Lineare und kollaterale Verwandtschaft

ethnosoziologisches Konzept
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Lineare Verwandtschaft (lateinisch linea „Linie“) bezeichnet alle Vorfahren einer Person, von denen sie in „gerader Linie“ direkt abstammt, sowie alle ihre eigenen Nachkommen – zur kollateralen (con „zusammen“, lateralis „seitlich“) oder Seitenverwandtschaft gehören alle Geschwister der Person sowie alle Geschwister ihrer direkten Vorfahren (beispielsweise alle Tanten), samt deren Nachkommenschaft.[1][2][3] Beispiel: Der Vater der eigenen Mutter ist ein linearer Verwandter, weil man von ihm abstammt; der Bruder der eigenen Mutter (Onkel) ist ein Seitenverwandter, da man nicht von ihm abstammt.

Das folgende Schaubild zeigt mittig die gradlinigen Vor- und Nachfahren einer Person (in grün, mit durchgezogenen Linien verbunden), während alle anderen mit der Person indirekt verwandt sind, weil sie von denen nicht abstammt (seitlich angeordnet in gelb):

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Großtanten/-onkel
= seitenverwandt
 
 
Großeltern
 
Großeltern
 
 
Großtanten/-onkel
= seitenverwandt
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Onkel, Tanten
= seitenverwandt
 
Mutter
 
Vater
 
Onkel, Tanten
= seitenverwandt
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Cousins, Cousinen
= seitenverwandt
 
Schwestern
= seitenverwandt
Person
 (Ego, Proband
Brüder
= seitenverwandt
 
Cousins, Cousinen
= seitenverwandt
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Neffen, Nichten
= seitenverwandt
 
 
 
Kinder
Kindeskinder
= linear
 
 
 
Neffen, Nichten
= seitenverwandt
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Zur direkten Linie können auch adoptierte oder vaterschaftlich anerkannte Personen gehören. Seitenverwandt sind alle Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, Großonkel, Großtanten und so weiter zurückgehend, samt deren Kindern und Kindeskindern (Enkeln), also sämtliche Cousins, Cousinen, Neffen, Nichten und so fort, sowohl vater- wie mutterseitig (patri- und matrilateral).

Zu eigenen Kindern und ihren Nachkommen besteht immer eine lineare Verwandtschaft, da sie alle von einem selbst abstammen (siehe Elternschaft). Seitenverwandtschaft besteht zwischen allen Blutsverwandten, die weder in aufsteigender noch in absteigender Linie voneinander abstammen, auch als indirekte Blutsverwandtschaft bezeichnet. Ein Sonderfall tritt ein, wenn Seitenverwandte gemeinsame Kinder zeugen, weil dabei neue lineare Verwandtschaften in gerader Linie entstehen (siehe Urgroßeltern als Beispiel 30 linearer Vorfahren und zur Erklärung von Ahnenschwund wegen Verwandtenheirat, Beispiel: Cousinen- und Onkel-Nichte-Ehen im spanischen Königshaus).

Bedeutung der Verwandtschaftsarten

Die Unterscheidung in gerade und seitliche Linie spielt eine wichtige Rolle im deutschen Ehe- und Erbrecht.[3]

Zu selbst ausgesuchten linearen und seitlichen Verwandten pflegt jede Person ihr eigenes soziales Netzwerk, nach eigenen Vorlieben und sozialen Erwartungen. Diese gemischte Verwandtschaftsgruppe (ethnologisch: Kindred) kommt bei Geburten, Heiraten, Beerdigungen oder anderen Übergangsritualen zusammen.

Manche der weltweit erfassten 1300 Ethnien und indigenen Völker[4] unterscheiden nicht zwischen linearen und kollateralen Verwandten. Dass eine solche Aufteilung von früheren Ethnologen als „naturgegeben“ unterstellt wurde, kritisiert die neuere Ethnologie (Völkerkunde) als „euro-zentristische Sichtweise“: Europäer und US-Amerikaner sähen das als „menschliche Natur“ an, aber es gebe „nichts Natürliches“ an der Unterscheidung zwischen direkten und seitlichen Verwandten.[5]

Innerhalb der Seitenverwandtschaft unterscheidet die Ethnologie bei ihrer Untersuchung verschiedener Gesellschaften auch zwischen Kreuz- und Parallel-Verwandtschaft, vor allem in Bezug auf die Brüder der Eltern. So kann der Bruder des Vaters (parallel, weil gleichen Geschlechts) bei vielen Völkern eine wichtige soziale Bedeutung haben, wie auch seine Kinder (Parallelcousins und -cousinen). In anderen Kulturen spielt der Bruder der Mutter (entgegengesetzten Geschlechts) eine wichtige Rolle, zusammen mit seinen Kindern (Kreuzcousinen und -cousins).

Einlinige Abstammungen

Die Linearität von Verwandtschaft, auch Linealität genannt, spielt ethnologisch eine wichtige Rolle bei einlinigen Abstammungsregeln (unilineare Deszendenz) für die Erbnachfolge:

Im größten Teil der westlichen Welt sowie bei 28 % der weltweit 1300 Ethnien gilt die Abstammung und Erbnachfolge von beiden Elternteilen und ihren Linien (bilateral-kognatisch).[4]

Siehe auch

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  • Gabriele Rasuly-Paleczek: Differenzierung in lineare und kollaterale Verwandte. (PDF) (PDF: 1 MB, 32 Seiten). In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 1/5). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 25–26, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 21. Oktober 2013; (Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011).

Einzelnachweise

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  1. Hans-Rudolf Wicker: Deszendenz/Linearität. In: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie (1995–2012). (PDF) (PDF: 387 kB, 47 Seiten). Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 3, abgerufen am 13. März 2020 (Unterlagen zu ihrer Vorlesung im Sommersemester 2011): „Lineare Verwandtschaftsbeziehung: Beziehung zwischen zwei Personen, von denen die eine von der andern abstammt. Kollaterale Verwandtschaft: Beziehung von zwei Personen, die zwar von gemeinsamen Vorfahren, nicht jedoch voneinander abstammen.“
  2. Gabriele Rasuly-Paleczek: Differenzierung in lineare und kollaterale Verwandte. In: Einführung in die Formen der sozialen Organisation (Teil 1/5). (PDF) (PDF: 1 MB, 32 Seiten). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2011, S. 25, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 21. Oktober 2013; abgerufen am 13. März 2020: „Definition von linearen Verwandtschaftsbeziehungen nach HIRSCHBERG: »Lineare Verwandte sind die Eltern und deren Eltern in Potenzkette, also die Vorfahren, und ebenso die Nachkommen. […] Kollaterale Verwandte sind die Geschwister der Vorfahren und deren Abkömmlinge«. (HIRSCHBERG 1988: S. 257)“.
  3. a b BGB: § 1589 Verwandtschaft. Zitat: „Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten.“
    Anmerkung: Geschwister sind rechtlich gesehen Seitenverwandte zweiten Grades, weil 2 „vermittelnde Geburten“ zwischen ihnen liegen.
  4. a b J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (englisch; PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller damals 1267 erfassten Ethnien);
    Zitat: „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal […] 52 Duolateral […] 49 Ambilineal […] 11 Quasi-lineages […] 349 bilateral […] 45 Mixed […] 17 Missing data“.
    Prozente der 1267 Ethnien (1998): 46,1 % patrilinear (vom Vater) – 12,6 % matrilinear (von der Mutter) – 4,1 % duolateral (bilinear: unterschiedlich von Vater und Mutter) – 3,9 % ambilinear (wahlweise) – 0,9 % parallel (Quasi-Linien) – 27,6 % bilateral, kognatisch (westliches Modell: Herkunft von beiden Elternteilen) – 3,6 % gemischt – 1,6 % fehlende Daten.
    Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt. Begründet wurde der Ethnographic Atlas Anfang der 1950er vom US-amerikanischen Anthropologen George P. Murdock (1897–1985) zur standardisierten Daten-Erfassung sämtlicher Ethnien weltweit.
  5. Gabriele Rasuly-Paleczek: Kritik an der Differenzierung in lineare und kollaterale Verwandte. In: Einführung in die Ethnosoziologie (Teil 1/2). (PDF) (PDF: 250 kB, 82 Seiten). Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien, 2006, S. 32, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 1. Oktober 2008; abgerufen am 13. März 2020: „In Zusammenhang mit der Differenzierung in lineare und kollaterale Verwandte ist u. a. auf die von SCHUSKY vorgenommene Kritik an dieser Differenzierung hinzuweisen, die als eurozentrischische Übernahme euro-amerikanischer Verwandtschaftsklassifikationen auf andere Gesellschaften angegriffen wurde. U. a. vermerkt er: »Many kinship systems fail to dinstinguish between lineal and collateral relatives and initially they may be confusing. It must be emphasized, there is nothing natural about separating lineal from collateral relatives either in terminology or behavior. It is simply that Americans and Europeans are accustomed to only this system and assume it is part of human nature.« (SCHUSKY 1983: S. 14, 4. Abs.)“.