Das Hildesheimer Orationale ist ein Werk der ottonischen Buchkunst und zählt zu den Hauptwerken dieser Epoche. Die Pergamenthandschrift mit den Maßen 22 × 16,5 cm, die auf 96 Blättern Lesungen und Gebete für Messfeier und Stundengebet enthält, war vermutlich ein Auftragswerk Heinrichs II. (Regierungszeit 1002–1024) für den Hildesheimer Dom, den dieser im März 1013 besuchte und dabei auch mit anderen Stiftungen versah. Die Bebilderung von vier doppelseitigen Miniaturen, sechs Initialseiten und zahlreichen kleineren Schmuckinitialen wird der sogenannten Liuthargruppe oder den von dieser abhängigen „Schulhandschriften“ innerhalb der Reichenauer Malerschule zugerechnet. Die Buchdeckel aus Eichenholz sind zeitgleich mit dem Buchblock gefertigt und zeigen Spuren einstiger Schmuckbeschläge.

Das Orationale ist seit dem 18. Jahrhundert in der Hildesheimer Dombibliothek nachgewiesen, wo es noch heute aufbewahrt wird (Signatur: Hs 688). Liturgische Nachträge des 14. und 15. Jahrhunderts im Buch beweisen eine Verwendung am Hildesheimer Dom schon im ausgehenden Mittelalter. Für die Hildesheimer Bestimmung von Anfang an spricht schon das Bildkonzept des Reichenauer Malers mit den Doppelminiaturen zur Aufnahme Mariens in den Himmel und zum Allerheiligenfest, mit denen Patrozinium wie auch Kirchweihe des damaligen Hildesheimer Doms herausgehoben sind. Der harfenspielende David in der Miniatur zu Allerheiligen soll möglicherweise für den schenkenden Herrscher stehen, der um Aufnahme in die himmlische Gebetsgemeinschaft bittet. Eine Hildesheimer Bestimmung lässt die Frage nach einer möglichen Verbindung der Kunst Bischof Bernwards von Hildesheim mit dem Reichenauer Skriptorium zu.

Das Hildesheimer Orationale wurde gemeinsam mit dem Wolfenbütteler Perikopenbuch in der gleichen Werkstatt gebunden. Malerisch wie paläographisch steht es weiter dem Münchner Evangeliar Ottos III., dem Perikopenbuch Heinrichs II. und der Bamberger Apokalypse besonders nahe, die sämtlich von der UNESCO in die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen worden sind.

Literatur

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  • Walter Gernsheim: Die Buchmalerei der Reichenau. Diss. München 1934
  • Hartmut Hoffmann: Buchkunst und Königtum im ottonischen und frühsalischen Reich. (Schriften der MGH 30,1-2) Stuttgart 1986, S. 321.
  • Rainer Kahsnitz: Koimesis – dormitio – assumptio. Byzantinisches und Antikes in den Miniaturen der Liuthargruppe. In: Festschrift Carl Nordenfalk. Stockholm 1987, S. 91–122
  • Henry Mayr-Harting: Ottonische Buchmalerei. Liturgische Kunst im Reich der Kaiser, Bischöfe und Äbte. Stuttgart, Zürich 1991, S. 401–406
  • Die Handschriften der Dombibliothek zu Hildesheim. Teil 1. Beschrieben von Marlis Stähli, Helmar Härtel u. a. (Mittelalterliche Handschriften in Niedersachsen Bd. 8–9) Wiesbaden 1991–1993, S. 129–147
  • Alois Schütz: Das Kloster Seeon und sein Skriptorium. In: Mittelalterliche Schreibkunst aus dem Kloster Seeon. Hrsg. J. Kirmeier, A. Schütz u. a. (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 28/94). Augsburg 1994. S. 15–110.
  • Rainer Kahsnitz: Coronas aureas in capite, Zum Allerheiligenbild des Reichenauer Kollektars in Hildesheim. In: Festschrift U. Nilgen. St. Ottilien 1997, S. 61–97
  • Irmgard Siede: Zur Buchmalerei der ottonischen und salischen Zeit. Kritische Anmerkungen zum Forschungsstand mit einer Zusammenstellung wichtiger Publikationen 1963-1999. In: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 52/3 1998/9, S. 151–196.
  • Bernhard Gallistl: Ein Herrscherbild im Reichenauer Orationale der Hildesheimer Dombibliothek? . In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 23/1998, 97–131
  • Gude Suckale-Redlefsen: Das Buch mit sieben Siegeln. Hrsg. G. Suckale-Redlefsen und B. Schemmel. Ausstellungskatalog Bamberg. Luzern 2000, S. 93–100.
  • Patricia Engel, Bernhard Gallistl: Die Reichenauer Handschriften der Dombibliothek Hildesheim und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Vergleich. In: Wolfenbütteler Beiträge 15 (2009), S. 129–178
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