Perniziöse Anämie

Krankheit
(Weitergeleitet von Morbus Biermer)
Klassifikation nach ICD-10
D51.0 Vitamin-B12-Mangelanämie durch Mangel an intrinsischem Faktor
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die perniziöse Anämie (lateinisch Anaemia perniciosa, kurz Perniciosa oder Perniziosa, von perniziös = schädlich, verderbend), auch Morbus Biermer oder Biermersche Anämie (benannt nach Anton Biermer), Anaemia perniciosa Biermer und Addisonsche Anämie[1] oder Addison-Anämie (benannt nach Thomas Addison) genannt, ist eine Form der Anämie (Blutarmut), die (insbesondere bei Folsäuremangel) auf einem Mangel an Vitamin B12 beruht. Im engeren Sinn wird der Begriff perniziöse Anämie (M. Biermer) nur für die Formen verwendet, bei denen die Bildung des intrinsischen Faktors gestört ist. Vitamin B12 spielt eine bedeutende Rolle in der Blutbildung und beim Abbau von sogenannten ungradzahligen Fettsäuren; außerdem ist es für die Synthese der DNA wichtig.

Vitamin B12 kann ausschließlich von Mikroorganismen produziert werden.[2] Diese finden sich in der Darmflora von Tieren und auch des Menschen. Das Vorkommen in tierischen Lebensmitteln wie Leber ist durch die Speicherung des aufgenommenen Vitamin B12 im tierischen Organismus begründet. Der tägliche Bedarf beträgt 2–6 µg. Das Vitamin wird aus der Nahrung im Darm mit Hilfe eines speziellen, im Magen ausgeschütteten Proteins (intrinsischer Faktor) aufgenommen, welches das Vitamin bindet und es so vor einer Zerstörung schützt. Im Zwölffingerdarm findet parallel eine passive Aufnahme durch Diffusion statt. Diese ist proportional zur vorliegenden Menge Vitamin B12, wobei rund 1–5 % des freien Cobalamins durch die passive Diffusion über die Darmschleimhaut resorbiert werden.[3][4]

Ein Mangel an B12 kann zu einer Anämie und/oder vielfältigen neurologischen Schäden führen. Unbehandelt kann er zum Tod führen.

Ursachen des Mangelzustandes

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Gestörte Resorption

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Mangel an intrinsischem Faktor:

Dieser Faktormangel entsteht entweder als Folge einer Typ-A-Gastritis, (einer Autoimmungastritis, bei der Antikörper gegen die Parietalzellen und den intrinsischen Faktor gerichtet sind), also eine chronische Entzündung der Magenschleimhaut, oder durch eine Entfernung des Magenabschnittes (Gastrektomie), in dem der intrinsische Faktor gebildet wird, also Corpus und Fundus. Eine Typ-B-Gastritis führt typischerweise nicht zu einem Vitamin-B12-Mangel, da hier in der Regel das Antrum betroffen ist. Es gibt auch selten genetisch bedingten Faktormangel, so beim Intrinsic-Faktor-Mangel.[5]

Vermindertes Angebot im Darm

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Symptome

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Erste Beschreibungen des Krankheitsbildes gaben insbesondere Hermann Lebert (1853) und (anlässlich seiner Beschreibung der Hämochromatose) Thomas Addison (1855). Die Kombination und Ausprägung der von Anton Biermer, der dem Krankheitsbild 1872 seinen Namen gab, in Vorträgen ab 1868[6] erstmals ausführlich beschriebenen[7] Symptome kann von Fall zu Fall unterschiedlich sein.

Die in der Symptomatik der perniziösen Anämie (englisch auch addisonian anemia genannt) ähnelnde (primäre Form der) Nebenniereninsuffizienz (genannt auch Addisonsche Krankheit) wurde von Thomas Addison anfänglich mit dieser verwechselt.[8]

Anämische Symptome

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Die typischen Beschwerden sind Müdigkeit, Leistungsverminderung, Erhöhung der Herzfrequenz, Blässe und Kollapsneigung als Folge der Blutarmut. Weiter wird ein Ikterus (Gelbfärbung der Haut) beobachtet, eine entzündlich gerötete, „glatte“ Zunge (atrophische oder Hunter-Glossitis: feuerrote, eingesunkene Flecken oder Streifen, umgeben von hellen, violettgrauen Bezirken mit unveränderter oder fehlender Papillenzeichnung; die Atrophie kann fortschreiten und zu weitgehendem oder vollständigem Verlust der Zungenpapillen führen, der sogenannten Spiegelzunge), Verdauungsstörungen und Bauchschmerzen.

Neurologische Symptome

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Neurologische Symptome treten häufig ohne Anzeichen einer Anämie auf. Diese imponieren als Missempfindungen oder Taubheitsgefühl der Haut (Kribbeln, pelziges Gefühl), eingeschlafene Hände und Füße, Gangunsicherheit, Koordinationsstörungen oder seltener Lähmungen. Das Vollbild dieser durch eine demyelinisierende Rückenmarksdegeneration entstehenden Symptome heißt funikuläre Myelose. Auch Sehstörungen oder das Bild einer Polyneuropathie sind möglich. Schließlich sind auch psychische Symptome wie mangelhafte Merkfähigkeit, Konzentrationsschwäche, Depressionen und Psychosen („megaloblastic madness“) sowie Schizophrenie und Demenz beschrieben worden.

Diagnose

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Die Diagnose wird durch Laboruntersuchungen gesichert:

Laboruntersuchung

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Sicherer Test

zusätzlich zu testen:

Neuer Test

Unterstützende Tests
(hohe Gefahr von falschen (negativ wie positiv) Ergebnissen)[12]

  • Methylmalonsäure im Blut (nicht anwendbar bei Nierenkrankheiten und Dehydrierung)
  • Hinweis auf Anämie, wenn im Blutbild die typische makrozytär-hyperchrome Anämie besteht. (Wenige große rote Blutzellen mit viel Hämoglobin beladen; siehe auch Erythrozytenverteilungsbreite.) Folsäure kann das Blutbild trotz B12-Mangels als „normal“ erscheinen lassen. Neurologische Schäden entstehen oft vor den Anzeichen einer Anämie im Blut.
  • Hinweis auf Aufnahmestörung von Vitamin B12 durch den Darm mit Hilfe des Schilling-Tests (Einnahme von radioaktiv markiertem Vitamin B12, das bei Aufnahme anschließend im Harn erscheint). Gefahr von falschen Normalwerten, da einige zwar kristallines B12, aber nicht nahrungsgebundenes B12 aufnehmen können.

Bei der Ursachensuche ist eine Magenspiegelung (Gastroskopie) mit Probenentnahme (Stufenbiopsie) zum Nachweis einer atrophischen Gastritis üblich.[13] Auch Stuhluntersuchungen mit Kulturen auf Mikroorganismen und die Prüfung auf Wurmeier (etwa von „Bothriocephalus-Bandwürmern“) kann man durchführen. Die Gastroskopie kann allerdings keinen B12-Mangel ausschließen.

Zur Diagnose gehört eine körperliche inklusive neurologischer Untersuchung.

Anti-Parietalzellen-Autoantikörper

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Bei der autoimmunen Form des Vitamin-B-12-Mangels finden sich nur bei ca. 60 % Anti-Parietalzellen-Autoantikörper, die sich gegen die a- und b-Untereinheit der Magen-H+/K+-ATPase richten. Bei der H+/K+-ATPase handelt es sich um ein Wasserstoffionen transportierendes Enzym, das für die Bildung der Magensäure notwendig ist („Protonenpumpe“). Die H+/K+-ATPase gehört zu den elektroneutralen Ionenpumpen.

Blutbild

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Eine perniziöse Anämie kann auch ohne Veränderungen im Blutbild bestehen. Infolge eines Mangels verringert sich die Anzahl der roten Blutkörperchen (Erythrozyten); außerdem erscheinen sie zu groß und enthalten pro Zelle vermehrt Hämoglobin, denn es kommt zu einer Störung der Zellteilung in den unreifen Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen im Knochenmark. In der mikroskopischen Untersuchung werden sogenannte Megaloblasten (sehr große Vorläuferzellen) und Megalozyten (sehr große Erythrozyten) gefunden. Im Verlauf wird auch die Bildung weißer Blutzellen (Leukozyten) und Blutplättchen (Thrombozyten) beeinträchtigt.

Vorgehen bei megaloblastärer Anämie:

  • Blutbild, mikroskopisches Differentialblutbild (übersegmentierte Neutrophile?), Retikulozyten
  • CRP, LDH, Bilirubin, ASAT (GOT), ALAT (GPT), AP, γ-GT, Elektrolyte
  • Vitamin-B12-, Folsäure-, Ferritinkonzentration im Serum
  • bei unklarer Befundkonstellation: Knochenmarksuntersuchung

Folatstoffwechsel / Folsäure

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Erhöhte Blutwerte von Methylmalonat und Homocystein zeigen sehr sensitiv eine Störung des Folatstoffwechsels an und können zur Differentialdiagnose bei Patienten mit neurologischen Veränderungen herangezogen werden, bei denen die Blutbildveränderungen und Vitaminkonzentrationen nur grenzwertig verändert sind. Folsäure kann einen B12-Mangel im Blutbild überdecken.[14]

Differentialdiagnostik

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Allgemeine Risikogruppen:

  • Vegetarier und Veganer, insbesondere deren Kinder und Stillkinder
  • Senioren ab ca. 60 Jahre

Krankheiten, die einem Mangel zugrunde liegen können:

Behandlung

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Wenn die Ursache nicht beseitigt werden kann, muss das Vitamin B12 lebenslang zugeführt werden. B12 muss in diesem Fall in sehr hohen Dosen von mindestens 1000 µg verabreicht werden. Um 1926 führten George Richards Minot und William Parry Murphy die sogenannte Lebertherapie zur Behandlung der perniziösen Anämie ein.[19] Das erste kommerziell erhältliche Medikament zur Behandlung der perniziösen Anämie mit Vitamin B12 als wirksamem Hauptbestandteil war Anfang der 1930er Jahre der aus Lebern von Schlachttieren gewonnene Extrakt Campolon der Firma Bayer AG, der bis etwa 1970 auf dem Markt blieb. Die Schering AG bot mit dem Präparat Pernaemyl forte einen hochkonzentrierten, Vitamin-B12-haltigen Leberextrakt zur Injektion[20] an.

Im Falle der chronischen Magenschleimhautentzündung wird es in die Muskulatur oder subkutan gespritzt (ebenso bei einem ganz oder teilweise entfernten Magen). In den Fällen, bei denen ein Mangel des intrinsischen Faktors diagnostiziert werden kann, kann dieser gegeben werden, um die Fehlabsorption zu beheben. Bei einer chronisch atrophischen Gastritis vom Typ A besteht die Möglichkeit, die anfänglichen Entzündungszeichen und Veränderungen der Schleimhaut mit Cortison zu therapieren.

Die Therapie mit Vitamin B12 in der Form von Methylcobalamin und Adenosylcobalamin verspricht den größten Erfolg. In einer typischen Therapie werden in den ersten Wochen täglich bis dreitäglich 1000 µg gespritzt, sodann in einem ein- bis zweimonatigen Abstand lebenslang weiter Spritzen von ca. 1000 µg verabreicht.

Orale Therapie (Tabletten): Entgegen der verbreiteten Annahme verspricht auch eine orale Therapie (Tabletten) erfolgreich zu sein. Durch Absorption von ca. 1 % ist selbst ohne intrinsischen Faktor eine Aufnahme möglich. Zu beachten ist hier eine Mindestdosis von 500 µg, um die Absorption zu ermöglichen. Um vergleichbare Erfolge zu erzielen, ist hier eine tägliche Dosis von mindestens 1000 µg erforderlich.[21][22] In jedem Fall ist eine regelmäßige Überprüfung der Werte wichtig.

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Ludwig Heilmeyer, Herbert Begemann: Blut und Blutkrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 376–449, hier: S. 410–415 (Die perniziöse Anämie).
  2. Habermehl, Hammann, Krebs: Naturstoffchemie. Eine Einführung. 2. Auflage. Springer, Berlin 2002, ISBN 3-540-43952-8.
  3. E. Andres: Vitamin B12 (cobalamin) deficiency in elderly patients. In: Canadian Medical Association Journal. Band 171, Nr. 3, 3. August 2004, ISSN 0820-3946, S. 251–259, doi:10.1503/cmaj.1031155.
  4. Errata for Rubin LG et al (Clin Infect Dis 2014; 58:309-318). In: Clinical Infectious Diseases. Band 59, Nr. 1, 12. Juni 2014, ISSN 1058-4838, S. 144–144, doi:10.1093/cid/ciu256.
  5. Eintrag zu Intrinsic-Faktor-Mangel, kongenitaler. In: Orphanet (Datenbank für seltene Krankheiten)
  6. Viktor Schilling: Einst und jetzt: Über die geschichtliche Entwicklung der Lehre von der Anaemia perniciosa Biermer. In: Münchener Medizinische Wochenschrift. Band 95, Nr. 1, 2. Januar 1953, S. 79–85, hier: S. 79.
  7. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 43.
  8. Ludwig Weissbecker: Krankheiten der Nebennierenrinde. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 1013–1025, hier: S. 1016.
  9. Patent DE60202361T2: Verfahren zur Bestimmung von Transcobalamine II. Angemeldet am 23. April 2002, veröffentlicht am 22. Dezember 2005, Anmelder: Axis Shield Asa, Erfinder: Lars Örning.
  10. Matthew J. Oberley, David T. Yang – Laboratory testing for cobalamin deficiency in megaloblastic anemia, vom 20. Februar 2013 im American Journal of Hematology, DOI:10.1002/ajh.23421.
  11. Ralph Carmel, Yash Pal Agrawal: Failures of Cobalamin Assays in Pernicious Anemia. In: New England Journal of Medicine. 367, 2012, S. 385–386.doi:10.1056/NEJMc1204070
  12. UMMA Test
  13. S. E. Miederer: Die Histotopographie der Magenschleimhaut. Thieme, 1977, ISBN 3-13-508601-1.
  14. American Family Physician: B12 Deficiency, 2003 (Memento des Originals vom 15. Juni 2008 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.aafp.org
  15. HWS Funikuläre Myelose, 2005. doi:10.1055/s-2005-922840
  16. Orale Vitamin-B12-Substitution bei funikulärer Myelose (HWS)Uniklinik Bonn 2006. doi:10.1007/s00115-006-2137-4
  17. Parkinson’s, B6, B12, and Folate – What’s the Connection?
  18. P. Marko, F. Marty: Vitamin B12 und Hautleiden. In: PrimaryCare. 2006, 6, S. 434–436.
  19. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 65.
  20. Die Erhaltungsdosis bei Perniciosa […]. In: Münchener Medizinische Wochenschrift. Band 95, Nr. 1, 2. Januar 1953, S. LXXXIX.
  21. American Family Physician: B12 Deficiency, 2003 (Memento des Originals vom 15. Juni 2008 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.aafp.org
  22. Orale Vitamin-B12-Substitution bei funikulärer Myelose (HWS). Uniklinik Bonn 2006. doi:10.1007/s00115-006-2137-4