Lebensraum (Psychologie)
In die Psychologie wurde der Begriff des Lebensraums von Kurt Lewin im Rahmen seiner psychologischen Feldtheorie eingeführt. Hellmuth Metz-Göckel nennt ihn sogar „das wichtigste psychologische Konstrukt im Rahmen der Feldtheorie von Lewin.“[1] Lewin schreibt dazu: "Jedem Individuum entspricht zu einem bestimmten Zeitpunkt ein anderes psychologisches Feld, das wir den Lebensraum dieses Individuums nennen. Es schließe sowohl die Person wie die Umwelt ein; und zwar die Umwelt, wie sie das Individuum sieht."[2] "Mit Umwelt ist hier nicht etwa die physikalische Umwelt des Menschen gemeint, sondern seine psychologische (erlebte) Umwelt."[3]
Verhalten und Entwicklung hängen diesem Ansatz zufolge nicht nur von innerlichen Zuständen und Strebungen der Person ab, wie es aus der ursprünglichen Triebtheorie der Psychoanalyse geschlossen werden könnte, oder von den Anreizen der Umwelt, wie es aus den anfänglichen Vorstellungen des Behaviorismus geschlossen werden könnte, sondern vom Zustand der Person und der Umwelt in ihrer Wechselbeziehung. Daraus ergibt sich Lewins bekannte Formel:
„V = F(P,U), Verhalten ist eine Funktion von Person und Umwelt.“ (Lewin 1946)[4]
Lewin führt dazu näher aus:
„In dieser Gleichung müssen die Person (P) und ihre Umwelt (U) als wechselseitig abhängige Variablen betrachtet werden. Mit anderen Worten, um das Verhalten zu verstehen oder vorherzusagen, müssen die Person und ihre Umgebung als eine Konstellation interdependenter Faktoren betrachtet werden. Die Gesamtheit dieser Faktoren nennen wir den Lebensraum (L) dieses Individuums und schreiben V=F(P,U) = F(L). Der Lebensraum umschließt also beides, die Person und die Umwelt. Die Aufgabe, Verhalten zu erklären, wird dann identisch mit 1. dem Finden einer wissenschaftlichen Repräsentation des Lebensraums (L) und 2. der Bestimmung der Funktion (F), die das Verhalten mit dem Lebensraum verbindet.“[5]
Den Begriff des Lebensraums verwendet Kurt Lewin weitgehend synonym zum Begriff der psychologischen Situation. Darunter versteht Lewin die jeweils gegebene strukturelle und dynamische Beschaffenheit des Lebensraums in ihrer inhaltlichen Bedeutung für die jeweilige Person. Da Lewin in der psychologischen Terminologie seiner Zeit keinen Situationsbegriff vorfand, der die dynamische Gesamtheit von Person und Umwelt bezeichnet hätte, führte er dafür den Begriff des Lebensraums ein und ersetzte in seiner Verhaltensformel S durch P/U: "Unsere Formel V = f(S) können wir daher für jedes psychische Geschehen als V = f(P/U) festsetzen." (Lewin 1969, 34)[6]
Den Lebensraum als psychologisches Feld sieht Lewin eingebettet in eine "fremde Hülle" nichtpsychologischer Gegebenheiten. Darunter versteht er "Tatsachen, die nicht psychologischen Gesetzen unterliegen, jedoch den Zustand des Lebensraums beeinflussen" (Lewin 1936)[7]. Das sind unter anderem der physiologische Organismus, das objektiv-physikalische Umfeld der Person und deren Entwicklung.
Kritik und Weiterführung
BearbeitenDieses Konzept der "fremden Hülle" des Lebensraums stieß schon zu Lebzeiten Lewins auf Kritik, unter anderem von Egon Brunswik. Brunswik kritisierte an Lewins Lebensraum–Konzept, es könnte die Aufmerksamkeit zu einseitig auf die psychologischen Gegebenheiten und Kräfte als verhaltensbestimmend lenken, die - in Brunswiks Diktion - „nach der Wahrnehmung und vor dem Verhalten“ („post-perceptual and pre-behavioral“) verortet sind. [8] Lewin ging auf diese Kritik ein, indem er sein Lebensraum-Konzept zu einem Ansatz einer "psychologischen Ökologie" ausbaute.[9]
Oskar Graefe wiederum kritisierte an Lewins Fassung des Lebensraums aus gestaltpsychologischer Sicht, dass das Konzept einer den psychologischen Lebensraum umgebenden fremden Hülle nicht-psychologischer Gegebenheiten zahlreichen psychophysischen Forschungsbefunden widerspreche, die ein Einwirken außerpsychologischer Tatsachen auf jeden einzelnen Punkt des Lebensraums und nicht bloß von einer Grenzzone her nahelegten.[10]
Trotz dieser Kritikpunkte wurde die Arbeit mit dem Lebensraumkonzept Lewins international bis heute in verschiedenen, teils modifizierten Formen weitergeführt. Zu nennen sind hier Konzepte der ökologischen Psychologie (nicht zu verwechseln mit Umweltpsychologie), die vor allem in den 1980er-Jahren im Anschluss an Arbeiten von Roger Barker,[11] Urie Bronfenbrenner[12] und andere US-amerikanische Lewin-Mitarbeiter auch im deutschsprachigen Raum diskutiert und weiterentwickelt wurden.[13] Zu den neueren internationalen Forschungstrends in dieser Tradion kann in der stark auf das Lewinsche Lebensraum-Konzept bezogenen Forschung über "psychologische Situationen" (siehe oben) gesehen werden.[14]
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ H. Metz-Göckel: Gestalttheorie und kognitive Psychologie. Schlüsseltexte der Psychologie. Springer, Wiesbaden 2016, S. 127.
- ↑ Kurt Lewin: Aspekte der Feldtheorie (1944). In: Karl-Friedrich Graumann (Hrsg.): Kurt-Lewin-Werkausgabe. 4 (Feldtheorie). Huber/Klett-Cotta, Brn / Stuttgart 1982, S. 25–26. ;
- ↑ Gerhard Stemberger: Wörterbuch der Psychotherapie. Springer, Wien 2000, ISBN 3-211-99131-X, Lebensraum, S. 398, doi:10.1007/978-3-211-99131-2_1074.
- ↑ Kurt Lewin: Verhalten und Entwicklung als eine Funktion der Gesamtsituation (1946). In: Dorwin Cartwright (Hrsg.): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Verlag Hans Huber, Bern / Stuttgart 1963, S. 272.
Siehe dazu auch das Stichwort Lebensraum in Dorsch Lexikon der Psychologie - ↑ Kurt Lewin: Verhalten und Entwicklung als eine Funktion der Gesamtsituation (1946). In: Dorwin Cartwright (Hrsg.): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Verlag Hans Huber, Bern / Stuttgart 1963, S. 272.
- ↑ vgl. dazu G. Stemberger 2021, Psychologische Situation.
- ↑ siehe auch Wolfgang Tschacher 2010, Begriffe Lebensraum, Hülle des Lebensraums, in: Glossar von Fachbegriffen dynamischer Systeme, S. 10.
- ↑ Norbert Bischof widmet dieser Kontroverse in seinem Buch Psychologie – Ein Grundkurs für Anspruchsvolle (Kohlhammer, Stuttgart 2014, 3.A.) das Kapitel „10.2.2 Kurt Lewin und Egon Brunswik“, 261–270.
- ↑ Kurt Lewin 1943, Psychologische Ökologie. In: Lewin 1963/2012, Feldtheorie in den Sozialwissenschaſten. Verlag Hans Huber, Bern/ Stuttgart 1963; Hans Huber, Hogrefe, Bern 2012, jeweils S. 206-222.
- ↑ Oskar Graefe: Über Notwendigkeit und Möglichkeit der psychologischen Wahrnehmungslehre. In: Psychologische Forschung. 26, 1961, S. 262—298.
- ↑ Roger G. Barker, (1968): Ecological psychology. Stanford University Press, Stanford 1968>.
- ↑ Urie Bronfenbrenner: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Klett-Cotta 1981.
- ↑ Carl Friedrich Graumann (Hrsg.): Ökologische Perspektiven in der Psychologie. Verlag Hans Huber, Bern / Stuttgart / Wien 1978;
Heinz Walter, Rolf Oerter (Hrsg.): Ökologie und Entwicklung. Mensch-Umwelt-Modelle in entwicklungspsychologischer Sicht. Auerm Donauwörth 1979. - ↑ John F. Rauthmann, Ryne A. Sherman, David C. Funder (Hrsg.): The Oxford Handbook of Psychological Situations. Oxford University Press, 2020, ISBN 978-0-19-026334-8.