Dirichletsche L-Funktion

mathematische Funktion

Unter Dirichletschen L-Funktionen versteht man eine Familie spezieller mathematischer Funktionen, die in der analytischen Zahlentheorie, einem Teilgebiet der Mathematik, eine wichtige Rolle spielen. Ihr Namensgeber Peter Gustav Lejeune Dirichlet verwendete sie erstmals beim Beweis des sog. Dirichletschen Primzahlsatzes. Bezeichnet werden sie üblicherweise mit dem Symbol , wobei ein Dirichlet-Charakter und eine komplexe Zahl ist.

Für Werte mit Realteil größer als 1 sind alle Dirichletschen L-Funktionen über eine Dirichlet-Reihe definiert – nämlich die Dirichlet erzeugte Funktion von . Ist der Charakter zudem nicht-prinzipal, d. h., er nimmt auch Werte außer 0 und 1 in den ganzen Zahlen an, gilt die Reihendarstellung sogar für Werte mit positivem Realteil. Mittels analytischer Fortsetzung kann zu einer auf holomorphen Funktion ausgeweitet werden, wobei im Falle eines Hauptcharakters in ein Pol erster Ordnung vorliegt. In allen anderen Fällen ist sogar eine ganze Fortsetzung möglich. Die erfüllen wichtige Funktionalgleichungen.

Bedeutsam für die Zahlentheorie ist, dass aufgrund der vollständigen Multiplikativität der Charaktere jede Dirichletsche L-Funktion in ein Euler-Produkt entwickelt werden kann. Dies liefert die entscheidenden Informationen und Anwendungen auf die Theorie der Primzahlen und gab Dirichlet die Mittel zum Beweis des Dirichletschen Primzahlsatzes.

Das Verhalten der Dirichletschen L-Funktionen gilt in den Bereichen und als weitgehend verstanden. Jedoch sind ihre Eigenschaften innerhalb des kritischen Streifens weitestgehend unbekannt und Gegenstand bedeutender Vermutungen. Dies betrifft unter anderem die Fragen nach asymptotischem Wachstum in imaginärer Richtung und der für die Zahlentheorie so wichtigen Nullstellenverteilungen. Nach heutigem Wissensstand beschreiben die Dirichletschen L-Funktionen im Streifen im Wesentlichen Chaos. Anwendungsgebiete sind die Wahrscheinlichkeitstheorie und die Theorie der automorphen Formen (insbesondere im Feld des Langlands-Programms).

Aus Sicht der algebraischen Zahlentheorie sind die Dirichletschen L-Funktionen nur ein Spezialfall einer ganzen Klasse sogenannter L-Funktionen. So bilden Produkte dieser Funktionen Dedekindsche Zeta-Funktionen zu abelschen Erweiterungen. Wichtige Spezialfälle dirichletscher L-Funktionen sind die Riemannsche Zeta-Funktion und die Dirichletsche Beta-Funktion.

Motivation

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Im Zentrum der Zahlentheorie, jenes Zweiges der Mathematik, der sich mit den Eigenschaften der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4 … beschäftigt, stehen die Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11 … . Diese sind ausgezeichnet durch die Eigenschaft, genau zwei Teiler zu haben, nämlich die 1 und sich selbst. Die 1 ist keine Primzahl. Bereits Euklid konnte zeigen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, weshalb die Liste 2, 3, 5, 7, 11 … niemals enden wird.

Die Primzahlen sind gewissermaßen die Atome der ganzen Zahlen, da sich jede positive ganze Zahl eindeutig multiplikativ in solche zerlegen lässt. Zum Beispiel gilt 21 = 3 · 7 und 110 = 2 · 5 · 11. Trotz dieser elementaren Eigenschaft ist nach mehreren Jahrtausenden Mathematikgeschichte bis heute kein einfaches Muster bekannt, dem sich die Primzahlen in ihrer Folge unterwerfen. Ihre Natur ist eine der bedeutendsten offenen Fragen der Mathematik.

Auch wenn das detaillierte Verständnis der Sequenz 2, 3, 5, 7, 11 … unerreichbar fern ist, kann man gewisse Fragestellungen mit heutigen Methoden gut beantworten. Dies betrifft zum Beispiel Verallgemeinerungen des euklidischen Satzes über die Unendlichkeit der Primzahlen. Sind gewisse Teilmengen der Menge aller Primzahlen unendlich, so folgt der Satz von Euklid. Man kann zum Beispiel fragen, ob es unendlich viele Primzahlen   gibt mit der Eigenschaft, dass   durch 4 teilbar ist. Die ersten dieser Primzahlen sind 5, 13, 17, 29, 37, 41, … Dirichlet konnte als Konsequenz des Dirichletschen Primzahlsatzes zeigen, dass auch diese Liste niemals endet. Darüber hinaus enthalten alle Listen der Form   unendlich viele Primzahlen, so lange   und   außer 1 keine gemeinsamen positiven Teiler haben. Dementsprechend enthält auch die Liste 7, 10007, 20007, 30007, 40007, … mit a=10000 und b=7 unendlich viele Primzahlen, die ersten sind 7, 10007, 90007, 180007, 240007, 250007, …

Für den Beweis dieser Unendlichkeitsaussagen sind die Dirichletschen L-Funktionen von Nutzen, da die zugehörigen mathematischen Charaktere dazu dienen können, alle entsprechenden Primzahlen „abzuzählen“. Bei dieser Zählung kommt ein unendlich großer Wert heraus und das komplettiert den Beweis.

Die Primzahlen sind nicht nur Gegenstand der mathematischen Grundlagenforschung, sondern haben auch praktische Anwendungen. So kommen beispielsweise bei Kryptosystemen wie der RSA-Verschlüsselung sehr große Primzahlen zum Einsatz.

Definition und elementare Darstellungsformen

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Dirichlet-Reihe

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Zu jedem Dirichlet-Charakter   kann eine Dirichletsche L-Funktion definiert werden. Diese ist dann gegeben durch die Dirichlet-Reihe

 

Man kann zeigen, dass diese Reihe im Falle eines nicht-prinzipalen Charakters   für alle komplexen Werte   mit positivem Realteil konvergiert. Falls vorhanden, ist die Konvergenz im Streifen   bedingt. In jedem Fall liegt absolute Konvergenz für   vor.

Trotz dieser Einschränkungen wird die Dirichlet-Reihe aufgrund ihrer Einfachheit und ihrer zahlentheoretischen Relevanz (siehe Euler-Produkt) als Basisdefinition verwendet. Mittels analytischer Fortsetzung (siehe unten) wird eine sinnvolle Berechnung für alle komplexen Zahlen   (ggf. mit  ) möglich.

Euler-Produkt

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Dirichlet-Charaktere   sind vollständig multiplikativ – es gilt für alle Zahlen  :   Aus dieser Tatsache folgt, dass sich die Funktion   im Bereich der absoluten Konvergenz der Dirichlet-Reihe, also genau für  , in ein Euler-Produkt entwickeln lässt:

 

Diese Darstellung ist für die Zahlentheorie von Bedeutung. Obwohl manche der L-Funktionen sogar für Wert   konvergieren, gilt dies für das Euler-Produkt in keinem Fall im gesamten Bereich  , da keine absolute Konvergenz der Dirichlet-Reihe vorliegt. Für die Produktbildung muss jedoch die Reihenfolge der Summanden vertauschbar sein.

Primitive Charaktere

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Die Theorie der Dirichletschen L-Funktionen zu beliebigen Charakteren reduziert sich auf die Theorie zu primitiven Charakteren. Ist ein Charakter   modulo   durch ein   modulo   induziert, so folgt über die Euler-Produkte:

 

Bei dem hinteren Faktor handelt es sich um ein endliches Produkt sehr einfach zu kontrollierender Dirichlet-Reihen, weshalb wichtige Fragen wie analytische Fortsetzbarkeit oder Nullstellen nur für den primitiven Fall beantwortet werden müssen.

Analytische Fortsetzung

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Für Hauptcharaktere

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Für Hauptcharaktere   modulo   lässt sich die Problematik mit

 

auf die Riemannschen Zeta-Funktion zurück führen. Dabei wird benutzt, dass der endliche Faktor hinten eine ganze Funktion darstellt. Es ergibt sich, dass sich   zu einer in ganz   holomorphen Funktion mit einfachem Pol in   ausweiten lässt.

Keine Hauptcharaktere

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Ist   kein Hauptcharakter, so konvergiert die Reihe   nur für Werte  . Die anfänglich nur für komplexe Zahlen mit positivem Realteil definierten Dirichletschen L-Funktionen (zu nicht-prinzipalen Charakteren) können zu in ganz   holomorphen Funktionen ausgeweitet werden. Diese Tatsache mag zunächst ungewöhnlich wirken, da ihre Dirichlet-Reihen an vielen Stellen nicht mehr konvergieren können: die Ausdrücke   bilden für Werte   mit nicht-positivem Realteil keine Nullfolge, weshalb das notwendige Kriterium für die Konvergenz einer Reihe verletzt ist. Tatsächlich aber stehen diese Reihen nicht überall für die Definition der Dirichletschen L-Funktionen zur Verfügung.

Eine analytische Fortsetzung der im Gebiet   durch die Reihe   definierten holomorphen Funktion ist eine auf einem größeren Gebiet   holomorphe Funktion, die auf ganz   mit dieser übereinstimmt. Nach dem Identitätssatz für holomorphe Funktionen ist eine solche Fortsetzung stets eindeutig bestimmt. Damit sind alle Werte der Funktion   im erweiterten Bereich   bereits durch die Dirichlet-Reihe festgelegt, obwohl sie hier nicht mehr an allen Stellen konvergiert.

Funktionalgleichung

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Im Folgenden bezeichnet   die Gammafunktion, die die Fakultät auf komplexe Zahlen verallgemeinert. Die Dirichletschen L-Funktionen erfüllen alle charakteristische Funktionalgleichungen, welche die Werte   und   in Verbindung bringen. Von manchen Autoren wird dabei (aus Gründen der Übersichtlichkeit) in den Fällen   unterschieden.

Im Folgenden bezeichnet   die Gauß-Summe eines Charakters. Ist   ein primitiver Charakter modulo   und  , so gilt als Identität zwischen meromorphen Funktionen

 

Ist   hingegen ungerade, also  , folgt eine ähnliche Relation:

 .

Spezielle Funktionswerte

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Im Kontext bestimmter Werte der Dirichletschen L-Funktionen sind die verallgemeinerten Bernoulli-Zahlen  , die sich via

 

definieren lassen, eine tragende Rolle.

Funktionswerte für natürliche Zahlen

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Für die Bestimmung von Funktionswerten an positiven natürlichen Stellen wird die Kennzahl

 

genutzt. Diese ist 0, falls der Charakter gerade ist, ansonsten 1. Für positive ganze Zahlen  , so dass   eine gerade Zahl ist, gilt für primitive Charaktere modulo  :

 

Dabei bezeichnet   die Gauß-Summe von  . Ist   gerade, reduziert sich das auf

 

Für ungerade   hat man hingegen

 

In diesen Fällen lassen sich die entsprechenden L-Werte als algebraische Vielfache der Potenzen   darstellen. Damit gehören sie nach einem Satz von Ferdinand von Lindemann zu den transzendenten Zahlen.

Über die jeweils anderen Werte, also   für gerade und   für ungerade Charaktere, ist bis heute sehr wenig bekannt. Man weiß in den Fällen  , bis auf den Fall der Apery-Konstanten  , nicht einmal von einem dieser Werte, ob dieser irrational ist. Es wird jedoch vermutet, dass sie alle irrational sind. Ein wichtiger Spezialfall ist   und die Catalansche Konstante

 

deren Irrationalität bisher unbewiesen ist. Es ist aber zum Beispiel bekannt, dass unendlich viele Werte   und   für   irrational sind.

Für nicht-positive ganze Zahlen

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Die Werte an positiven ganzen Stellen sind über die Funktionalgleichung mit denen an negativen ganzen Stellen verbunden. Es gilt für primitive Charaktere stets

 .

Daraus lassen sich alsbald die trivialen Nullstellen der L-Funktionen ablesen. Falls   ungerade ist, gilt   Einzige Ausnahme von dieser Regel bietet der Fall  ,   und der triviale Charakter, denn es gilt  .

Die Werte L(1,χ)

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In diesem Abschnitt ist   kein Hauptcharakter. Die Zahlen   sind in der Zahlentheorie von besonderem Interesse. Ihre Handhabung ist tendenziell schwieriger, insbesondere bei der Frage, ob  . Diese nicht-Verschwindungsaussage (non-vanishing theorem) ist ein zentraler Zwischenschritt zum Beweis des Dirichletschen Primzahlsatzes.

Transzendenz

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Ist   kein Hauptcharakter, so ist der Wert   stets eine transzendente Zahl. Dies folgt aus dem Satz von Baker und der Relation

 

Hierbei sind die   algebraische Zahlen und definiert durch die Identität

 .

Der Satz von Siegel

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Ist der Charakter   reell, so gilt sogar stets  . Carl Ludwig Siegel konnte diese Aussage verschärfen, indem er eine gleichmäßige Schranke für das Verhalten der   für variierende Charaktere gab. Ist   beliebig, so gibt es eine Konstante  , so dass für alle reellen primitiven Charaktere modulo   gilt

 

Literatur

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  • Jörg Brüdern: Einführung in die analytische Zahlentheorie, Springer, 1995.