byzantine, Western Medieval and Renaissance Art. Diaphanes, Zürich/Berlin 2015, S. 249–266.
  11. Ginzburg, Carlo.: The enigma of Piero : Piero della Francesca : The baptism, the Arezzo cycle, the flagellation. Verso, 1985, ISBN 0-86091-116-0.
  12. deutsch ≈ „Im Gleichgewicht zwischen Ost und West, lesbar sowohl für die Östlichen wie die Westlichen Kirchen.“ Nicholas Terpstra: Global Interests: Renaissance Art Between East and West, by Lisa Jardine and Jerry Brotton Global Interests: Renaissance Art Between East and West, by Lisa Jardine and Jerry Brotton. Ithaca, New York, Cornell University Press, 2000. In: Canadian Journal of History. Band 37, Nr. 1, April 2002, ISSN 0008-4107, S. 116–118, doi:10.3138/cjh.37.1.116.

Literatur

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  • Ernst-Erich Doberkat: Die Drei. Ein Streifzug durch die Rolle der Zahl in Kunst, Kultur und Geschichte. Berlin: Springer 2019. Darin: Piero della Francescas Flagellazione di Cristo. S. 185–236. ISBN 978-3-662-58787-4
  • David A. King: Astrolabes and Angels, Epigrams and Enigmas. From Regiomontanus' Acrostic for Cardinal Bessarion to Piero della Francesca's Flagellation of Christ. Steiner, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-515-09061-2.
  • Bernd Roeck: Mörder, Maler und Mäzene. Piero della Francescas «Geißelung». Eine kunsthistorische Kriminalgeschichte. München 2006, ISBN 3-406-55035-5.
  • Carlo Bertelli: Piero della Francesca. Leben und Werk des Meisters der Frührenaissance. Köln 1992, ISBN 3-7701-3058-8.
  • Ronald Lightbown: Piero della Francesca. Abbeville 1992.
  • Carlo Ginzburg: Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der Frührenaissance. Mit e. Einf. von Martin Warnke. Berlin 1985, ISBN 3-8031-3500-1.
  • Marilyn Aronberg Lavin: Piero della Francesca. The Flagellation. University of Chicago Press, 1973.
  • Kenneth Clark: Piero della Francesca. 2. durchges. Aufl., London 1970.
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Commons: Die Geißelung Christi – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien