Konvention von Reichstadt
In der Konvention von Reichstadt (auch: Vereinbarung von Reichstadt) zur Orientalischen Frage einigten sich Österreich-Ungarn und das Russische Kaiserreich am 8. Juli 1876 auf Nichteinmischung in den serbisch-osmanischen Krieg und vorab auf die Neutralität Österreich-Ungarns im erwarteten Krieg Russlands gegen das Osmanische Reich. In Szenarien für den Kriegsausgang wurde die Rückkehr zum Status quo vereinbart; für den angenommenen Sieg Russlands wurde der Balkan in Interessenzonen vorgenommen, die Annexion bosnisch-herzegowinischer Gebiete durch Öserreich-Ungarn und die Grenzen von Balkanstaaten wurden besprochen. Es bestehen lediglich teilweise widersprüchliche Aufzeichnungen beider Seiten zu der geheimen mündlichen Vereinbarung.
Die Vereinbarung wurde im böhmischen Reichstadt geschlossen. Anwesend waren Zar Alexander II. und Kaiser Franz Joseph sowie der Außenminister Alexander Michailowitsch Gortschakow und Gyula Andrássy.
Die Gebietsvereinbarungen wurden im Berliner Kongress 1878 weitgehend bestätigt.
Form
Bearbeiten-
Andrassy
-
Franz Joseph
-
Alexander II.
-
Gortschakow
Die Verhandlungen fanden in einem privaten und fast informellen Rahmen statt. Bezeichnend ist, dass die Ergebnisse des Treffens nicht schriftlich festgehalten wurden, sodass die österreichische und die russische Auffassung der Ergebnisse sich signifikant unterschieden. Es wurden weder eine formelle Konvention unterzeichnet noch auch nur ein Protokoll unterzeichnet. Die Ergebnisse diktierte Andrassy dem russischen Botschafter in Wien. Unabhängig davon diktierte Gortschakow einem Beamten eine Niederschrift, beides wurde von der anderen Seite nicht beglaubigt.
So war vor allem die Reichweite der österreichischen Annexionen in Bosnien und Herzegowina umstritten. Bedingt durch diese Unstimmigkeiten wurde die Konvention in der Konferenz von Konstantinopel und im Budapester Vertrag noch einmal verhandelt, aber größtenteils bestätigt bzw. ergänzt. Auch der Berliner Kongress bestätigte die Vereinbarungen weitgehend.
Inhalt
BearbeitenAllgemein gelten folgende Aussagen als Kerninhalte der Reichstädter Übereinkunft:
- Nicheinmischung in den serbisch-osmanischen Krieg
- österreichische Neutralität im Falle eines russischen Angriffs auf das Osmanische Reich (siehe: Russisch-Osmanischer Krieg von 1877/78)
- Aufteilung des Balkans in eine russische und eine österreichische Einflusssphäre
- Annexion bosnisch-herzegowinischen Gebietes durch Österreich-Ungarn
- Russland gewinnt Bessarabien und Gebiete im Südkaukasus zurück
- Ein slawisches Großreich wird ausgeschlossen (Großserbien und/oder Großbulgarien)
ln den Details jedoch zeigen sich deutliche Unterschiede der Aufzeichungen Gortschakows und Andrassys:[1]
Gebiet, Region, Land | österreichisch-ungarische Niederschrift (Andrassy) | russische Niederschrift (Gortschakow) |
---|---|---|
Serbien | erhält eine gewisse Vergrößerung | erhält Teile Altserbiens und Bosniens |
Montenegro | erhält einen Teil der Herzegowina | erhält die ganze Herzegowina und einen Adriahafen |
Bosnien und Herzegowina | wird – bis auf den an Montenegro fallenden Teil der Herzegowina – von Österreich-Ungarn annektiert | nur der Westen („Türkisch-Kroatien“) und einige angrenzende Teile Bosniens werden von Österreich-Ungarn annektiert, der Rest fällt an Serbien (keine österreich-ungarischen Rechte auf Teile der Herzegowina erwähnt) |
Bulgarien und Rumelien | werden autonome Provinzen innerhalb des Osmanischen Reiches | werden unabhängige Fürstentümer |
Albanien | wird eine autonome Provinz innerhalb des Osmanischen Reiches | nicht erwähnt |
Griechenland | erhält Epirus und Thessalien sowie Kreta | erhält Epirus und Thessalien (Kreta nicht erwähnt) |
Bewertung
BearbeitenBismarck äußerte in seiner Biografie, die Convention von Reichstadt, nicht der Berliner Congreß, "ist die Grundlage des österreichischen Besitzes an Bosnien und der Herzegowina und hatte den Russen während ihres Krieges mit den Türken die Neutralität Oesterreichs gesichert".[2][3]
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Wladimir Petrowitsch Potjomkin: Geschichte der Diplomatie, Zweiter Band: Die Diplomatie der Neuzeit (1872–1919), Berlin: SWA-Verlag 1947, S. 46/47.
- ↑ Otto von Bismarck: Otto von Bismarck - Gedanken und Erinnerungen. Anaconda Verlag, 2015, ISBN 978-3-7306-9092-5 (google.de [abgerufen am 27. Januar 2025]).
- ↑ Zeno: Bismarck, Otto von, Gedanken und Erinnerungen, Zweites Buch, Siebzehntes Kapitel, 1. Archiviert vom am 10. Juni 2016; abgerufen am 27. Januar 2025.
Literatur
Bearbeiten- Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 6). 1977, ZDB-ID 184291-2, S. 56–71.
- Charles Jelavich, Barbara Jelavich: The Establishment of the Balkan national states. 1804–1920. University of Washington Press, Seattle 1977, ISBN 0-295-95444-2, S. 147 ff. (A history of Central Eastern Europe 8).
- Serge Maiwald: Der Berliner Kongress 1878 und das Völkerrecht. Die Lösung des Balkanproblems im 19. Jahrhundert. Wissenschaftliche Verlags-Gesellschaft, Stuttgart 1948.
- Alexander Nowotny: Österreich, die Türkei und das Balkanproblem im Jahre des Berliner Kongresses. Böhlau, Graz u. a. 1957 (Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses 1878. 1), (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 44).