INA-Casa
INA-Casa war ein wohnungspolitischer Aufbauplan des italienischen Staates, der zwischen 1949 und 1963 in Kraft war. Vom Arbeitsminister Amintore Fanfani vorgelegt, wurde er auch als Fanfani-Plan bekannt. Mit ihm wurden in ganz Italien Wohngebäude mit öffentlichen Mitteln errichtet. Das Programm wurde von einer Sonderorganisation der Nationalen Versicherungsanstalt Istituto Nazionale delle Assicurazioni (INA), der INA-Casa Management (Italienisch: La gestione INA-Casa), verwaltet.
Geschichte
BearbeitenDer Einstieg erfolgte mit dem Gesetz Nr. 43 vom 28. Februar 1949.[1] Der Plan sah ursprünglich eine Laufzeit von sieben Jahren vor, wurde jedoch später auf der Grundlage des Gesetzes Nr. 1148 vom 26. November 1955 um weitere sieben Jahre verlängert, beginnend am 1. April 1956. Nach Auslaufen ging es 1963 mit dem Gescal-Fonds weiter.
INA-Casa zielte neben der Wiederbelebung der Bautätigkeit auch auf die Arbeitsbeschaffung für Arbeitslose und den Bau von Wohnungen für Familien mit niedrigem Einkommen ab. Der Plan basierte auf keynesianischen Wirtschaftstheorien und Mitteln des Marshallplans, mit einer Komponente christlich-demokratischer Solidarität auf Italien übertragen[2].
Die ersten Pläne wurden von Adalberto Libera (der das Büro bis 1952 leitete)[3] in Zusammenarbeit mit Giuliana Genta ausgearbeitet.[4]
Baustil
BearbeitenDer Architekt und Designer Giò Ponti kritisierte den Plan und seine Architektur anfangs als zu uniform, aber die Mehrheit der besten Architekten der Zeit beteilgte sich an den Projekten: Irenio Diotallevi, Mario Ridolfi, Michele Valori, Giorgio Raineri, Roberto Gabetti, Carlo Aymonino, Franco Albini, das Büro BBPR, Enrico Castiglioni, Ignazio Gardella, Luigi Carlo Daneri, Figini und Pollini, Ettore Sottsass, Italo Insolera und Enea Manfredini. Beteiligt war zudem eine Vielzahl von Fachleuten, zu denen neben Architekten auch Stadtplaner, Ingenieure und Vermessungsingenieure gehörten. Sie wirkten an der Entstehung vieler beliebter Viertel mit, die über ganz Italien verstreut sind[5].
Die bauliche Umsetzung folgte präzisen Vorgaben, die von der damals in Italien vorherrschenden architektonischen Richtung, dem architektonischen Neorealismus, geprägt waren. Die Vorgaben griffen bauliche Traditionen auf und führten zu einer Neuinterpretation des Rationalismus. Das betraf die kompositorische Kohärenz von Materialien, technologische Entscheidungen, architektonische Details, die soziologischen und psychologischen Interpretationen der gebauten Umwelt und des architektonischen Raums. Ein weiteres Element war der Einsatz örtlicher und kleiner Unternehmen, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten[5].
Das Programm eröffnete ein Experimentierfeld mit „neorealistischen“ Theorien und brachte Viertel von großem architektonischen Wert hervor, wie das Tiburtino-Viertel in Rom (Gruppenleiter Ridolfi und Quaroni), das Spine Bianche-Viertel in Matera (Michele Valori und Carlo Aymonino) oder Villaggio del Sole in Vicenza. Mit dem Villaggio San Marco in Mestre wurde versucht, die typisch venezianische Stadtanlage auf dem Festland nachzubilden. Auf den Baustellen betätigten sich auch kleine Handwerksbetriebe mit begrenzter fachlicher Spezialisierung und geringer Industrialisierung.
Dies zusammen prägte den italienischen Rationalismus nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen spezifischen Merkmalen. Er tarierte das Spannungsfeld aus zwischen Tradition und Moderne, zwischen historischer Interpretation und Funktionalität[5]. So war es zumindest bis in die sechziger Jahre, als die INA-Casa-Periode endete und durch die Gescal–Verwaltung und nachfolgende Gesetze für den öffentlichen Wohnungsbau abgelöst wurde. Die INA-Casa-Viertel unterscheiden sich von später gebauten Vierteln und stellen eine handwerkliche, städtebauliche und architektonische Qualität des 20. Jahrhunderts dar[2].
Keramikfliesen als Hauszeichen
BearbeitenIm Jahr 1952 hatte der damalige Vorstandsvorsitzende von INA-Casa, Arnaldo Foschini, die Idee, zur Unterscheidung der in den verschiedenen Städten errichteten Gebäude Künstler einzubeziehen und polychrome Keramikfliesen auszuschreiben. Dafür fand am 30. Juni desselben Jahres ein nationaler Wettbewerb statt. Er umfasste 23 Projekte von ebenso vielen Künstlern: von Enzo Assenza, Alberto Burri, Arnaldo Bruschi, Serena Boselli, Duilio Cambellotti, Cosimo Carlucci, Pietro Cascella, Anna Maria Cesarini Sforza, Piero Dorazio, Antonino Fernando De Santo, Graziella Dall'Osteria, Pietro De Laurentiis, Mario Giampieri, Leoncillo Leonardi, Publio Morbiducci, Adolfo Marini, Giorgio Pianigiani, Fausto Saroli, Guerrino Tramonti, Luigi Venturini, Maurizio Vitale und Raoul Vistoli[6].
In den folgenden Jahren kamen weitere Künstler hinzu, wie die Keramikerin Irene Kowaliska, obgleich sie nicht in der Wettbewerbsliste aufgeführt ist. Andere teilnehmende Künstler hatten Verbindungen zu Keramikfabriken, den Herstellern der Fliesen, deren Maße in Höhe und Breite gleich sein sollten. Auf den Fliesen sind Katzen, Vögel im Nest, Eichhörnchen, Schnappschüsse aus dem Familienleben, alltägliche Haushaltsgegenstände, Lebensmittel, Abbildungen eines Gebäudeteils und manchmal auch abstrakte monochromatische und geometrische Hintergründe abgebildet. Alle Fliesen sind mit dem Text „INA Casa“ am unteren Rand, entweder vollständig oder als Monogramm, versehen.[7]
Statistik
BearbeitenDer zügig umgesetzte Plan zeitigte erhebliche Effekte im wirtschaftlichen und sozialen Leben des Landes. Bereits wenige Monate nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde im Sommer 1949 die erste Baustelle eröffnet, im Herbst desselben Jahres waren es schon 650. Die INA-Casa-Organisationsstruktur ermöglichte ein äußerst effizientes Bautempo. Nach vollständiger Implementierung wurden etwa 2.800 Wohneinheiten pro Woche produziert.
In den ersten sieben Jahren wurden insgesamt 334 Milliarden Lire in den Bau von 735.000 Zimmern, das entspricht 147.000 Wohnungen, investiert. Am Ende der vierzehnjährigen Laufzeit des Plans waren insgesamt etwa 2.000.000 Räume geschaffen, in 355.000 Wohnungen in über 5.000 italienischen Gemeinden[8]. Insgesamt wurden durch den INA-Casa-Plan 20.000 Baustellen durchgeführt und rund 41.000 Bauarbeiter pro Jahr beschäftigt.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ LEGGE 28 febbraio 1949, n. 43 Provvedimenti per incrementare l'occupazione operaia, agevolando la costruzione di case per lavoratori. (GU Serie Generale n.54 del 07-03-1949). Abgerufen am 15. Januar 2025 (italienisch).
- ↑ a b Il piano INA-Casa: 1949-1963. In: treccani.it (Italienische Enzyklopädie). Abgerufen am 19. Januar 2025 (italienisch).
- ↑ Ina-case, quando l’utopia divenne (quasi) realtà. In: La Stampa. 20. Februar 2013, abgerufen am 9. März 2018 (italienisch).
- ↑ Andrea Bruschi: La memoria del progetto: per un archivio dell'architettura moderna a Roma. Gangemi, 2006, ISBN 978-88-492-1183-2, S. 70–71 (italienisch, google.com).
- ↑ a b c Paola Di Biagi: La grande ricostruzione. Il piano INA-casa e l’Italia degli anni Cinquanta, Donzelli editore (italienisch).
- ↑ Luca Rocchi: Le targhe INA Casa. Arte diffusa come segno distintivo dei piani di ricostruzione: esempi e protagonisti in Emilia-Romagna, Atti e Memorie, serie V, vol. I - Deputazione Ferrarerese di Storia Patria, S. 183–199 (italienisch).
- ↑ INA Casa ceramic tiles: a widespread architectural, artistic and social patrimony. In: heritage.generali.com. 1. November 2019, abgerufen am 18. Januar 2025 (englisch, italienisch).
- ↑ Luigi Beretta Anguissola: I 14 anni del piano INA-Casa, Staderini, Roma, S. 43–44, 66–67, 159–165 (italienisch).
Literatur
Bearbeiten- Stephanie Zeier Pilat: Reconstructing Italy: The Ina-Casa Neighborhoods of the Postwar Era (Ashgate Studies in Architecture). Routledge, 2009, ISBN 978-1-4094-6580-5 (englisch, umich.edu).
- Rosalia Vittorini: Reconstructing housing and communities: the ina-Casa Plan. (englisch, docomomojournal.com).
- Clara Corsetti: Il piano INA-Casa. In: Pandora Rivista. (italienisch, pandorarivista.it [abgerufen am 18. Januar 2025]).
- Paola Di Biagi (a cura di), La grande ricostruzione. Il Piano Ina-Casa e l'Italia degli anni '50, Donzelli editore, Roma, 2001 - ISBN 887-9896563
- Margherita Guccione, Maria Margarita Segarra Lagunes, Rosalia Vittorini (a cura di), Guida ai quartieri romani INA-Casa, Gangemi editore, Roma, 2002 - ISBN 978-88-492-0239-7
- Omar Ottonelli (a cura di), Il piano Fanfani INA-Casa: una risposta ancora attuale, Polistampa, Firenze, 2013 - ISBN 978-88-596-1313-8
- Sara Bardini, C'era una volta il Petriccio, Betti editore, Siena, 2024 - ISBN 978-88-757-6873-7
Weblinks
Bearbeiten- Lana INA Casa Bilder - Erzählungen - Tägliches Leben. In: meraner.eu (Meraner Stadtanzeiger). 27. November 2023, abgerufen am 18. Januar 2025.
- INA Casa ceramic tiles: a widespread architectural, artistic and social patrimony. In: heritage.generali.com. 1. November 2019, abgerufen am 18. Januar 2025 (englisch, italienisch).