Der Begriff Einheitspsychose stellt ein nosologisches Konzept der Psychiatrie dar, nach dem die verschiedensten Formen psychischer Krankheit nur aufeinanderfolgende Stadien eines kontinuierlichen Krankheitsprozesses sind und somit ein psychotisches Kontinuum[1] darstellen. Eine differenzierte Unterscheidung in verschiedene eigenständige Krankheitsbilder (psychiatrische Krankheitseinheiten) wie etwa der Schizophrenie und der endogenen Depression („Dichotomie“ von Emil Kraepelin[1]) ist daher nicht zwingend. Übergänge von einer Form in die andere sind prinzipiell immer möglich. Die Vielfalt psychiatrischer Erscheinungsformen kann demnach auch durch Untergliederung und Klassifikation in einzelne Krankheitseinheiten – nicht übersichtlicher und widerspruchsfreier beschrieben werden. Vielmehr müsse von der Vorstellung einer „Einheitspsychose“ ausgegangen werden, in der alle Krankheitsformen gemeinsam enthalten seien.[2] Nach einer bereits von Albert Zeller und Heinrich Neumann um 1860 gegebenen Definition unterscheiden sich psychiatrische Krankheitsbilder hauptsächlich durch ihren mehr oder weniger günstigen Verlauf. Die ungünstigen Endzustände seien durch gänzlichen geistigen Zerfall bzw. durch Defektbildung gekennzeichnet.[3](a)

Verlaufsstadien oder Kontinuum?

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  • Joseph Guislain (1797–1860) hat nach Klaus Dörner den Begriff der Einheitspsychose in die europäische Diskussion eingebracht und ihn z. B. an Ernst Albert Zeller und Wilhelm Griesinger weitergegeben, vgl. auch Bodamer Kap. Literatur.[4]
  • Albert Zeller (1804–1877) unterschied ebenfalls vier Krankheitsstadien: Melancholie → Manie (Tollheit) → Verrücktheit → Blödsinn im Sinne eines einheitlichen Verlaufs psychischer Krankheiten.[5] Ackerknecht sieht hier vor allem ein emotionelles und ein verstandesgestörtes Stadium.[6] Spezielle Krankheitsprozesse für einzelne psychische Krankheitseinheiten erkannte Zeller nicht an. Er wird daher zu den Vertretern der erst später von Heinrich Neumann begründeten Lehre der Einheitspsychose gerechnet.[3](b) Er gab den Gedanken der Einheitspsychose von Guislain an seinen Schüler Wilhelm Griesinger (1817–1868) weiter.[4] Dieser zitiert Guislain in der Annahme, dass die Melancholie und der mit ihr verbundene psychische Schmerz die Grundform aller anderen psychischen Krankheiten darstellt, wie folgt: „Ursprünglich ist der Wahnsinn ein Zustand von Übelbefinden, Angst, Leiden, ein Schmerz, aber ein moralischer, intellektueller, zerebraler.“[7] Der neue klinische Geist Griesingers ließ ihn der These des Krankheitsprozesses und nicht der eines „Konglomerats von Symptomen“ folgen. Er ersparte sich Ackerknecht zufolge dadurch „leere Klassifikationsübungen“.[6]
  • Heinrich Neumann (1814–1884) unterschied drei Krankheitsstadien: produktive pathologische Geisteserzeugnisse → Lockerung der Vorstellungszusammenhänge → geistiger Zerfall.[5] Die Anzahl der angenommenen Stadien erscheint jedoch von fraglicher Bedeutung. Sie dient offenbar nur der Beschreibung eines „einheitlichen zeitlichen Ablaufs“ von psychischer Krankheit überhaupt. Dem trägt die Bezeichnung psychotisches Kontinuum evtl. besser Rechnung.
  • Als Mischpsychose wird eine auch Schizoaffektive Störung genannte Verbindung zweier Krankheitseinheiten benannt, nämlich depressiv-manischer und schizophrener Hauptkriterien.[3](c) [8](b)
  • Sigmund Freud hat das dynamische Prinzip der Konfliktspannung als das für Neurose und Psychose gemeinsame Kriterium der pathogenetischen Unterscheidung bezeichnet und damit gleichzeitig einen gemeinsamen Pathomechanismus aufgezeigt.[9](a) Bei der Neurose bestehen innere Konflikte, bei der Psychose äußere.[9](b) Sie werden bei der Psychose als narzisstische Verarbeitungsmodi bezeichnet.[9](c) Entsprechend der quantitativen Bedeutung der Konfliktspannung sind bei der Psychose höhere krankmachende Potentiale wirksam, da es hier keine der Verdrängung ähnliche Möglichkeiten der Kompensierung gibt.[9](d)

Geschichte der Psychiatrie

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Das Konzept der Einheitspsychose entsprach nicht dem der klassischen deutschen Psychiatrie. Diese hielt vier verschiedene Prinzipien zur Differenzierung und Klassifizierung von psychischer Krankheit für angezeigt:[8](a)

  1. Ursache (Kausalzusammenhang, Ätiologie)
  2. Erscheinungen (Symptome und Symptomverkopplungen, sog. Symptomenkomplexe)
  3. Hirnbefund (Anatomie, Histologie)
  4. Verlauf und Ausgang der Krankheit

Vor allem Emil Kraepelin und Kurt Schneider versuchten jeweils typische Symptome zu beschreiben, die es gestatteten, die Prognose schon vorab aufgrund psychopathologischer Befunderhebung zu stellen und nicht erst durch die Beobachtung des Krankheitsverlaufs. Kurt Schneider beschrieb daher z. B. Symptome ersten Ranges bei der Schizophrenie.[10] Dennoch bezog sich Emil Kraepelin indirekt auch auf die Verlaufsbeschreibung Heinrich Neumanns, nämlich auf dem Umweg über Karl Ludwig Kahlbaum.[11]

Vom Sinn unterschiedlicher nosologischer Konzepte

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Unterschiedliche nosologische Konzepte mögen zu wenig ergiebigen Auseinandersetzungen führen über die Richtigkeit der sich gegenseitig widersprechenden Auffassungen. Sie haben nur dann einen Sinn, wenn eine hinlängliche Kompromissbereitschaft auf allen Seiten des Diskurses besteht. Der Sinn besteht also in der Verständigung zwischen den Gesprächsteilnehmern und nicht in der Auseinandersetzung über die Wahrheit, da das Wesen von Krankheit letztlich unbekannt ist.[5][8](c)

Einzelnachweise

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  1. a b Andreas Marneros: Schizoaffektive Psychosen. Diagnose, Therapie und Prophylaxe. Springer, Berlin 1989, ISBN 3-540-51243-8; S. 4 f., 53.
  2. G.E. Berrios and D. Beer (1994) The notion of Unitary Psychosis: a conceptual history. History of Psychiatry 5: 13-36.
  3. a b c Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 5. Auflage, Urban & Fischer, München 2000; ISBN 3-437-15060-X:
    (a) S. 157 zu Lemma „Einheitspsychose“;
    (b) S. 157 wie (a);
    (c1) S. 350 zu Lemma „Mischpsychosen“;
    (c2) S. 488 zu Lemma „Schizoaffektive Störung“.
  4. a b c Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie (1969). Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; (a) S. 165, 174 ff. zu Stw. „Krankheitsprozess in der französischen Psychiatrie“; (b) S. 178, 297, 315, 318 zu Stw. „Einheitspsychose in der europäischen Diskussion“; (c) S. 297 zu Stw. „Gedanken der Einheitspsychose von Guislain zu Zeller und Griesinger“.
  5. a b c Rudolf Degkwitz et al. (Hrsg.): Psychisch krank. Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9; Spalten nachfolgend mit ~ angegeben: - (a) S. 448~1 zu Stw. „Stadieneinteilung nach Zeller“; (b) S. 448~1 zu Stw. „Stadieneinteilung nach Neumann“; (c) S. 51~1 zu Stw. „Vom Sinn unterschiedlicher nosologischer Konzepte“.
  6. a b Erwin H. Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke, Stuttgart 31985, ISBN 3-432-80043-6; S. 70.
  7. Wilhelm Griesinger: Über psychische Reflexactionen. S. 37.
  8. a b c Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin 91973, ISBN 3-540-03340-8:
    (a) S. 471 ff. - zu Stw. „Prinzipien der Differenzierung“: 4. Teil: Die Auffassung der Gesamtheit des Seelenlebens - Erstes Kapitel: Die Synthese der Krankheitsbilder (Nosologie) - § 1: Forschung unter der Idee der Krankheitseinheit - Einheitspsychose oder Reihe abgrenzbarer Krankheitseinheiten;
    (b) S. 513 - § 4 zu Stw. „Mischpsychose“: Die Einteilung der Krankheiten (Diagnoseschema) - Kombination von Psychosen (Mischpsychosen);
    (c) S. 472 - zu Stw. „Auseinandersetzung und Verständigung“.
  9. a b c d Sigmund Freud: Neurose und Psychose. In: Gesammelte Werke, Band XIII, „Jenseits des Lustprinzips – Massenpsychologie und Ich-Analyse – Das Ich und das Es“ (1920–1924), Fischer Taschenbuch, Frankfurt / M 1999, ISBN 3-596-50300-0:
    (a) S. 390 zu Stw. „Konfliktspannnung“;
    (b) S. 387 zu Stw. „innere und äußere Konflikte als Unterscheidungskriterium“;
    (c) S. 390 zu Stw. „narzißtische Psychoneurosen“;
    (d) S. 391 zu Stw. „analoger Mechanismus der Verdrängung für Psychotiker?“.
  10. Kurt Schneider: Klinische Psychopathologie. 11. Auflage, Georg Thieme Verlag Stuttgart 1976, ISBN 3-13-398211-7; S. 135 f.
  11. Oswald Bumke: Lehrbuch der Geisteskrankheiten. Verlag J. F. Bergmann, München, 61944; zu Stw. „Kahlbaums Verlaufsbeobachtung“: S. 1 f.

Literatur

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  • J. Bodamer: Zur Phänomenologie des geschichtlichen Geistes in der Psychiatrie. In: Nervenarzt. 19, 1948, S. 299–310.
  • J. Bodamer: Zur Entstehung der Psychiatrie als Wissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Fortschr. Neurol. Psychiat. 21, 1953, S. 511–535.