Krätzä

Organisation
(Weitergeleitet von K.R.Ä.T.Z.Ä.)

Krätzä bzw. K.R.Ä.T.Z.Ä. (steht für das Kunstwort KinderRÄchTsZÄnker) ist ein seit 1992 bestehendes Kinderrechteprojekt in Berlin-Prenzlauer Berg, das seit 2007 kaum mehr mit Aktivitäten auftritt. K.R.Ä.T.Z.Ä. ist die Organisation im deutschsprachigen Raum, die die Forderung nach Gleichberechtigung zwischen Kindern und Erwachsenen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt und davon ausgehend Positionen in den Bereichen politische Mitbestimmung, Schule, Familie und Jugendschutz entwickelt hat. Mitglieder von K.R.Ä.T.Z.Ä. sind bzw. waren Jugendliche, Heranwachsende und Studierende. Im Jahr 2016 besteht die kleine Initiative aus wenigen inzwischen Erwachsenen noch fort. Aktionen erfolgten bis 2007.

Logo K.R.Ä.T.Z.Ä.

Ziele und Leistungen

Bearbeiten

Krätzä hat zahlreiche öffentlichkeitswirksame Aktionen durchgeführt und sich in vielen unterschiedlichen Formen an die Öffentlichkeit gewandt: Krätzä hat Broschüren, Plakate, Berichte, Postkarten, Flugblätter, Pressemitteilungen, die eigene Zeitschrift Regenbogen, Wahlkampfplakate, Zeitungs-Sonderausgaben, Grundsatztexte, Aufkleber, Großplakate und Filme herausgebracht und veranstaltete teils internationale Exkursionen, Seminare sowie Informationstage und hielt Vorträge. Krätzä organisierte Ausstellungen und Konferenzen, strengte Gerichtsverfahren zur Durchsetzung von Kinderrechten an, daruntern zweimal vor dem Bundesverfassungsgericht. Außerdem organisierte Krätzä Demonstrationen, Pressekonferenzen und Kampagnen. Krätzä veröffentlichte den Menschenrechtsreport „Die Diskriminierung des Kindes“. Seit März 1996 hat Krätzä eine eigene Internetseite.

Krätzä tritt für radikale Gleichberechtigung zwischen Kindern und Erwachsenen ein und setzt sich ein für die Ersetzung der Schulpflicht durch ein staatlich garantiertes Recht auf Bildung, für die Einführung des Kinderwahlrechts und für den gleichberechtigten Umgang in der Familie.

Wahlrecht für Kinder

Bearbeiten

KRÄTZÄ war die erste Organisation, die sich für das Wahlrecht ohne Altersgrenze einsetzte. Im Laufe der Jahre schlossen sich andere Organisationen wie die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, das Deutsche Kinderhilfswerk, die Grüne Jugend und JungdemokratInnen/Junge Linke dieser Forderung an. Unterstützt durch Krätzä-Publikationen[1] vertreten mittlerweile auch die Piratenpartei Berlin,[2] die Piratenpartei Sachsen[3] und die Jungen Piraten[4] diese Position.

Verfassungsbeschwerde

Bearbeiten

1995 reichten ein 13- und ein 16-jähriges Krätzä-Mitglied eine Verfassungsbeschwerde ein.[5] Sie kritisierten, dass der Artikel § 38 des Grundgesetzes (Altersgrenze beim Wahlrecht) dem Artikel 20 („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“) widerspreche, da Kinder zum Volk gehörten.[6] Unterstützt wurde die Beschwerde durch zahlreiche Prominente, u. a. Gregor Gysi, Hannelore Elsner, Klaus Hurrelmann und Jens Reich.[7]

Die Beschwerde wurde aus dem formalen Grund abgewiesen, weil die „geltende Jahresfrist […] nicht eingehalten worden ist“:[8] Da der Artikel 38 schon im ersten Grundgesetz von 1949 enthalten war, hätte die Beschwerde spätestens bis 1950 eingereicht werden müssen.

Auf diese Verfassungsbeschwerde wurde später in juristischen Publikationen Bezug genommen.[9][10]

Wahlanfechtung

Bearbeiten

1998 versuchte Krätzä, die vorangegangene Bundestagswahl anzufechten.[11] Argumentiert wurde wie bei der Verfassungsbeschwerde 1995, dass der Artikel 20 GG dem Artikel 38 GG widerspreche, in der Hoffnung, dass sich das Bundesverfassungsgericht nun auch inhaltlich mit dem Argument beschäftigen würde.

Jedoch auch diese Wahlprüfungsbeschwerde wurde 2000 vom Bundesverfassungsgericht verworfen, mit der Begründung

[es ist] von jeher aus zwingenden Gründen als mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verträglich angesehen worden, dass die Ausübung des Wahlrechts an die Erreichung eines Mindestalters geknüpft wird.[12]

Petitions-Kampagne

Bearbeiten

Krätzä unterstützte aktiv die Petitionskampagne Ich will wählen, die mit in einen interfraktionellen Antrag Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an[13] einfloss, initiiert vom FDP-Abgeordneten Klaus Haupt. Der Antrag wurde im Juni 2005 vom Bundestag abgelehnt. In der Lesung wurde die Position von Krätzä durch die PDS-Abgeordnete Petra Pau beschrieben:

„Spannender sind allerdings alle Debatten, die sich wirklich um das Wahlalter drehen. Die einen meinen, eine Absenkung auf 16 Jahre wäre denkbar. Andere plädieren für 14 Jahre. Die Kinderrechtsorganisation ‚KRÄTZÄ‘ aus Berlin wirbt mit guten Gründen für keinerlei Altersbeschränkung. Die ‚Kinderrächtszänker‘, wie sie in Langfassung heißen, argumentieren demokratietheoretisch. Sie plädieren aber auch aus Erfahrung, wenn sie sagen, nur jene, die wählen könnten, würden auch von der Politik ernst genommen. Kinder gehören leider viel zu selten dazu.“

Petra Pau: Rede im Deutschen Bundestag[14]

Thema: Schule

Bearbeiten

Krätzä spricht sich gegen Lernzwang aus, lehnt Schulnoten ab und möchte die Schulpflicht durch ein Recht auf Bildung ersetzen. Krätzä hat dazu beigetragen, das Konzept der Sudbury-Schulen und anderer Demokratischer Schulen im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen.[15] Dies führte zur Entstehung zahlreicher Schulgründungsinitiativen und zur Existenz von mittlerweile acht Demokratischen Schulen in sechs Bundesländern.

Verweigerung des Chemie-Unterrichts

Bearbeiten

Um auf die Beliebigkeit von Lehrplänen aufmerksam zu machen, benachrichtigte 1996 Krätzä-Mitglied Benjamin Kiesewetter seinen Schuldirektor mit einer 5-seitigen Begründung, dass er den Chemie-Unterricht nicht mehr zu besuchen werde.[16] Neben der „Überflüssigkeit der Lerninhalte“ führte er als weitere Gründe an: Verschwendung von Zeit und Kräften und gesundheitsgefährdende und entwicklungsschädigende Unterrichts- und Lernbedingungen.[17] Diese Verweigerung und der folgende Umgang der Schulbehörden fand ein großes Medienecho in Berlin,[18] [19] [20] [21] [22] [23] führte zu ausführlichen Leserbrief-Debatten in Zeitungen und kleinen Anfragen von Parlamentariern an den Senat.[24]

Schüler-Beratung: die Zöglinge

Bearbeiten

2000 gründete Krätzä eine Beratung für Schüler durch Schüler „Die Zöglinge – schüler-macht-gegen-druck“, finanziert mit Mitteln des Förderprogramms Micropolis. Dazu wurden Broschüren und Flyer gedruckt und eine eigene Internetseite aufgesetzt.[25]

Kino-Spot: 50 Jahre Essenspflicht in Deutschland

Bearbeiten

2001 entstand mit Zusammenarbeit von Berliner Filmemachern ein 30-sekündiger Kino-Spot, der mehrere Jahre in kommerziellen Kinos im Werbeblock vor dem Hauptfilm lief. Er beschreibt eine fiktive „Essenspflicht“, die Kinder – analog zur Schulpflicht – verpflichtet, sich in staatlichen Kantinen zu ernähren.[26]

Organisation der IDEC

Bearbeiten

Die 13. International Democratic Education Conference (IDEC) 2005 wurde von Krätzä federführend mitorganisiert.[27] Das Grußwort sprach der damalige Bildungssenator Klaus Böger.[28]

Besuch des UN-Sonderberichterstatters

Bearbeiten

Krätzä gehörte zu den ausgewählten Nichtregierungsorganisationen, die im Februar 2006 beim Deutschland-Besuch des UN-Berichterstatters Vernor Muñoz sprechen und einen Schriftsatz einreichen durften.[29]

Besuch und Dokumentation demokratischer Schulen

Bearbeiten

Zu Beginn der 2000er Jahre haben Krätzä-Mitglieder mehrere Demokratische Schulen besucht, darunter Summerhill und die Democratic School in Hadera. Daraus entstand unter anderem der Film Pretty Cool System – Leben und lernen an der Demokratischen Schule in Hadera.[30]

2006 wurde der auf der IDEC 2005 gedrehte und vom Bundesbildungsministerium mit 30.000 EUR geförderte Film Demokratische Schulen veröffentlicht.[31]

Die zur Jahrtausendwende von mehreren ARD-Sendern ausgestrahlte Sendereihe 100 deutsche Jahre[32] befasst sich in der Folge Leerjare von Claus Strigel mit der Geschichte des deutschen Bildungssystems, in der Krätzä eine wesentliche Rolle spielt.[33]

Thema: Gleichberechtigung in der Familie

Bearbeiten

KRÄTZÄ setzt sich für einen gleichberechtigten Umgang zwischen Kindern und Erwachsenen ein. Der Grundsatztext Erziehen ist gemein[34] ist wichtiger Bezugspunkt der unerzogen-Bewegung.

In den Medien

Bearbeiten

Überregionale Bekanntheit erreichte KRÄTZÄ 1995 durch die Fernseh- und Presse-Berichterstattung über die Verfassungsbeschwerde zum Wahlalter.[35]

Vertreter von KRÄTZÄ waren mehrfach Interviewpartner für Berliner Radiosender, unter anderem als Sendungsgäste der Talksendung Blue Moon von Radio Fritz. Im Jahr 1998 berichtete die große japanische Tageszeitung Asahi Shimbun ausführlich über KRÄTZÄ. In der Ausgabe vom 3. März 2000 berichtete die Berliner Zeitung ausführlich über Krätzä.[36]

1997 entstand ein 45-minütger Dokumentarfilm über KRÄTZÄ für die WDR-Reihe „Menschen hautnah“.[37]

KRÄTZÄ und ihre Forderungen werden in mehreren Schulbüchern erwähnt.[38]

Vernetzung

Bearbeiten

Krätzä war mit anderen Organisationen, die ähnliche Ziele und Absichten verfolgen, vernetzt, wie etwa den Natras (Bewegung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen in Nicaragua). Sie beteiligten sich an Kongressen und Anhörungen im In- und Ausland und wurden 2001 nach Japan zu einem großen Jugendkongress eingeladen.

Auszeichnungen

Bearbeiten
  • Erster Preis (geteilt) Jugend- und Familienstiftung des Landes Berlin, 1998

Schriften

Bearbeiten
  • (Hrsg.): Die Diskriminierung des Kindes – ein Menschenrechts-Report. Eigenverlag, Berlin 1998 (online).[39]
  • Mike Weimann: Wahlrecht für Kinder. Eine Streitschrift. Beltz, Weinheim 2002, ISBN 3-407-56205-5, insbesondere Kapitel 10 (online).
Bearbeiten

Einzelnachweise

Bearbeiten
  1. BE:Kinderwahlrecht. In: Wiki der Piratenpartei. 8. Januar 2010, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  2. Wahlplakat "Wahlrecht für alle Berliner – unabhängig von Alter und Herkunft. In: Wiki der Piratenpartei. September 2011, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  3. Sachsens Piraten fordern Wahlrecht für alle. 20. August 2014, archiviert vom Original am 6. Oktober 2014; abgerufen am 4. Oktober 2014.
  4. Wahlrecht ab Geburt. In: Webseite der Jungen Piraten. Archiviert vom Original am 6. Oktober 2014; abgerufen am 4. Oktober 2014.
  5. Zwei Schüler klagen Wahlrecht ein – Verfassungsgericht soll über Wahlalter entscheiden. In: Pressemitteilung von Krätzä. 23. August 1995, abgerufen am 5. Oktober 2014.
  6. Innere Widersprüche im Grundgesetz? In: Juristische Begründung zur Verfassungsbeschwerde. 25. April 1995, abgerufen am 5. Oktober 2014.
  7. Unterstützerliste der Verfassungsbeschwerde. In: Webseite von Krätzä. 23. August 1995, abgerufen am 5. Oktober 2014.
  8. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. In: Webseite von Krätzä. 8. Januar 1996, abgerufen am 5. Oktober 2014.
  9. Benjamin Kiesewetter, Dürfen wir Kindern das Wahlrecht vorenthalten? in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Band 95, 2009, Heft 2, S. 252–273
  10. Franziska Törring, One Child, one Vote? - Zur Debatte um ein Wahlrecht für Kinder, Diplomarbeit, Freie Universität Berlin, 86 Seiten, 1997
  11. Anfechtung der Bundestagswahl. In: Webseite von Krätzä. 24. November 1998, abgerufen am 6. Oktober 2014.
  12. Rückfrage des Bundesverfassungsgerichts. In: Webseite von Krätzä. 5. Juli 2000, abgerufen am 6. Oktober 2014.
  13. Antrag – Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an. Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1544, 11. September 2003 (PDF; 191 kB).
  14. Plenarprotokoll vom 1. April 2004. In: Deutscher Bundestag. 1. April 2004, abgerufen am 5. Oktober 2014.
  15. Demokratische Schule X – Die Zusammenfassung der Geschichte dieser Schule, wie sie gegründet wurde usw. In: Webseite der EUDEC. Abgerufen am 5. Oktober 2014.
  16. Verweigerung des Chemie-Unterrichts „Bildungsrecht statt Schulpflicht“. In: Webseite von Krätzä. 28. Februar 1996, abgerufen am 6. Oktober 2014.
  17. Anschreiben an den Schulleiter. In: Webseite von Krätzä. 28. Februar 1996, abgerufen am 6. Oktober 2014.
  18. Rebellion gegen „sinnentleerte“ Paukerei. In: Berliner Zeitung. 28. November 1996, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  19. Der Direktor ist jetzt nur noch genervt. In: Berliner Zeitung. 14. Dezember 1996, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  20. Schulverweis aufgehoben. In: Berliner Zeitung. 19. Dezember 1996, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  21. Kommt bald der Unterricht in den Schulen a la Carte? In: Berliner Zeitung. 14. Februar 1997, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  22. Wieviel Chemieunterricht braucht ein Schüler? In: Berliner Zeitung. 15. Februar 1997, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  23. Schul-Rebell gibt nicht auf. In: Berliner Zeitung. 9. April 1997, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  24. Kleine Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus. In: Webseite von Krätzä. 22. November 1996, abgerufen am 6. Oktober 2014.
  25. die zöglinge. In: Webseite zur Beratung. Abgerufen am 6. Oktober 2014.
  26. 50 Jahre Essenspflicht in Deutschland. In: Webseite zum Film. Abgerufen am 6. Oktober 2014.
  27. Gastgeber. In: Webseite zur IDEC 2005. Abgerufen am 6. Oktober 2014.
  28. Grußwort des Senators für Bildung, Jugend und Sport, Klaus Böger. In: Webseite zur IDEC 2005. Abgerufen am 6. Oktober 2014.
  29. Report to the UN Special Rapporteur on the Right to Education. In: Webseite von Krätzä. 19. Februar 2006, abgerufen am 6. Oktober 2014.
  30. Pretty Cool System – Leben und lernen an der Demokratischen Schule in Hadera. In: Webseite zum Film. Abgerufen am 6. Oktober 2014.
  31. Democratic Schools. In: Webseite zum Film. Abgerufen am 4. Oktober 2014.
  32. 100 deutsche Jahre. In: fernsehserien.de. Abgerufen am 6. Oktober 2014.
  33. Claus Strigel: Leerjare – Die Deutschen und die Schule. In: DENKmal-Film. Abgerufen am 16. September 2019.
  34. Erziehen ist gemein. Abgerufen am 4. Oktober 2014.
  35. Schon mit dem Schnuller zur Urne? In: Berliner Zeitung. 24. August 1995, abgerufen am 4. Oktober 2014.
  36. "Erziehen ist gemein". In: Berliner Zeitung. 3. März 2000, abgerufen am 24. Oktober 2014.
  37. Menschen hautnah: Krätzä, Erstsendung: WDR Fernsehen, 24. April 1998
  38. „Die Politik und ich“ Zitat Wahlrecht für Kinder, S. 28 in Dagmar Giersberg, Dieter Maenner, prima B1 – Deutsch für Jugendliche Band 5, Cornelsen Schulverlage GmbH Berlin, 2014, 1. Auflage
  39. Als Sekundärliteratur angeführt bei: Michaela Schmid: Erziehungsratgeber und Erziehungswissenschaft – zur Theorie-Praxis-Problematik populärpädagogischer Schriften (= Klinkhardt Forschung). Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2010, ISBN 978-3-7815-1782-0, S. 395.