Diskussion:Barbarei und Zivilisation
Sarmiento und die Widersprüche liberalen Selbstverständnisses
BearbeitenBerthold Zilly weist im Nachwort zu seiner Übersetzung darauf hin, dass das international wachsende Prestige des „wissenschaftlichen“ Rassismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Sarmiento nicht nur nicht bekämpft, sondern befördert wurde. Das heißt, dass die von ihm mitgetragenen Gleichheitsbeteuerungen (vgl. S. 293), dass nämlich „alle Menschen“ gleich, alle frei, alle Brüder und gleich in Rechten und Pflichten seien, nicht weit tragen. Das zeigt sich in seinen Äußerungen zu den argentinischen Afroamerikanern oder zu den Indianern, in denen er vor allem „Wilde“ sieht, „aber doch schließlich Menschen“ erkennen kann (S. 268). (Hätte er das Wort „Untermensch“ gekannt, hätte er es verwendet; denn selbst dieser Begriff tut ja noch sein „menschliches Substrat“ kund.) Das ist keine Eigenart Sarmientos oder eine den Verhältnissen Argentiniens geschuldete eingeschränkte Sichtweise, sondern ebenfalls ein Erbe der Französischen Revolution (siehe Code Noir und Louis Sala-Molins), das genauso in seinem Vorbild Alexis de Tocqueville zum Durchbruch kommt, wenn es um Herrschaftsinteressen geht. In ihm als Kernfigur europäischen und westlichen Liberalismus’ äußern sich die gleichen Grenzen im postulierten Gleichheitsanspruch: So wie sich die nordamerikanischen Indianer wegen ihrer zivilisatorischen Unterlegenheit ihrer Vernichtung fügen müssen, so haben sich auch die indigenen Algerier und in ihrer Folge alle anderen ins kolonialistische Visier geratenen Völker der „Herrenvolk-Demokratie“ mit ihren imperialistischen Ansprüchen zu fügen (wenn es sein muss, auch die eigene Bevölkerung, wenn sie aufsässig und zu „Beduinen der Metropole“ erklärt wird, nämlich das Volk und die Arbeiterschichten von Paris im Juni 1848, zu deren Niederschlagung mit Tocquevilles Einverständnis eigens die „Armée d’Afrique“ unter der Führung von Bugeaud, den Sarmiento bei einer Reise nach Frankreich und Algerien kennenlernte, ins Land geholt wurde). Dabei ist Tocqueville durchaus in der Lage, das zu durchschauen, wenn er angesichts des Schicksals der Indianer im ersten Band des Buches „Über die Demokratie in Amerika“ schreibt: „Wenn man sieht, was auf der Welt geschieht, würde man da nicht sagen, dass der Europäer für die Menschen anderer Rassen das ist, was er selbst für die Tiere ist? Er nimmt sie für sich in Dienst und wenn er sie sich nicht gefügig machen kann, zerstört er sie.“
Man lese hierzu Domenico Losurdos „Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus“ (2010) oder ausführlicher zu Tocquevilles „barbarischer“ Seite Olivier Le Cour Grandmaisons „Coloniser. Exterminer. Sur la guerre et l’État colonial“ (2005), S. 318-324. Vor diesem Hintergrund erklärt sich möglicherweise, warum das Buch zum ersten Mal 2007 auf Deutsch erschienen ist. Denn für Berthold Zilly und die aufwändige Buchpräsentation in der Anderen Biblithek hat sicher eher ein zeitgeschichtliches als ein exotisches Interesse bestanden. --Frank Helzel 11:26, 3. Dez. 2010 (CET)