Differenzkriterium

Verfahren der biblischen Exegese

Das Differenzkriterium, auch Unähnlichkeitskriterium[1] (lateinisch differentia „Verschiedenheit, Unterschied“ und altgriechisch κριτήριον „Gerichtshof; Rechtssache; Richtmaß“), ist ein Verfahren der historisch-kritischen Methode, das vor allem in der biblischen bzw. neutestamentlichen Exegese angewendet wird. Zusammen mit dem Kohärenzkriterium bildet das Differenzkriterium eine wichtige Grundlage der Historischen Jesusforschung.

Die Methode hat nicht nur zum Ziel, einen (biblischen) Text in seinem damaligen historischen Kontext zu verstehen und auszulegen, sondern auch die ‚Worte Jesu‘ als solche zu rekonstruieren. In der Erforschung der ‚Worte Jesu‘ gilt das Differenzkriterium als das wichtigste Kriterium zur Unterscheidung von überlieferter authentischer und inauthentischer Jesusnarration. Nur die Narration soll sicher jesuanisch sein, die sich nicht aus dem Judentum ableiten lässt, aber auch nicht dem Urchristentum zugeschrieben werden kann; deshalb doppeltes Differenzkriterium.

Begriffsgeschichte

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Ansatzweise hatte Hermann Samuel Reimarus[2] schon den Weg für das Unähnlichkeitskriterium entwickelt. So versuchte Reimarus zwischen der wirklichen, historischen Verkündigung Jesu und dem Christusglauben der Apostel zu unterscheiden und ging davon aus, dass Jesu Verkündigung nur im Kontext des Judentums und der damaligen Zeit zu verstehen sei.

Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die historisch-kritischen Methoden differenziert und erweitert. Nach 1945 trat Rudolf Bultmanns Wende der „Entmythologisierung“ der neutestamentlichen Forschung in den Vordergrund. Rudolf Bultmann (1921)[3] thematisierte eine dem „Differenzkriterium“ vergleichbare Fragestellung.[4] Der Begriff des „Differenzkriteriums“ wurde dann letztlich von Ernst Käsemann 1954 in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt.[5][6] Der Käsemannsche Ansatzpunkt war die von Bultmann in Frage gestellte theologische Legitimität nach der Rückfrage auf den historischen Jesus.[7]

Käsemann legte darüber hinaus noch ein ‚doppeltes Differenzkriterium‘ an die synoptische Tradition an, so sei ein Jesuslogion nur dann authentisch, wenn es sich weder aus der jüdischen Umwelt noch aus Leben und Lehre des Urchristentums erklären ließe. Hinzu kamen noch die Kriterien der Übereinstimmung (Kohärenzkriterium) und der Mehrfachbezeugung. Lange Zeit galt im theologischen Diskurs um die authentischen Jesusworte das von Käsemann geprägte „doppelte Differenzkriterium“ als Maßstab. Diesem Verfahren steht nunmehr das historische Plausibilitätskriterium von Gerd Theißen[8] gegenüber, wonach als historisch authentisch gelten soll, was sich als Auswirkung Jesu begreifen ließe und das gleichzeitig nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein könne.

Mit dem in diesem Zusammenhang gebrauchten Begriffs des „Kriteriums“, würde nach Gerd Theißen auf eine unterscheidende, beurteilende Handlung hingewiesen werden, somit gäbe das Kriterium das Merkmal für die Selektion des ursprünglichen textualen Materials an, die Differenz sagte, worin dieses Merkmal bestünde.[9]

Erläuterungen

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Auch für Jürgen Becker (1996)[10] sind die rekonstruierten Textstellen, die gegenüber dem Frühjudentum wie gegenüber dem Urchristentum Originalität besitzen, wahrscheinlich auf den historischen Jesus zurückzuführen.

Bei den Rekonstruktion der vermuteten Vor- und Entstehungsgeschichte des Textes und seiner Einbindung in das damalige Geschehen spielen dabei eine besondere Rolle.

Um ein gesichertes Minimum an echter Jesusüberlieferung zu finden, wird methodisch alles das, was entweder aus dem Judentum abgeleitet wird oder dem Urchristentum zugeschrieben werden kann, zum Differenzkriterium, die rekonstruierten Aussagen Jesu wird methodisch vom Judentum getrennt.[11]

Für die Rekonstruktion der jesuanischen Worte soll es eine Basis bilden. Es kann aber nicht als Ausschlusskriterium dienen, andererseits kann es nicht dazu eingesetzt werden, bestimmte Traditionen als nicht jesuanisch auszuschließen, weil sie in Übereinstimmung mit Judentum und/oder Urchristentum stehen.

In der theologischen Wissenschaftssprache haben sich folgende Unterscheidungen begrifflich abgebildet:

  • Differenzkriterium gegen das Judentum (Akronym DKJ); bezieht sich auf die Differenz zwischen hingegen auf das Judentum und die jüdische Umwelt Jesu.
  • Differenzkriterium gegen das Christentum (DKC); bezieht sich auf Jesus und der nachösterlichen christlichen Geschichte.

Beispiel: Anhand des Evangeliums nach Markus

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Im Streitgespräch um den Sabbat und dem religiöses Gesetz (Mk 2,23–28 EU) steht die Einhaltung des Sabbatgebotes zur Disposition, drei Antworten werden auf die Frage der Pharisäer gegeben:

Die dritte Antwort demaskiert sich als eine Antwort einer (späteren) christlichen Gemeinde, was bedeutet, dass sie nicht die Antwort Jesu gewesen sein konnte. Hingegen zeigt sich in der zweiten Antwort eine jesuanische, denn der Sabbat sei um des Menschen willen da und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Die Sabbatgebote können ausgesetzt werden, der Mensch sei frei sich selbst zu entscheiden, wie er am Sabbat handelt. Die erste Antwort fällt gewissermaßen aus dem Rahmen, den das Handeln am Sabbat bzw. das Verhalten Davids hat jedoch mit dem Sabbatdisput gar nichts zu tun (vergleiche hierzu Sabbatgebot und Neues Testament). Folglich wurde über die Methode des Differenzkriteriums die mögliche jesuanische Aussage rekonstruiert.

Kritik am Differenzkriterium

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Theißen trat schon im Jahre 1986[13] für die Umformulierung des Differenzkriteriums ein und ersetzte dieses im Jahre 1996 durch das historische Plausibilitätskriterium.[14] Seine These war, dass das, was im jüdischen Kontext plausibel entstanden sein kann und was darüber hinaus noch als Auswirkung Jesu die Entstehung des Frühchristentums verständlich machen würde, könne als historisch valide angesehen werden. Mit Plausibilität ist eine historische Authentizität bezeichnet. Als authentisch gelten Fakten, die als individuelle Erscheinungen aus seinem jüdischen Entstehungszusammenhang erklärbar werden und dann plausibel die spätere christliche Wirkungsgeschichte Jesu erklären könne. Zu einer solcherart „Kontext“- und „Wirkungsplausibilität“ träte die Gesamtplausibilität der Ergebnisse des rekonstruierten Bildes Jesu.

Literatur

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  • Gerd Theißen, Dagmar Winter: Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 3-7278-1129-3.
  • Stephanie von Dobbeler: Die Versammlung 'auf meinen Namen hin' (Mt 18:20) als Identitäts- und Differenzkriterium. In: Novum Testamentum. Band 44, Faszikel 3, 2002, S. 209–230.
  • Dagmar Winter: Das Differenzkriterium in der Jesusforschung. Dissertationsschrift, Universität Heidelberg 1996.
  • Gerd Häfner: Von den synoptischen Evangelien Von den synoptischen Evangelien zum historischen Jesus zum historischen Jesus. Repetitorium für Lehramtsstudierende Grundwissen Neues Testament, Sommersemester 2013 an der Katholischen-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München [4], hier S. 4 f.
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  • Peter Pilhofer, Julia Hager, Eva Schöniger, Andrea Reutter, Daniela Müller, Rebecca Weidinger: Neutestamentliches Repetitorium. § Methodische Erwägungen [5]
  • Die Kriterien der Rückfrage nach dem historischen Jesus [6]
  • Ursula Ulrike Kaiser: Einführung in die neutestamentliche Exegese. Überblick – Anleitungen – Beispiele – Literatur. Januar 2014 [7] auf theologie.uni-hamburg.de, hier S. 45.

Einzelnachweise

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  1. gelegentlich auch als „Unableitbarkeitskriterium“, „kritischen Aussonderungsprinzip der doppelten Nichtableitbarkeit“ bezeichnet
  2. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. (geschrieben 1735–1767/68, als Gesamtwerk bekannt seit 1814, erstmals vollständig posthum gedruckt 1972 und von Gerhard Alexander ediert. Im Insel-Verlag (Frankfurt).)
  3. Rudolf Bultmann: Die Geschichte der synoptischen Tradition. FRLANT 29. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1921. (2. neubearbeitete Auflage 1931 Digitalisierte Version, 10. Auflage 1995). (Begründete zusammen mit K.L. Schmidt und M. Dibelius die Formgeschichte.)
  4. Rezension von Armin Daniel Baum in Jahrbuch für Evangelikale Theologie 12 (1998) 206–209 [1]
  5. Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus. Zeitschrift für Theologie und Kirche Vol. 51, No. 2 (1954), S. 125–153
  6. Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus. In: Ernst Käsemann: Exegetische Versuche und Besinnungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1965, S. 187–214, hier S. 205
  7. Angelika Strotmann: Der historische Jesus: eine Einführung. (= UTB 3553), Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015, ISBN 978-3-8252-4160-5, S. 29 (Online-Vorschau).
  8. Gerd Theißen, Annette Merz: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 978-3-525-52198-4, S. 117–120
  9. Gerd Theißen: Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ISBN 978-3-525-53936-1, S. 28–174, hier S. 28
  10. Jürgen Becker: Jesus von Nazaret. De Gruyter, Berlin 1996, ISBN 3-11-014882-X
  11. Gerd Häfner: Von den synoptischen Evangelien zum historischen Jesus. Repetitorium für Lehramtsstudierende Grundwissen Neues Testament, Sommersemester 2013 [2]
  12. Peter Pilhofer, Julia Hager, Eva Schöniger, Andrea Reutter, Daniela Müller, Rebecca Weidinger: Neutestamentliches Repetitorium. § Methodische Erwägungen [3], S. 30
  13. Gerd Theißen: Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form. Chr. Kaiser Verlag, München 1986, ISBN 3-459-01656-6, S. 199.
  14. Walter Gerwing: Die Gottesherrschaftsbewegung Jesu. LIT Verlag, Münster 2002, ISBN 978-3-8258-6299-2, S. 16–17 (Online-Vorschau).