Germania superior
Germania superior („Obergermanien“) war eine römische Provinz am Oberrhein, die spätestens ab dem Jahr 90 bis zum Ende des 3. Jahrhunderts bestand, als das Gebiet in zwei Provinzen unterteilt wurde. Die römische Herrschaft am Oberrhein endete im 5. Jahrhundert. Die Germania superior, in der starke Truppenverbände stationiert waren, umfasste Teile der heutigen Schweiz, Frankreichs und des südwestlichen Deutschlands (insbesondere das Dekumatland). Die Provinz grenzte im Norden an Germania inferior („Niedergermanien“, später Germania secunda) am Niederrhein, im Westen an Gallia Belgica und Gallia Lugdunensis, im Südwesten an Gallia Narbonensis und im Südosten an Raetia. Östlich der Provinz lag Germania magna (das „freie“ Germanien). Der Statthaltersitz der Provinz befand sich in Mogontiacum, dem heutigen Mainz.
Geschichte
BearbeitenRömische Provinz
BearbeitenMit den augusteischen Feldzügen ab 13/12 v. Chr. gelangten die linksrheinischen Gebiete unter römische Kontrolle. Bis zur Gründung der Provinz, die spätestens im Jahr 90 abgeschlossen war,[1] wurde das Gebiet am Oberrhein militärisch verwaltet (exercitus superior). Vor allem im 2. Jahrhundert kam es durch rechtsrheinische Gebietserweiterungen und ein Vorschieben des Limes zu bedeutenden Vergrößerungen der Provinz (Dekumatland), die mit einer Fläche von insgesamt 93.500 km² zu den mittelgroßen Provinzen des römischen Imperiums gehörte. Die Bedeutung der Provinz lag aber nicht in ihrer Größe, sondern der Lage an einer gefährdeten Grenze des Reichs, weshalb sie stark militärisch dominiert wurde. Der Kommandeur der in Obergermanien stationierten Truppen stellte daher vor allem im 1. und 2. Jahrhundert einen erheblichen Machtfaktor dar, da er mit den Rheinlegionen relativ schnell Italien erreichen konnte. So zog 69 Vitellius, der Kommandeur des niedergermanischen Militärbezirks, im Bürgerkrieg des Vierkaiserjahres 69 nach Rom, nachdem sich die Truppen Obergermaniens ihm angeschlossen hatten, und viele Historiker nehmen an, dass Trajan im Jahr 97 nur deshalb von Kaiser Nerva zum Nachfolger bestimmt wurde, weil er zu dieser Zeit das obergermanische Heer befehligte.
Teilung der Provinz
BearbeitenZwischen 260 und 280 wurde das Dekumatland von den römischen Truppen geräumt (Limesfall) und die militärische Grenze an Rhenus (Rhein) und Danubius (Donau) zurückverlegt. Unter Kaiser Diokletian wurde in der Spätantike nach 297 die Provinz Germania superior in die Germania prima im Norden und die Maxima Sequanorum im Süden geteilt und der Diözese Gallien mit der Kaiserstadt Trier (Augusta Treverorum) unterstellt. Kaiser Valentinian I. ließ die Grenze der Provinz um 370 aufwändig durch Festungen sichern.
Zeit der Völkerwanderung
Bearbeiten406 überschritten germanische Angreifer im Zuge der Völkerwanderung den Rhein und plünderten mehrere römische Städte. Im frühen 5. Jahrhundert kontrollierten zunächst Burgunden (411–435) als foederati gemeinsam mit regulären weströmischen Einheiten das Gebiet, bis sie rebellierten und von Flavius Aëtius 436 blutig niedergeworfen wurden. Nach etwa 455 traten dann Alamannen und schließlich die merowingischen Franken die Nachfolge der römischen Herrschaft am Rhein an: Als Chlodwig I. um 482 seinem Vater als rex nachfolgte, wurde er formal zugleich administrator der Provinz Germania Prima, die sich dann schrittweise in fränkisches Kronland verwandeln sollte.
Besiedlung
BearbeitenAufgrund der Lage an der Grenze des Römischen Reichs waren hier zahlreiche römische Truppenverbände stationiert. Legionen waren in Mainz/Mogontiacum, Straßburg/Argentorate und zeitweise Windisch/Vindonissa stationiert, außerdem viele Hilfstruppen am obergermanischen Limes.
Neben die anfangs dominierende militärische Komponente trat in der friedlichen Zeit vom späten 1. bis zum frühen 3. Jahrhundert im Hinterland eine zivile: Eine Strukturierung in civitates (Einzahl civitas: Hauptorte mit einem zugehörigen [Stammes-]Gebiet) erfolgte. Links des Rheins stellen diese Hauptorte wie Noviomagus (Speyer) und Borbetomagus (Worms) die ältesten deutschen Städte dar. Im rechtsrheinischen Gebiet bestand diese Kontinuität weniger, da hier die römische Herrschaft nur bis in das 3. Jahrhundert währte. Einige Civitas-Hauptorte wie Nida (heute: Frankfurt-Heddernheim) waren deswegen nicht bis in das Mittelalter kontinuierlich besiedelt, während in anderen Hauptorten wie Dieburg, Wiesbaden oder Ladenburg eine Siedlungskontinuität (wenngleich unter einfacheren Umständen) wahrscheinlich ist.
Neben den Hauptorten und den militärischen Lagern gab es kleinere zivile Siedlungen (vici) wie Altiaia (Alzey),[2] Eisenberg,[3] Rockenhausen,[4] Groß-Gerau[5] oder Heldenbergen.[6] Diese verfügten über keinen eigenen Rechtsstatus und waren der übergeordneten Civitas-Verwaltung zugeordnet. Oft lagen sie an Straßenkreuzungen oder hatten einen gewerblichen Charakter. Dominierend war die Besiedlung durch zahlreiche römische Landgüter (villae rusticae), von denen einige einen beträchtlichen Luxus aufwiesen. Beispielhaft kann dies etwa im Römischen Freilichtmuseum Hechingen-Stein besichtigt werden. Die Provinz profitierte von der Anwesenheit des römischen Heeres, da die kaiserlichen Soldaten über eine erhebliche Kaufkraft verfügten und die Truppen zudem überwiegend von der regionalen agrarischen Produktion abhängig waren; für diese waren vornehmlich die villae rusticae zuständig. Jenseits der römischen Städte und Landgüter blieb die alte germanische Bevölkerung meist ansässig, im Dekumatland, in das zahlreiche Einwanderer strömten, lebte eine keltisch-germanische Mischbevölkerung.[7]
Die folgenden obergermanischen civitates sind derzeit bekannt:
- Civitas Ulpia Sueborum Nicretum (nach den Neckarsueben), Hauptort Ladenburg (Lopodunum);
- Civitas Alisinensium, Hauptort Wimpfen;
- Civitas Aurelia G... Hauptort Neuenstadt am Kocher;
- Civitas Sumelocennensis, Hauptort Rottenburg (Sumelocenna);
- Civitas Aquensis, Hauptort Baden-Baden (Aquae);
- Civitas Vangionum, Hauptort Worms (Borbetomagus);
- Civitas Nemetum, Hauptort Speyer (Noviomagus);
- Civitas Mattiacorum, Hauptort Wiesbaden (Aquae Mattiacorum);
- Civitas Taunensium, Hauptort Frankfurt-Heddernheim (Nida);
- Civitas Auderiensium, Hauptort Dieburg (Med... oder V(---) V(---), Rest des Namens in beiden Fällen unbekannt)
- Civitas Helvetiorum, Hauptort Avenches (Aventicum)
- Civitas Sequanorum, Hauptort Besançon (Vesontio)
- Civitas Tribocorum, Hauptort Brumath (Vrocomagus)
- Civitas Lingonum, Hauptort Langres (Andematunnum)
- Civitas Rauricorum, Hauptort Biesheim (Argentovaria)
Erwähnenswerte Vici:
Als einzige bekannte Siedlungen erreichten Augst (Augusta Raurica), Nyon (Iulia Equestris) und (ab 70) Avenches (Aventicum) den höheren Status einer Kolonie, Rottweil (Arae Flaviae) den eines Municipiums. Zu welcher civitas die Provinzhauptstadt Mainz (Mogontiacum) gehörte, ist wie der Rechtsstatus der Stadt selbst bislang unbekannt. Es wird darüber spekuliert, ob die im Umfeld siedelnden Aresaken (ein Teilstamm der Treverer) eine eigenständige civitas bildeten, oder ob das Gebiet um Mainz unter militärischer Verwaltung war und damit direkt dem Statthalter unterstand. Wie die Gebiete im nördlichsten Teil der Germania superior – dem Bereich um Koblenz (Confluentes) – verwaltungstechnisch gegliedert waren, ist ebenfalls unbekannt.
Statthalter
BearbeitenLiteratur
Bearbeiten- Dietwulf Baatz, Fritz-Rudolf Herrmann (Hrsg.): Die Römer in Hessen. 2. Auflage. Theiss, Stuttgart 1989, ISBN 3-8062-0599-X.
- Tilmann Bechert u. a. (Hrsg.): Orbis Provinciarum. Die Provinzen des römischen Reiches. Einführung und Überblick. Philipp von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2399-9, S. 191–198.
- Maureen Carroll: Römer, Kelten und Germanen. Leben in den germanischen Provinzen Roms. Theiss, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1762-9.
- Heinz Cüppers (Hrsg.): Die Römer in Rheinland-Pfalz. Theiss, Stuttgart 1990, ISBN 3-8062-0308-3.
- Philipp Filtzinger (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. 3. Auflage. Theiss, Stuttgart 1986, ISBN 3-8062-0287-7.
- Philipp Filtzinger: Die Römer in Baden-Württemberg. In: Meinrad Schaab, Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.) u. a.: Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Band 1: Allgemeine Geschichte. Teil 1: Von der Urzeit bis zum Ende der Staufer. Hrsg. im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Klett-Cotta, Stuttgart 2001, ISBN 3-608-91465-X.
- Thomas Fischer: Die Römer in Deutschland. Theiss, Stuttgart 1999, ISBN 3-8062-1325-9.
- Andres Furger: Die Schweiz zur Zeit der Römer. Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2001, ISBN 3-85823-809-0.
- Andreas Kakoschke: Die Personennamen in den zwei germanischen Provinzen. Ein Katalog. Band 1. Gentilnomina Abilius – Volusius. Leidorf, Rahden/Westf. 2006, ISBN 3-89646-032-3. Band 2,1. Cognomina Abaius – Lysias. Ebenda, 2007, ISBN 978-3-89646-033-2. Band 2,2. Cognomina Maccaus – Zyascelis. Ebenda, 2008, ISBN 978-3-89646-042-4.
- Margot Klee: Germania Superior. Eine römische Provinz in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Friedrich Pustet, Regensburg 2013, ISBN 978-3-7917-2367-9.
- Wolfgang Spickermann: Religionsgeschichte des römischen Germanien. Band 1: Germania superior. (= Religion der römischen Provinzen. Band 2). Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 3-16-146686-1.
Weblinks
Bearbeiten- Regula Frei-Stolba: Germania Superior. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Kleinstädte in der Provinz Germania Superior im Norden und Süden, Museum für Antike Schifffahrt
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Erste inschriftliche Erwähnung der Provinz in einem Militärdiplom vom 27. Oktober 90 (CIL 16, 36).
- ↑ Angelika Hunold: Der römische vicus von Alzey. (= Archäologische Schriften des Instituts für Vor- und Frühgeschichte der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 5. Band). Mainz, 1997, ISBN 3-928957-04-X.
- ↑ Helmut Bernhard u. a.: Der römische Vicus von Eisenberg. Ein Zentrum der Eisengewinnung in der Nordpfalz. (= Archäologische Denkmäler in der Pfalz. 1. Band). Germersheim 2008, ISBN 978-3-936113-02-0.
- ↑ Mathias Faul: Ein bislang unbekannter vicus in der Nordpfalz. In: Berichte zur Archäologie in Rheinhessen und Umgebung. 1. Band, Mainz 2008, S. 30–34.
- ↑ Carsten Wenzel: Groß-Gerau I. Der römische Vicus von Groß-Gerau, „Auf Esch“. Die Baubefunde des Kastellvicus und der Siedlung des 2.–3. Jahrhunderts. (= Frankfurter Archäologische Schriften. 9). Habelt, Bonn 2009, ISBN 978-3-7749-3637-9.
- ↑ Wolfgang Czysz: Heldenbergen in der Wetterau. Feldlager, Kastell, Vicus. (= Limesforschungen. 27). Mainz 2003, ISBN 3-8053-2834-6.
- ↑ Tacitus: Germania 29 (lateinischer Text).
Koordinaten: 49° N, 8° O