Kognitionspflicht
Kognitionspflicht (von lat. cognoscere ,erkennen‘, ,erfahren‘, ,kennenlernen‘) ist ein verfahrensrechtlicher Grundsatz, nach dem ein Gericht den ihm zur Beurteilung vorliegenden Sachverhalt bei der Urteilsfindung in dem gesetzlich vorgesehenen Umfang berücksichtigen muss.
Deutschland
BearbeitenIm deutschen Strafprozessrecht „gebietet“ die Kognitionspflicht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, „dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff (die prozessuale Tat) durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird“ (§ 264 Abs. 1 StPO).[1] Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen.[2] Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlichrechtlichen Mangel dar.[3]
Eine Grenze der Kognitionspflicht ist erst erreicht, wenn das zugrundeliegende Geschehen vollständig verlassen wird und die Identität der angeklagten Tat nicht mehr gewahrt ist.[4] Maßgeblich für die Beurteilung der Identität des geschichtlichen Vorgangs ist die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung.[5]
Macht eine Verwaltungsbehörde eine Tat im verfahrensrechtlichen Sinne zum Gegenstand ihrer bußgeldrechtlichen Untersuchung, so trifft auch sie eine umfassende Kognitionspflicht wie sie der Strafrichter im Strafverfahren zu beachten hat. Der geschichtliche Vorgang ist deshalb erschöpfend im Hinblick auf verwirklichte Bußgeldtatbestände zu untersuchen. Im Falle eines Bußgeldbescheides über die Tat im verfahrensrechtlichen Sinne entsteht bei Rechtskraft gem. § 84 OWiG eine Sperrwirkung hinsichtlich der Verfolgung aller Bußgeldtatbestände, die in der Tat im verfahrensrechtlichen Sinne liegen, unabhängig davon, ob sie seinerzeit erkannt oder übersehen wurden.[6]
Schweiz
BearbeitenIm Schweizer Verfahrensrecht bedeutet Kognition die Prüfzuständigkeit der Beschwerdeinstanz. Welche Überprüfungskompetenz welchem Gericht zukommt, ist den einschlägigen Gerichtsorganisations- und Verfahrensgesetzen (Bundesgerichtsgesetz BGG, Bundesgesetz über das Bundesverwaltungsgericht VGG und Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren VwVG) zu entnehmen. Das Gericht muss die ihr gesetzlich eingeräumte Kognition ausschöpfen.[7]
Literatur
Bearbeiten- Eike Duckwitz: Die Verwertbarkeit von nach §§ 154, 154a StPO ausgeschiedenem Prozessstoff bei der Beweiswürdigung und Strafzumessung im Strafverfahren. Eine Untersuchung aus rechtsstaatlicher und verfahrensrechtlicher Perspektive. Universitätsverlag Göttingen, 2017. ISBN 978-3-86395-219-8. Volltext online.
- Franz Merli: Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz. In: Michael Holoubek, Michael Lang: Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz. Linde-Verlag, Wien 2008, S. 65–74.
- Silvio Forster: Die gewaltenteilig motivierte Kognitionspraxis des Bundesgerichts (= Zürcher Studien zum öffentlichen Recht. Band 299). Schulthess, Zürich/Genf 2024, ISBN 978-3-7255-9547-1.
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Oktober 2009 – 4 StR 239/09 = NStZ 2010, 222, LS 2.
- ↑ BGH, Urteil vom 24. Oktober 2013 – 3 StR 258/13 = NStZ-RR 2014, 57.
- ↑ Jürgen-Detlef Kuckein: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl., § 264 Rn. 25.
- ↑ BGH, Urteil vom 17. Oktober 2019 – 3 StR 170/19
- ↑ BGH, Urteil vom 12. Februar 2014 - 2 StR 308/13
- ↑ AG Essen, Beschluss vom 30. Juni 2016 - 38 OWi-90 Js 2760/15-953/15
- ↑ Andreas Kley: Kognition Verwaltungsverfahrensrecht online, Stand: 30. April 2015.