Gordon M. Shepherd
Gordon Murray Shepherd (* 21. Juli 1933 in Ames, Iowa, USA;[1] † 9. Juni 2022 in New Haven, Connecticut, USA)[2] war ein US-amerikanischer Neurowissenschaftler, der experimentelle und computergestützte Grundlagenforschung (Modellbildung und Simulationen) betrieb. Seine Forschung konzentrierte sich darauf, wie Neuronen in Mikroschaltkreisen organisiert sind, um die Funktionen des Nervensystems zu erfüllen. Als Modell diente das Riechsystem, das sich über mehrere räumlichen, zeitlichen und fachlichen Ebenen erstreckt. Seine Studien reichten von molekularen bis hin zu verhaltensbiologischen Aspekten, was durch eine jährliche Vorlesung an der Yale University über „Integrative Neurowissenschaften“ anerkannt wurde. Zum Zeitpunkt seines Todes war er emeritierter (in den Ruhestand versetzter) Professor für Neurowissenschaften an der Yale School of Medicine.
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Ausbildung
BearbeitenShepherd schloss sein Studium an der Iowa State University mit einem BA (Bachelor of Arts), an der Harvard Medical School mit einem MD (Medical Degree) und an der University of Oxford mit einem DPhil ab.
Werk
BearbeitenIm Rahmen seiner Dissertation über die Elektrophysiologie des Riechkolbens (Bulbus olfactorius) erstellte Gordon M. Shepherd 1963 eines der ersten Diagramme eines Mikroschaltkreises im Gehirn. Darauf aufbauend konstruierte er am National Institute of Health (NIH) zusammen mit Wilfrid Rall, der damals das neue Gebiet der „Computational Neuroscience“ begründete, die ersten Computermodelle von Gehirnneuronen: der Mitralzelle und der Körnerzelle im Riechkolben, der ersten Umschaltstelle für die Signale der Riechsinneszellen. Die Modelle prognostizierten bis dato unbekannte dendritische Interaktionen (Dendrodendriten) zwischen zwei Typen von Neuronen, den Mitral- und Körnerzellen. Spätere elektronenmikroskopische Untersuchungen bestätigten diese Interaktionen. Daraus ergab sich die Hypothese, dass die Interaktion zwischen den Dendriten (1) eine laterale Hemmung bei der Verarbeitung sensorischer Reize vermittelt und (2) eine oszillatorische Aktivität erzeugt, die an der Geruchsverarbeitung beteiligt ist. Die Prognose implizierte die Existenz aktiver Eigenschaften in den Dendriten, was durch spätere Untersuchungen bestätigt wurde. Infolgedessen berücksichtigt das Modell nicht-topographische Interaktionen im gesamten Riechkolben. Die Arbeit wurde in die Reihe „Essays on APS [American Physiological Society] Classic Papers“ aufgenommen.[3] Die Zusammenarbeit von Wilfrid Rall und Gordon M. Shepherd, die 1968 im Journal of Neurophysiology veröffentlicht wurde, wird als der Höhepunkt dieser Art von Forschung innerhalb der „Computational Neuroscience“ gesehen.[4] Im Gegensatz zu früheren Arbeiten, die einen konzeptionellen Rahmen lieferten, wagt sich diese Arbeit an die komplexen Strukturen eines spezifischen Systems, des Riechkolbens.
Shepherd ging dann der Frage nach, wie Gerüche im Gehirn repräsentiert werden. Mit Hilfe des damaligen bildgebenden medizinischen Verfahrens, der 2-Deoxy-D-glucose (2DG)-Autoradiographie, konnte erstmals gezeigt werden, dass Gerüche durch unterschiedliche räumliche Aktivitätsmuster in den Glomeruli des Riechkolbens, ein Nervenknäuel geformt von Verbindungen zwischen hauptsächlich Riechsinneszellen und Mitralzellen, kodiert werden.[5] Dabei zeigte sich, dass die neuronale Grundlage des Geruchssinns bei Wirbeltieren in der Repräsentation von Gerüchen durch glomeruläre Aktivitätsmuster („Geruchsbilder“) besteht, die dann von den weit verteilten Mikroschaltkreisen des Riechkolbens verarbeitet werden. Zu den geruchsinduzierten Mustern gehörte ein „modifizierter Glomerularkomplex“, der erste eines Untersystems von spezifischen Glomeruli im Riechkolben.[6]
Das Labor von Shepherd benutzte den Riechkolben als allgemeines Modell für die integrativen Aktivitäten neuronaler Dendriten. Es wurde dargestellt, dass Dendriten mehrere Recheneinheiten enthalten können, dass Aktionspotentiale, die sich rückwärts in Dendriten ausbreiten, spezifische funktionelle Operationen ausführen und dass dendritische Dornen als unabhängige Input-Output-Einheiten fungieren können. Sein Labor lieferte auch einen Grundschaltkreis für den Geruchscortex im Gehirn. Im Zuge dieser Forschung wurden neue Konzepte entwickelt, um die klassische „Neuronen-Doktrin“ zu ersetzen, und der Begriff „Mikroschaltkreis“ wurde eingeführt, um spezifische Muster synaptischer Interaktionen im Nervensystem zu charakterisieren. Diese und weitere neue Prinzipien der neuronalen Organisation wurden 1974 in dem Buch „The Synaptic Organization of the Brain“ zusammengefasst, welches fünf Auflagen erlebte und bei Google Scholar >2700 Mal zitiert wurde.[7]
Shepherds Studien zur Geruchsbildgebung wurden durch den Einsatz der funktionellen Hochfeld-MRT (7 und 9 Tesla) erweitert, eine Arbeit, die in Kooperation mit seinem langjährigen Kollegen Charles Greer und Mitgliedern des Yale University Imaging Center durchgeführt wurde. Das Labor hat virale Tracing-Methoden eingeführt, um weit verstreute Cluster von Körnerzellen aufzudecken, von denen man annimmt, dass sie für die Verarbeitung der verteilten Glomeruli, die durch Geruchsreize aktiviert werden, notwendig sind. Die gewonnenen experimentellen Daten dienten der Erstellung neuartiger 3D-Computermodelle der verteilten Mitral- und Körnerzellen-Schaltkreise, um einen detaillierten Einblick in die Art der Verarbeitung zu erlangen, die der Geruchswahrnehmung zugrunde liegt.[8]
Shepherds Labor, das experimentelle und computergestützte Grundlagenforschung kombiniert, gehörte zu der ersten Gruppe von Wissenschaftlern, die 1993 in das US-amerikanische Human Brain Project aufgenommen wurden.[9] Das Ergebnis ist die Website „The SenseLab“, die eine Reihe von verschiedenen Neuroinformatik Datenbanken zur Unterstützung der Forschung über Geruchsrezeptoren, Geruchskarten, neuronale und dendritische Eigenschaften sowie neuronale und Mikroschaltkreismodelle enthält.[10][11]
Weitere Aktivitäten
BearbeitenShepherd zeichnete sich dadurch aus, dass er in der Lage war, Forschungsansätze zu bündeln, so dass neue Theorien aufgestellt werden konnten. Das Riechsystem hat viele funktionelle Eigenschaften mit anderen Sinnessystemen wie Hören und Sehen gemeinsam, ist aber organisatorisch einzigartig, da Hören und Sehen wellenlängenabhängig sind. Die Frage für das Riechsystem war daher, welche Eigenschaft von Gerüchen die Grundlage für die Verarbeitung der Geruchswahrnehmung bildet. Dieses grundlegende Problem wurde durch die Simulation der molekularen Wechselwirkungen zwischen Geruchsmolekülen und den neu entdeckten Geruchsrezeptoren angegangen. Es wurden „Determinanten“ (ähnlich den Epitopen in der Immunologie) auf den Geruchsmolekülen identifiziert, die bestimmte Stellen auf den Rezeptoren, die Duftstoffe binden und die 2004 von Linda Buck und Richard Axel entdeckt wurden, aktivieren, um die Identität des Geruchsmoleküls zu kodieren.[12]
In einem seiner anderen Projekte unternahm Shepherd den Versuch, den Begriff sowie die damit assoziierten Sinneseindrücke von Geschmack präziser zu definieren.[13] Dies führte 2015 zu einem neuen Forschungsbereich, nämlich die „Neurogastronomie“, der auf seinem gleichnamigen Buch basiert ist[14] und einer neuen wissenschaftlichen Gesellschaft, die International Society of Neurogastronomy (ISN), die erstmals von der National Institute of Deafness and Other Communication Disorders (NIDCD), Teil der National Institutes of Health (NIH) gefördert wurde. Shepherd wendete dieselben Prinzipien auf die Weinverkostung an, die er als „Neuroenologie“ bezeichnete.[15]
Würdigungen
Bearbeiten- 1999: Ehrendoktorat, Universität Kopenhagen
- 2006: Ehrendoktorat, Universität Pavia
- 2006: Fellow of the American Academy of Arts and Sciences[16]
- 2007: Fellow of the American Association for the Advancement of Science
- 2015: Award of Excellence, International Society of Neurogastronomy[17]
- 2016: Krieg Lifetime Achievement Award, Cajal Club[18]
Buchveröffentlichungen
BearbeitenAls Verfasser
Bearbeiten- 1974: The Synaptic Organization of the Brain.[19]
- 1983: Neurobiology.[20]
- 1991: Foundations of the Neuron Doctrine.[21]
- 2010: Creating Modern Neuroscience: The Revolutionary 1950s.[22]
- 2011: Neurogastronomy: How the Brain Creates Flavor and Why It Matters.[14]
- 2016: Neuroenology: How the Brain Creates the Taste of Wine.[15]
Als Redakteur/Verfasser
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Charles A. Greer, Stuart J. Firestein: Gordon Murray Shepherd (1933–2022). Nature Neuroscience, Nr. 25, 2022, S. 1119, PMID 35902651.
- ↑ In Memoriam: Gordon Murray Shepherd, MD, DPhil. Yale School of Medicine, 10. Juni 2022, abgerufen am 16. Februar 2025 (englisch).
- ↑ Idan Segev: What do dendrites and their synapses tell the neuron? In: J Neurophysiol. Band 95, Nr. 3, 2006, S. 1295, PMID 16492941.
- ↑ Wilfrid Rall, Gordon M Shepherd: Theoretical reconstruction of field potentials and dendrodendritic synaptic interactions in olfactory bulb. In: J Neurophysiol. Band 31, Nr. 6, 1968, S. 884, PMID 5710539.
- ↑ Frank R Sharp, John S Kauer, Gordon M Shepherd: Local sites of activity-related glucose metabolism in rat olfactory bulb during olfactory stimulation. In: Brain Res. Band 98, Nr. 3, 1975, S. 596, PMID 1182541.
- ↑ Larry R Squire: Gordon M. Shepherd. In: The History of Neuroscience in Autobiography. 7. Auflage. Vol 7. Oxford Academic, 2011, S. 644–703, doi:10.1093/acprof:oso/9780195396133.003.0015.
- ↑ Gordon M Shepherd: The Synaptic Organization of the Brain. 5. Auflage. Oxford Press, New York 2004, ISBN 978-0-19-515956-1, doi:10.1093/acprof:oso/9780195159561.001.1.
- ↑ Michele Migliore, Gordon M Shepherd: Dendritic action potentials connect distributed dendrodendritic microcircuits. In: J Comput Neurosci. Band 24, Nr. 2, 2008, S. 207, PMID 17674173.
- ↑ Michael F Huerta, Stephen H Koslow, Alan I Leshner: The human brain project: an international resource. In: Trends in Neuroscience. Band 16, Nr. 11, 1993, S. 436, doi:10.1016/0166-2236(93)90069-x, PMID 7507612.
- ↑ Robert A McDougal, Gordon M Shepherd, Michael Hines, Ted Carnevale, Thomas M Morse, Luis Marenco, Rixin Wang, Michele Migliore, Chiquito Crasto: The SenseLab. Abgerufen am 13. Februar 2025 (englisch).
- ↑ G M Shepherd, J S Mirsky, M D Healy, M S Singer, E Skoufos, M S Hines, P M Nadkarni, P L Miller: The Human Brain Project: neuroinformatics tools for integrating, searching and modeling multidisciplinary neuroscience data. In: Trends Neurosci. Band 21, Nr. 11, 1998, S. 460, PMID 9829685.
- ↑ Gordon M Shepherd: Outline of a Theory of Olfactory Processing and its Relevance to Humans. In: Chemical Senses. Band 30, 2005, doi:10.1093/chemse/bjh085, PMID 15738168.
- ↑ Gordon M Shepherd: Smell images and the flavour system in the human brain. In: Nature. 7117. Auflage. Nr. 444, 2006, S. 316, doi:10.1038/nature05405, PMC 17108956 (freier Volltext).
- ↑ a b Gordon M Shepherd: Neurogastronomy: How the Brain Creates Flavor and Why It Matters. Columbia University Press, New York 2011, doi:10.7312/shep15910.
- ↑ a b Gordon M Shepherd: Neuroenology: How the Brain Creates the Taste of Wine. Columbia University Press, 2017, doi:10.7312/shep17700.
- ↑ Book of Members 1780–present, Chapter S. (PDF; 1,5 MB) In: amacad.org. American Academy of Arts and Sciences, abgerufen am 16. Februar 2025 (englisch).
- ↑ The International Society of Neurogastronomy,: Symposium Program, Lexington, Kentucky, USA. Abgerufen am 13. Februar 2025.
- ↑ Cajal Club, established 1947: Krieg Lifetime Achievement Award. Abgerufen am 13. Februar 2025.
- ↑ Gordon M Shepherd: The Synaptic Organization of the Brain. 4. Auflage. Oxford University Press, 2004, ISBN 978-0-19-515956-1.
- ↑ Gordon M Shepherd: Neurobiology. 3. Auflage. 1994, ISBN 978-0-19-508843-4.
- ↑ Gordon M Shepherd: Foundations of the Neuron Doctrine: 25th Anniversary Edition. 2. Auflage. Oxford University Press, 2015, ISBN 978-0-19-025938-9.
- ↑ Gordon M Shepherd: Creating Modern Neuroscience: The Revolutionary 1950s. Oxford University Press, 2009, ISBN 978-0-19-539150-3.
- ↑ Idan Segev, John Rinzel, Gordon M Shepherd: The theoretical foundation of dendritic function: selected papers of Wilfried Rall with commentaries. The MIT Press, 2003, ISBN 978-0-262-51546-7.
- ↑ Gordon M Shepherd, Sten Grillner: Handbook of Brain Microcircuits. 2. Auflage. Oxford University Press, 2018, ISBN 978-0-19-063611-1.
- ↑ Marcus E Raichle, Gordon M Shepherd: Angelo Mosso's Circulation of Blood in the Human Brain. Oxford University Press, 2014, ISBN 978-0-19-935898-4.
Personendaten | |
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NAME | Shepherd, Gordon M. |
ALTERNATIVNAMEN | Shepherd, Gordon Murray (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | US-amerikanischer Neurowissenschaftler |
GEBURTSDATUM | 21. Juli 1933 |
GEBURTSORT | Ames, Iowa, USA |
STERBEDATUM | 9. Juni 2022 |
STERBEORT | New Haven, Connecticut, USA |