Neustädter Marienkirche

Kirchengebäude in Bielefeld

Die evangelisch-lutherische Neustädter Marienkirche ist die größte Kirche in Bielefeld. Die im Stil der Gotik ab 1293 errichtete Kirche ist ein prägendes Element des Bielefelder Stadtbildes und liegt im Stadtbezirk Mitte.

Westtürme der Neustädter Marienkirche

Geschichte

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Blick von der Sparrenburg 1961: Turmstümpfe von Marien- (vorne rechts) und Nicolaikirche (Bildmitte).
 
Grundriss der Marienkirche 1906

Erstmals erwähnt wird eine Kirche an der Stelle der heutigen Neustädter Marienkirche am Fuße des Sparrenbergs im Jahr 1292, als Graf Otto III. von Ravensberg dem Bischof von Paderborn seinen Plan vortrug, zusammen mit seiner Gemahlin Hedwig ein Stift für Kanoniker zu gründen. Der Gründungstag des Marienstifts war der 14. Juli 1293. Die wahrscheinlich seit 1270 vorhandene Pfarrkirche der „Neustadt“ wurde zur Stiftskirche ausgebaut. Im Zuge verschiedener Bauphasen erhielt die Kirche bis ungefähr 1512 ihre heutige Form. Der Westteil mit den beiden Fassadentürmen wurde 1494 fertiggestellt. Aufgrund der Stiftung durch den Grafen wird die Kirche – nicht oft – auch „Ravensberger Dom“ genannt.

Im Zuge der Reformation, die Bielefeld recht spät ab etwa 1542 erreichte, wurde die Kirche gleichzeitig von katholischer und evangelischer Seite in Anspruch genommen. Die meisten Kanoniker blieben katholisch, die Pfarrgemeinde wurde lutherisch. Der damalige Pfarrer der Neustädter Marienkirche, Hermann Hamelmann, gilt als Reformator Bielefelds. Eine Zeitlang hielten die Kanoniker im Chor der Kirche die Messe und das Stundengebet im römischen Ritus. Im Kirchenschiff, das durch einen Lettner vom Chor abgetrennt war, wurde der Gemeindegottesdienst auf lutherische Weise gefeiert, indem „evangelisch gepredigt“ und deutsch gesungen wurde.[1]

Die Turmhelme wurden nach einem Sturmschaden 1703 in den folgenden Jahren durch neue Turmhauben in barocker Form ersetzt. 1810 wurde das Marienstift aufgelöst, die Kirche wird seither als Gemeindekirche der evangelischen Mariengemeinde genutzt, die bereits seit 1672 Besitzerin der Kirche war.

 
Neustädter Kirche von Nordosten 1904
 
Neustädter Kirche von Nordosten mit Spitzhelmen

Von 1875 bis zum Zweiten Weltkrieg diente die Neustädter Marienkirche auch als Gottesdienstort für die alt-katholische Gemeinde Bielefeld, die nach dem Krieg mit der Gemeinde Münster fusionierte.[2]

Bei dem großen Bombenangriff auf Bielefeld am 30. September 1944 wurden Dach und Turmspitzen zerstört, die Gewölbe blieben jedoch intakt. Das neue Dach des Kirchenschiffs entstand um 1947; die Turmspitzen wurden 1966 neu errichtet.[3]

Architektur und Ausstattung

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Die 52 Meter lange Hallenkirche ist durch ihren dreijochigen, auffällig lang gestreckten Chor als ehemalige Stiftskirche zu erkennen. Nach den Details in Formen der Gotik insbesondere der Fenstermaßwerke kann er in das 14. Jahrhundert datiert werden. Etwa aus der gleichen Zeit dürfte auch das Querschiff stammen, während der Westteil des dreischiffigen Langhauses ebenso wie die Türme wohl erst nach 1450 realisiert wurden. Das Westportal zeigt Maßwerk in Formen des Flamboyant. Es wurde vermutlich 1512 vollendet. Bis etwa 1840 trennte ein für Stiftskirchen typischer Lettner den Chor vom Kirchenschiff. Nach der Aufhebung des Stifts im Zuge der Säkularisation wurde er abgerissen und die Kirche vollends zur Gemeindekirche umgestaltet.[4]

Die beiden jeweils 78 Meter hohen Turmdächer wurden nach starken Kriegsschäden 1966 in Anlehnung an die Gotik wieder aufgebaut. Die jetzige Form entspricht nicht den ursprünglichen Helmen, die zweifellos etwas niedriger waren. Ihr Aussehen ist ungefähr überliefert.

Der wertvollste Schatz der Kirche ist der sogenannte Marienaltar, ein gemaltes Triptychon von 30 kleinen Szenen um ein großes Mittelbild. Der 1400 von einem heute unbekannten Meister vollendete Altaraufsatz wurde von einem an französischer Kunst der 1380er Jahre geschulten Maler geschaffen, dem Meister des Berswordt-Retabels.[5][6] Zwei der Altarbilder (Die Geißelung und Die Kreuzigung) befinden sich im New Yorker Metropolitan Museum of Art.[7]

Zur Ausstattung der Kirche gehören ferner gotische Grabdenkmäler der Grafen von Ravensberg und von Berg. Außerdem gibt es ein Epitaph für Otto von Oye und Dorothea von Loë von 1622 in Formen der Renaissance. Die barocke Kanzel wurde von 1681 bis 1683 vom Bielefelder Meister Bernd Christoph Hattenkerl gefertigt.[8]

Bis 1964 stand in der Marienkirche die größte Orgel Bielefelds: Ein Instrument der Firma Emil Hammer Orgelbau (dort im Werkverzeichnis) aus dem Jahr 1937. Das Instrument hatte 74 Register auf vier Manualen und Pedal.

1970 erbaute die Orgelbaufirma Detlef Kleuker (Bielefeld-Brackwede) eine große Orgel. Das Schleifladen-Instrument hatte 47 Register auf drei Manualen und Pedal. Die Spieltrakturen waren mechanisch, die Registertrakturen elektrisch. Es wurde im September 2016 abgebaut und verkauft.[9]

 
Blick auf die neue Orgel

Die heutige Orgel wurde von der Orgelbaufirma Eule aus Bautzen erbaut und am 9. Juli 2017 geweiht. Das Instrument hat 46 Register, darunter 2 Vorabzüge und 6 extendierte Register im Pedal. Die Spiel- und Registertrakturen sind mechanisch, die Registertraktur ist zusätzlich elektrisch.[10]

I Hauptwerk C–c4
01. Bordun 16′
02. Principal 08′
03. Flauto major 08′
04. Viola di Gamba 08′
05. Rohrflöte 08′
06. Octave 04′
07. Spitzflöte 04′
08. Quinte 223
09. Octave 02′
10. Mixtur IV 02′
11. Cornett II–IV 02′
12. Trompete 08′
II Schwellwerk C–c4
13. Quintatön 16′
14. Geigenprincipal 08′
15. Salizional 08′
16. Gedeckt 08′
17. Principal 04′
18. Nasard 223
19. Flauto minor 02′
20. Waldflöte 02′
21. Terz 135
22. Quinte (vorab Nr. 23) 113
23. Progressio harm. II–IV 02′
24. Cor anglais 16′
25. Clarinette 08′
Tremulant
III Schwellwerk C–c4
26. Lieblich Gedeckt 16′
27. Viola d’amour 08′
28. Flauto traverso 08′
29. Doppelflöte 08′
30. Unda maris (ab c0) 08′
31. Fugara 04′
32. Zartflöte 04′
33. Violine (vorab Nr. 34) 02′
34. Harmonia aetherea III 0223
35. Oboe 08′
Tremulant
Pedal C–f1
36. Untersatz (Ext. Nr. 39) 32′
37. Principalbass 16′
38. Violonbass 16′
39. Subbass 16′
40. Octavbass (Ext. Nr. 37) 08′
41. Violoncello (Ext. Nr. 38) 08′
42. Gedacktbass (Ext. Nr. 39) 04′
43. Octave (Ext. Nr. 37) 04′
44. Posaune 16′
45. Posaunenbass 08′
46. Clairon (Ext. Nr. 45) 04′
  • Koppeln: II/I, II/II (Superoktavkoppel), III/I, III/II, I/P, II/P, III/P
  • Spielhilfen: 10.000fache Setzeranlage, Walze progr.
  • Sonstiges: 3 Schwelltritte, Stimmdrücker, Zimbelstern

Das Geläut der Kirche besteht heute aus vier 1993 von der Eifeler Glockengießerei Mark in Brockscheid gegossenen Bronzeglocken:[11][12]

Nr.
 
Name
 
Durchmesser
(mm)
Masse
(kg)
Schlagton
(HT-1/16)
Inschrift
 
1 Christusglocke 1704 3242 b0 +3 Gelobt sie der Herr, der Gott Isaraels ! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk. Lk 1, 68
2 Marienkirchglocke 1505 2172 c1 +5 Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes. Lk 1, 46, 47
3 Gebetsglocke 1452 1856 des1 +1 Gelobt sei Gott, der mein Gebet nicht verwirft, noch seine Güte von mir wendet. Ps. 66, 20
4 Sakramentsglocke 1305 1404 es1 +4 Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. 2. Kor. 5, 17

Zeitweise wurden die sechs Bronzeglocken der 2007 aufgegebenen Paul-Gerhardt-Kirche in bzw. an der Nordseite der Kirche aufbewahrt. Sie waren 1962 von der Glockengießerei Petit & Gebr. Edelbrock in Gescher gegossen worden und tragen jeweils eine Inschrift, die einem der Lieder von Paul Gerhardt entnommen sind.[13] Zum Schutz vor Einwirkungen sind die Glocken seit 2017 in Bielefeld eingelagert.[14]

Siehe auch

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Literatur

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  • Johannes Altenberend, Reinhard Vogelsang, Joachim Wibbig (Hrsg.): St. Marien in Bielefeld 1293–1993. Geschichte und Kunst des Stifts und der Neustädter Kirche. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 1993, ISBN 3-927085-78-2.
  • Hans Georg Gmelin: Die Neustädter Marienkirche zu Bielefeld. 2. Auflage, München / Berlin 1997 (= Große Baudenkmäler. Heft 282).
  • Alfred Menzel: Die Neustädter Marienkirche zu Bielefeld als „Simultankirche“. In: Johannes Altenberend, Josef Holtkotte (Hrsg.): St. Jodokus 1511–2011. Beiträge zur Geschichte des Franziskanerklosters St. Jodokus in Bielefeld. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2011, ISBN 978-3-89534-911-9, S. 107–116.
  • Götz J. Pfeiffer: Das Bielefelder Marienretabel. In: Der Bielefelder Marienaltar. Das Retabel in der Neustädter Marienkirche. Bielefeld, 2001, S. 33–107.
  • Götz J. Pfeiffer: Die Retabelkunst des Meisters des Berswordt-Retabels in Westfalen. In: Uwe Albrecht, Bernd Bünsche (Hrsg.): Das Landkirchener Retabel im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum Schloß Gottorf. Schloß Gottorf, Kiel 2008, S. 98–112.
  • Götz J. Pfeiffer: Die Malerei am Niederrhein und in Westfalen um 1400. Der Meister des Berswordt-Retabels und der Stilwandel der Zeit. Petersberg, 2009, S. 15–76.
  • Joachim Wibbing: Die Neustädter Marienkirche in Bielefeld (= DKV-Kunstführer. Nr. 282). München / Berlin 2003.
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Commons: Neustädter Marienkirche (Bielefeld) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Reinhard Vogelsang: Geschichte der Stadt Bielefeld, 1. Band: Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1980, ISBN 3-88049-128-3, S. 110.
  2. S. Sudmann: Die alt-katholische Gemeinde Bielefeld im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, in: Geschichte der Alt-Katholischen Pfarrgemeinde St. Johannes Münster, Bonn 2014, ISBN 978-3-934610-57-6, S. 85–90.
  3. Neue Westfälische, 1. Oktober 2010.
  4. Ulrich Althöfer: Architektur und Kunst in Zeiten großer Zahlen. Kirchenbau und Ausstattung im Kirchenkreis Bielefeld in: Matthias Benad, Hans-Walter Schmuhl (Hrsg.): Aufbruch in die Moderne. Der evangelische Kirchenkreis Bielefeld von 1817 bis 2006. Verlag für Religionsgeschichte, Bielefeld 2006, ISBN 3-89534-642-X, S. 163–180, hier S. 164–165.
  5. Götz J. Pfeiffer: Die Malerei am Niederrhein und in Westfalen um 1400. Der Meister des Berswordt-Retabels und der Stilwandel der Zeit. Imhof-Verlag, Petersberg 2009. (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, 73)
  6. Alfred Menzel: Der Bielefelder Marienaltar, ein Retabel für die Gebildeten im Hohen Chor als Lehrtafel und Himmelsfenster. Juni 2000.
  7. Metropolitan Museum of Art: Master of the Berswordt Altar: The Crucifixion.
  8. Matzner, Florian / Schulze, Ulrich: Barock in Westfalen. Ardey-Verlag. Münster 1997, S. 48
  9. Informationen zur Kleuker-Orgel der Neustädter Marienkirche
  10. Informationen zur Eule-Orgel. Abgerufen am 8. Mai 2018.
  11. Bielefeld, Neustädter Marienkirche, Plenum auf YouTube.
  12. Harald Propach, Die Glocken von Bielefeld. Stimme der Kirche. Kulturgut und Kunstwerk, Bielefeld 2008, S. 120–122.
  13. Harald Propach, Die Glocken von Bielefeld. Stimme der Kirche. Kulturgut und Kunstwerk, Bielefeld 2008, S. 215–217.
  14. vgl. die Informationen auf der Website der Gemeinde, abgerufen am 10. Mai 2018.

Koordinaten: 52° 1′ 1,4″ N, 8° 31′ 47,6″ O