Ein Nutzen von Philosophie ist nicht erwiesen, aber ein Schaden ist möglich
Ein Nutzen von Philosophie ist nicht erwiesen, aber ein Schaden ist möglich[1] (russisch Польза философии не доказана, а вред от неё возможен[2] / Pólsa filossófii nje dokásana, a wred ot nejó wosmóschen, wiss. Transliteration Pol'za filosofii ne dokazana, a vred ot neë vozmožen) ist ein Aphorismus von P. A. Schirinski-Schichmatow[3], dem Minister für Volksbildung des Russischen Reiches[4].
Historische Umstände
BearbeitenDie strengsten Beschränkungen für den Philosophieunterricht wurden nach den europäischen Revolutionen von 1848 eingeführt.
Der Satz stand im Zusammenhang mit den Plänen des 1849 neu ernannten Ministers, die Philosophie aus den universitären Fächern auszuschließen, was 1850 auch umgesetzt wurde, wonach sich der Philosophieunterricht im Wesentlichen auf Logik und Psychologie beschränkte und den Professoren der Theologie die Pflicht auferlegt wurde, Philosophiekurse zu lesen. Diese Maßnahme stand im Einklang mit der allgemeinen Politik der letzten Periode der Herrschaft von Nikolaus I. (seit 1848). Die Philosophie als Disziplin und vor allem die westeuropäische Philosophie wurde als Quelle der Empörung betrachtet.
Ursprünglich sollte an der Universität ein Lehrstuhl für Philosophie eingerichtet werden, um die idealistischen philosophischen Systeme des „verrotteten“ Westens zu bekämpfen. Als sich die Professoren jedoch weigerten, Kant, Schelling und Hegel zu widerlegen, wurde dieser Lehrstuhl 1850 „wegen mangelnder Verwendung“ abgeschafft.[5]
In der Folge verlagerte sich das Studium der Philosophie von den Universitäten im Russischen Kaiserreich an die theologischen Akademien in St. Petersburg, Moskau, Kasan und Kiew.[6]
Die Phrase in der zeitgenössischen Kultur
BearbeitenDie Formulierung wird oft ungenau zitiert. Andere Varianten sind ebenfalls möglich. Insbesondere wird das Wort Philosophie aus dem Satz herausgenommen oder durch ein anderes Wort ersetzt. Die letztgenannte Ersetzung bezieht sich auf eine absichtliche Änderung der Formulierung, wenn die Formulierung nicht verwendet wird, um die Philosophie zu kritisieren, sondern etwas anderes.
Bei textnahen Zitaten hängt die Verwendung des Satzes von der Absicht des Zitierenden ab. Wenn er damit nicht einverstanden ist, dient dies als charakteristisches Beispiel für die Haltung der Bürokratie und der Politiker gegenüber der Philosophie, der Bildung und der Wissenschaft im Allgemeinen. Wenn man dem zustimmt, ist der Satz ein Argument gegen Philosophie und nutzloses Theoretisieren.
Dieser Satz wird oft fälschlicherweise S. S. Uwarow zugeschrieben, der unmittelbar vor Schirinski-Schichmatow Minister für Volksbildung war,[7] oder dem Zaren Nikolaus I. selbst.
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Кантор В. К проблеме самосознания русской культуры // Меценат и Мир. — 1999. — № 8-10./ V. Kantor: Zum Problem des Selbstbewusstseins der russischen Kultur // Maecenas und Mir. - 1999. - № 8-10. (russ.)
- Часть первая: История философии. Раздел III. История русской философии. Глава 3. Русская философия XIX века. 1. Особенности развития философских идей в России в первой половине XIX века // Философия. Учебник для вузов / Под общ. ред. В. В. Миронова. — С. 358—362. / Erster Teil: Geschichte der Philosophie. Abschnitt III. Geschichte der russischen Philosophie. Kapitel 3. Russische Philosophie des 19. Jahrhunderts. 1. Merkmale der Entwicklung philosophischer Ideen in Russland in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts // Philosophie. Lehrbuch für Universitäten / Unter der Red. von W. W. Mironow. - S. 358–362. (russ.)
- Aleksandr Nikitenko[8]: The Diary of a Russian Censor. Abridged, ed. & trans: Helen S. Jackobson. University of Massachusetts, Amherst 1975 (gekürzte Fassung des Tagebuchs)
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise und Fußnoten
Bearbeiten- ↑ Anne Rörig: Personalismus versus All-Einheit: Philosophie des Dialogs und der Begegnung bei Sëmen Frank. 2019, S. 43
- ↑ vgl. Никитенко А. В. Дневник. В 3-х тт. — Л., 1955. — Т. 1. — С. 334. — Цит. по: Кантор В. К проблеме самосознания русской культуры. / A. W. Nikitenko: Tagebuch. In 3 Bänden. - Leningrad., 1955. - Bd. 1. - S. 334. - Zitiert nach: V. Kantor: Zum Problem des Selbstbewusstseins der russischen Kultur (russ.).
- ↑ russisch Платон Александрович Ширинский-Шихматов, wiss. Transliteration Platon Aleksandrovič Širinskij-Šichmatov / P. A. Shirinsky-Shikhmatov
- ↑ vgl. russisch Министерство народного просвещения Российской империи
- ↑ V. Kantor: Zum Problem des Selbstbewusstseins der russischen Kultur (russ.)
- ↑ vgl. Alexei N. Krouglov: "Kant and Kantianism in Russia: A Historical Overview", S. 115 ff., in: Marina F. Bykova, Michael N. Forster, Lina Steiner (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Russian Thought, 2021, hier S.119 (wo die philosophische Phrase mit “The benefits of philosophy are unproven, but its harm is” ins Englische übersetzt wird)
- ↑ Und der der Autor eines anderen berühmten Slogans "Orthodoxie, Autokratie, Nationalität" (russisch Правосла́вие, самодержа́вие, наро́дность) ist.
- ↑ russisch Александр Васильевич Никитенко, wiss. Transliteration Aleksandr Vasil'evič Nikitenko