Nicht einen Schritt weiter nach Osten

Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate (deutsch: Keinen Zentimeter: Amerika, Russland und die Entstehung der Sackgasse nach dem Kalten Krieg) ist eine Publikation der US-amerikanischen Historikerin Mary Elise Sarotte, die 2021 veröffentlicht wurde. 2022 wurde sie unter dem Titel Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung ins Deutsche übersetzt. Thema ist die NATO-Osterweiterung im Spannungsfeld der Interessen und Sichtweisen Russlands, der USA und der NATO-Staaten. Ein Hauptinhalt ist die Auseinandersetzung mit der Frage, ob es ein gebrochenes Versprechen gab, die NATO nach der Wiedervereinigung Deutschlands nicht nach Osten auszuweiten. Der Titel des Buches, Not One Inch, verweist auf James Bakers berühmte Aussage gegenüber Michail Gorbatschow, dass die NATO sich keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen würde.

Die Analyse stützt sich auf umfangreiche Quellen, darunter über 100 Interviews und Primärdokumente und Aufzeichnungen von Kontakten zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml. Viele Quellen waren vorher der Geheimhaltung unterworfen.

Not one Inch wurde 2021 von Foreign Affairs als eines der besten Bücher über Außenpolitik empfohlen, 2022 von der Financial Times als eines der Best Books to Read ausgezeichnet.[1]

Das Buch besteht aus einer Einleitung, drei Hauptteilen mit 10 Kapiteln, einem Schlusskapitel, einer Bibliografie und einem Index. Es enthält acht Karten. Die englische Erstausgabe enthält einen umfangreichen Quellenanhang. Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile, die drei Zeiträume und Entwicklungen von 1989 bis 1999 abdecken, die jeweils einer historischen Wendung und politischen Weichenstellung sowie unterschiedlichen politischen Hauptakteuren entsprechen.

Mit der Grundsatzentscheidung zur Öffnung sei eine Dynamik ausgelöst worden, die wie bei einem „Sperrhebel“ jede weitere Bewegung in nur in eine Richtung erfolgen ließ: „Jede Drehung hätte die Dynamik in Richtung der Erweiterung verstärkt und zugleich mögliche Alternativen verschlossen.“ Zu den Drehungen rechnet sie die Absage Bushs an Baker, Russland eine Zusicherung über die Nicht-Erweiterung zu geben, das Scheitern der Partnerschaft für den Frieden und den NATO-Gipfel von Washington 1999.

Der erste Teil konzentriert sich auf die Jahre 1989–1992, in denen die deutsche Wiedervereinigung und der Zerfall der Sowjetunion im Mittelpunkt stehen. Sarotte schildert, wie Helmut Kohl und George H. W. Bush die NATO-Erweiterung nach Ostdeutschland vorantrieben, um die Errungenschaften des Kalten Krieges zu sichern, während in Moskau um die Macht gerungen wurde.

Im zweiten Teil wird die Periode 1993–1994 analysiert, der Fokus liegt auf den Beziehungen zwischen Boris Jelzin und Bill Clinton. Dabei wird Clintons wechselnde Haltung gegenüber Russland beleuchtet, insbesondere vor dem Hintergrund der politischen Instabilitäten in Russland und Jelzins zunehmenden innenpolitischen Schwierigkeiten und Schwächen.

Der dritte Teil behandelt die Jahre 1995–1999, in denen westliche Führer entschieden, die NATO-Ausdehnung gegen den Widerspruch Russlands weiter voranzutreiben und Russland von der Europäischen Union fernzuhalten, was langfristige Kooperationen zwischen den USA und Russland erschwerte.

Sarotte beginnt im ersten Teil The Harvest and the Storm (Ernte und Sturm)[2] mit der Wiedervereinigung Deutschlands. Helmut Kohl sei der Forderung Russlands, ein vereintes Deutschland müsste sich „aus der NATO zurückziehen“, damit die UdSSR der Wiedervereinigung zustimmen könne, mit seinem Zehn-Punkte-Plan zuvorgekommen. Frankreich und die USA hätten darauf negativ reagiert. Während des Treffens 1990 in Moskau habe Gorbatschow erklärt, jede Erweiterung der NATO sei inakzeptabel. James Baker habe laut Gorbatschow geantwortet: „Dem stimmen wir zu“. Der nationale Sicherheitsrat der USA sei jedoch, so Sarotte, besorgt gewesen, dass Baker sich zu weit aus dem Fenster lehne, was nicht im Einklang mit der US-Strategie gewesen sei. Insbesondere Bakers Äußerungen zur Nichtausweitung seien eher hypothetischer oder „explorativer“ Natur gewesen; seine sowie Genschers Aussagen hätten nicht den Auffassungen der US-amerikanischen und der bundesdeutschen Regierung entsprochen. In einem Artikel für die Financial Times stellte sie dieses Element 2023 noch einmal heraus:

Entscheidend für jede genaue Darstellung ist jedoch das Wissen, dass diese Diskussion spekulativ und höchst kontingent war – und dass Bakers Chef, US-Präsident George H. W. Bush, Ende Februar klarstellte, dass er eine Begrenzung der Zukunft der Nato nicht als wünschenswert oder notwendig betrachtet. Er bestand darauf, dass der Außenminister solche Formulierungen nicht mehr verwende. Dem gehorchend, schrieb Baker im selben Monat vertraulich an seine deutschen Kollegen, dass Diskussionen über den Zuständigkeitsbereich der Nato „in Zukunft vermieden werden sollten“.[3]

Sarotte stellt dar, wie die Regierung der USA sich mit Kohl abzustimmen suchte, um weitere unbeabsichtigte Zugeständnisse zu vermeiden. Teil der Strategie war die Berücksichtigung der wirtschaftliche Notlage Russlands, die Russland aber nicht als Erpressung aufgefasst wissen wollte. George Bush habe sich früh festgelegt, dass die USA keine Zugeständnisse anbieten müsse; die sowjetische Zustimmung zur deutschen Einheit könne durch ein finanzielles Entgegenkommen Bonns erkauft werden. Angesichts der Fixierung Bonns auf die Wiedervereinigung und der Unentschiedenheit Russlands sei Präsident Bush die entscheidende Persönlichkeit gewesen. Er habe jedes Entgegenkommen mit texanischer Raffinesse (Texan sophistication) beantwortet: "Zum Teufel damit!". Er habe eine harte Linie für notwendig gehalten, denn "wir haben uns durchgesetzt und sie nicht." "Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets den Sieg aus dem Rachen der Niederlage reißen." Der Putsch in der Sowjetunion habe den Wunsch der Länder Osteuropas bestärkt, sich der NATO anzuschließen. In Gorbatschow sieht sie eine tragische Figur, die an ihrer politischen Schwäche scheiterte. Jelzin habe ihn entmachtet, indem er die Sowjetunion auflöste. Die USA hätten daraufhin versucht, das nukleare Arsenal zu sichern und neue politische Prioritäten hätten sich durchgesetzt.

Im zweiten Teil, Clearing, führt Sarotte aus, das Verteidigungsministerium der USA und das Pentagon hätten eine Partnerschaft mit Russland angeregt, um Russland nicht zu verärgern, sondern zu integrieren. US-Verteidigungsminister William Perry und General John Shalikashvili hätten daher die Partnerschaft für den Frieden (PfP) vorgeschlagen, die Jelzin begeisterte. Geschickte bürokratische Kämpfer wie Antony Lake und Richard Holbrooke starteten Sarotte zufolge sofort einen umfassenden Angriff, der von Madeleine Albright unterstützt wurde. Nach den Zugewinnen der Republikener bei den Zwischenwahlen 1994 habe Präsident Clinton die von ihm zuvor vertretene Idee einer Partnerschaft zugunsten einer NATO-Osterweiterung verworfen. Clintons Zögern, die NATO sofort zu erweitern, führt sie auf die Rücksicht auf Jelzins öffentliches Image wegen der russischen Präsidentschaftswahlen 1996 zurück. Es sei außerdem darüber nachgedacht worden, was Jelzin im Gegenzug für die NATO-Erweiterung verlangen würde. In der Abkehr Clintons von dem ursprünglichen Plan einer Sicherheitspartnerschaft und in der Nichteinhaltung des Versprechens der "three nos" gegenüber Jelzin sieht Sarotte den eigentlichen Bruch eines Versprechens. Am 13. Januar 1995 bezeichnete Clinton die NATO-Erweiterung als "unausweichlich". Clintons Idee einer Partnerschaft für den Frieden wäre laut Sarotte geeignet gewesen, „einerseits Stabilität in die östliche Hälfte Europas zu projizieren und andererseits Russland institutionell einzubetten.“ Dadurch wäre die Erweiterung deutlich verlangsamt worden, Optionen für den Aufbau eines stabilen Kooperationsverhältnisses mit Russland hätten sich eröffnet. Hardliner in Washington und das Drängen mittel- und osteuropäischer Regierungschefs hätten dies konterkariert.

Im dritten Teil, Frost, zu den Jahren 1995–99, setzte die Regierung Clinton die Osterweiterung aggressiver durch. Die russische politische Elite sollte mit der G7-Mitgliedschaft, der OECD, der WTO und dem Pariser Club eingebunden werden. Als Jewgeni Primakow 1996 Außenminister wurde und Jelzins Gesundheit immer schwächer wurde, habe, so Sarotte, die russische Nato-Opposition neuen Auftrieb bekommen. Die US-Regierung habe den wachsenden Widerstand der Europäer abwehren müssen, die befürchteten, dass Moskau Fuß fassen könnte, um einen alternativen Plan für die europäische Sicherheit vorzuschlagen. Für Russland war die nicht von der UN gebilligte Militäraktion der NATO im Kosovo ein Schock, den Jelzins Kritiker mit den Worten kommentierten: "Heute Belgrad, morgen Moskau."

Das Gesamturteil Sarottes ist, die USA sei zwar politisch erfolgreicher gewesen, keines der beiden Länder habe aber das Tauwetter in den neunziger Jahren bestmöglich genutzt. Über dem Schlusskapitel steht als Motto ein Zitat von Swetlana Alexijewitsch: „Wir müssen wieder auf die neue Zeit warten, weil wir unsere Chance in den 90er Jahren verpasst haben“. Sarotte zitiert den Historiker Odd Arne Westad, der 2017 schrieb, es sei „klar, dass der Westen mit Russland nach dem Kalten Krieg besser hätte umgehen sollen, als er es tat“, „nicht zuletzt, weil 'Russland aufgrund seiner schieren Größe unter allen Umständen ein entscheidender Staat in jedem internationalen System bleiben würde.“[4]

Rezensionen

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Boris Begovic (Universität Belgrad)

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Der emeritierte Professor der juristischen Fakultät der Universität Belgrad[5] schließt in seiner Rezension vom September 2022 aus der Darstellung Sarottes, die NATO-Osterweiterung habe die Position der liberalen Demokraten unterminiert und die nationalen Hardliner gestärkt und damit Russland in eine schlechtere Lage gebracht. Auffällig erscheint Begovic auch das Festhalten der US-Regierung an der einmal getroffenen Entscheidung, Glaubwürdigkeit und Reputation seien von größter Wichtigkeit gewesen und hätten es schwer gemacht, Fehler einzugestehen. Das Fehlen eines Rahmens wie in der Yalta-Konferenz mache die geringere Bedeutung militärischer Macht deutlich. Des Weiteren fällt Begovic der Idealismus und der amateurhafte Charakter der russischen Politiker der 90er Jahre auf, die er mit Morson und Solschenizyn mit den Akteuren nach 1917 vergleicht.[6]

Sie scheinen der Illusion erlegen zu sein, dass die liberale Demokratie selbst, fast wie mit einem Zauberstab, alle Probleme lösen und alle Dilemmas beseitigen würde. Als ob alle Probleme, Diskrepanzen und legitimen Interessen, die innerhalb des Landes oder in den internationalen Beziehungen bestehen, in Wirklichkeit die Folge des früheren autoritären Regimes wären". „Wir sind jetzt Freunde“ war die Haltung der Mehrheit der neuen russischen politischen Elite in den frühen 1990er Jahren. Für die andere, die amerikanische Seite, ging es um „business as usual“ – um die Wahrung dessen, was die politische Elite für die strategischen Interessen der USA gegenüber der anderen Seite hielt.

Die Weise, wie die USA Russland beim IMF gegen die Regeln zu Krediten verhalf, ähnlich wie später bei der Ukraine, ruinierte nach Meinung von Begovic die internationalen Institutionen und ihre Glaubwürdigkeit. Die Besorgnis der Nuklearmacht Russland vor einer Bedrohung erscheint Begovic paranoid, aber es müsse berücksichtigt werden, dass auch Paranoide Feinde haben. Die andere Seite hat sich keinen Deut um diese Sorgen gekümmert. Begovic erscheint es unsicher, ob Russland die Ukraine angegriffen hätte, wenn man ihr beim Gipfel von Bukarest nicht das Angebot auf NATO-Beitritt gemacht hätte. Wenn die NATO sich nicht ausgedehnt hätte, wäre eine ausgeprägte neue Sicherheitsstruktur für Europa entstanden, mit einer wesentlich geringeren Möglichkeit, neue Linien zu ziehen. Er sieht für diesen Fall ein starkes und unabhängiges Deutschland in der Mitte Europas.

Jedoch seien die Nostalgie nach der vergangenen Machtstellung und auch die inneren Störungen Russlands kaum auf die NATO zurückzuführen, auch der Aufstieg Putins hatte nur wenig mit der NATO zu tun, die Problematik unterstützte diesen aber. Unabhängig von der imperialen Nostalgie Russlands liefere das Buch Sarottes auch zahlreiche Belege für die "imperiale Haltung der USA". Begovic findet es bemerkenswert, dass hochrangige US-Beamte sich dieser Haltung offenbar nicht bewusst seien oder sie für selbstverständlich betrachteten. Er zitiert Madeleine Albright: "Die entscheidende Frage war, wie man die Rückentwicklung Russlands von einer imperialen zu einer normalen Nation bewerkstelligen (manage) konnte", und kommentiert: "Legt man diesen Maßstab an, ist Amerika zumindest seit dem Ende des Kalten Krieges keine normale Nation mehr gewesen."

Zur Frage der Vermeidbarkeit des Krieges zitiert er Dominic Lieven, er sei eine verspätete Folge der Auflösung der Sowjetunion, die „späte Rache, des alten Sicherheitsapparates für die erlebten 30 Jahre der Erniedrigung, des Rückzugs und der Niederlage.“[7] Mit Michael McFaul sieht er die Möglichkeit, dass der Konflikt hätte vermieden werden können. Auf der russischen Seite sieht Begovic ein Kommunikationsproblem, die Mitgliedschaft der Ukraine als rote Linie sei nicht klar genug vermittelt worden.[8]

Matthias Dembinski (Portal für Politikwissenschaft)

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Eine der zentralen Botschaften der Autorin sieht Matthias Dembinski (Peace Research Institute Frankfurt, Portal für Politikwissenschaft) darin, dass laut Sarotte der „Spagat“ zwischen der Einbindung Russlands und der Stabilisierung Mittel- und Osteuropas mit mehr Rücksicht auf russische Interessen und Befindlichkeiten vielleicht hätte gelingen können. Sie kritisiere nicht die Erweiterung als solche, sondern die Art, wie sie erfolgt sei. Dembinski merkt kritisch an, Sarotte unterschätze möglicherweise die Bedeutung der NATO-Russland-Grundakte für die europäische Sicherheitsarchitektur. „Mehr als die unmittelbaren militärischen Folgen der Erweiterung fürchtete Moskau wahrscheinlich zwei andere Konsequenzen, nämlich vollständig Einfluss bei den früheren Warschauer-Pakt-Partnerländern und Sowjetrepubliken zu verlieren und sukzessive von den Entscheidungen über europäische Sicherheitsfragen ausgeklammert zu werden.“[9]

Andrew, Moravcsik (Foreign Affairs)

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Andrew Moravcsik findet die Argumentation Sarrottes spekulativ, dass der vermeintliche Verrat ein wichtiger Faktor für den anschließenden Zusammenbruch der Demokratie in Russland und die weitere Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland unter Präsident Wladimir Putin gewesen sei. Die seiner Meinung nach überwiegenden Beweise des Buches deuten seiner Auffassung nach darauf hin, dass George H. W. Bush und Bill Clinton die NATO-Erweiterung verlangsamt hätten, um zu versuchen, die Regierung des russischen Präsidenten Boris Jelzin kurzfristig zu stabilisieren, und so lange gewartet hätten, wie er noch lebensfähig erschien. „Erst als Jelzins Sturz bevorstand und eine Verhärtung der Ost-West-Beziehungen unvermeidlich schien, begannen die Vereinigten Staaten, das Bündnis zu erweitern.“[10]

Robert Service (Literary Review)

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Robert Service betont in seiner Rezension des Literary Review vom April 2024, Sarotte habe mehr als jeder andere Historiker zuvor die Kampagnen der meisten anderen Länder in der östlichen Hälfte Europas für einen NATO-Beitritt hervorgehoben. Sarottes sei zu der These gelangt, weder Gorbatschow noch Baker seien ehrlich darüber gewesen, was gesagt wurde und was es bedeutete. „... als (Baker) den endgültigen Entwurf seiner Memoiren bearbeitete, (schnitt er) Passagen seines Forschungsteams heraus..., die auf eine gewisse Verschärfung seinerseits hindeuteten.“ Sarotte stelle auch die Debatten Jelzins mit Clinton über NATO-Probleme dar. Jelzin habe eine Westintegration Russlands gewollt, die Partnerschaft für den Frieden schien ein Sprungbrett auf dem Weg zur russischen NATO-Mitgliedschaft. Dies stehe hinter Jelzins Zustimmung zu NATO-Erweiterungen. Diese Zustimmung widerlege Putins Behauptungen. Sarotte bezieht jedoch alternative Handlungsmöglichkeiten ein:

Solange Jelzin an der Macht war, hätte viel mehr getan werden müssen, um eine kontinentale Sicherheitsregelung zu entwerfen, mit der sich Russland auf Dauer wohl fühlen könnte. Es wäre nicht einfach gewesen. Aber es hätte helfen können, der Ukraine die 'militärische Spezialoperation' zu ersparen, die Tausende von Ukrainern getötet und Millionen von ihnen zu Flüchtlingen gemacht hat.[11]

Bradley Reynolds (Universität Helsinki)

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Bradley Reynolds' Rezension (2021) betont Sarottes Verständnis, dass die Aussage not an inch aufgrund des „anhaltenden Verhandlungsaspekts der Rolle der NATO“ in den 1990er Jahren eher Ausdruck eines facettenreichen, fluktuierenden Prozesses der "gemeinsamen Komplizenschaft" als ein singuläres Versprechen zwischen Baker und Gorbatschow im Jahr 1990 gewesen sei. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die aufkommende Bedrohung durch die Verbreitung von Atomwaffen in den Neuen Unabhängigen Staaten hätten die NATO veranlasst, die Erweiterung über ein wiedervereinigtes Deutschland hinaus zu überdenken. Auch die ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts hätten ihre Sicherheit überdacht und ihren Fokus von Institutionen wie der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE – OSZE nach 1994) und der EU auf eine Vollmitgliedschaft in der NATO verlagert, als ihre Befürchtungen vor einem Zusammenbruch der Sowjetunion zunahmen.

Die Furcht vor der Verbreitung von Atomwaffen löste Befürchtungen aus, wie die NATO und eine neue Konföderation Unabhängiger Staaten (GUS) interagieren. Diese Befürchtungen spiegelten sich in Gorbatschows – und dann Boris Jelzins – Hoffnungen wider, dass Russland irgendwann in der Lage sein könnte, der NATO beizutreten.

Reynolds sieht In der Darstellung Sarottes einen Mangel in der Aussparung der Perspektive der kleineren europäischen Länder. Er betont jedoch, dass die Autorin ihre Arbeit nicht als „Schlusswort“, sondern als Ausgangspunkt weiterer Forschungen aufgefasst habe und schließt sich dem Urteil Marc Trachtenbergs an, das Geschichtswissenschaft nicht über den politischen Wert und Unwert von Ereignissen urteilen könne.

Die historische Analyse allein kann die grundsätzliche Frage, wie die Politik der NATO-Erweiterung zu beurteilen ist, nicht wirklich beantworten, und es ist auf jeden Fall nicht die Aufgabe des Historikers, über die Vergangenheit zu urteilen."[12][13]

Christian Tuschhoff (Politische Vierteljahresschrift)

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Christian Tuschhoff hebt in seiner Rezension vom 27. September 2022 kritisch hervor, Sarotte biete keine eigenständige, systematische Analyse der amerikanischen Verhaltensweise an, sondern konzentriere sich auf die Schilderung der Ereignisse und Akteure, ohne deren Entscheidungen im Rahmen größerer politischer oder struktureller Zusammenhänge einzuordnen. Zudem wirke sich die Nähe der Autorin zu den befragten Akteuren nachteilig aus. Ihre Darstellung enthält laut Tuschhoff zwar zahlreiche interessante Details, doch würden diese häufig ohne kritische Distanz präsentiert. Die Arbeit bleibe bei aller Fülle an Dokumenten stark beschreibend. Theoretische Konzepte wie etwa Machtpolitik oder "internationale Respektforschung" würden zwar durch die Fakten gestützt, jedoch nicht explizit von Sarotte selbst analysiert. Sarotte zeige auf, wie die USA durch bewusste Irreführung und eine „Salamitaktik“ russische Erwartungen enttäuscht hätten. Doch analysiere sie nicht tiefgehend die langfristigen Auswirkungen dieser revisionistischen Politik auf die europäische Sicherheit und die russische Reaktion. Die Autorin verzichte weitestgehend auf eigenständige Analyse und Folgerungen, sondern begnüge sich mit Erzählungen bis hin zu einer gewissen "Freude an Klatsch und Tratsch". So bleibe der Versuch, in den Schlussfolgerungen Kosten-Nutzen-Kalküle für die denkbaren Optionen zu erstellen, im Versuchsstadium stecken. Wichtig findet er, dass die Autorin zahlreiche Belege findet, mit denen neuere Aussagen von Zeitzeugen wie die von Horst Teltschik klar widerlegt werden, zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung habe niemand an die NATO in Osteuropa gedacht. "Die Dokumente zeigen aber eindeutig, dass diese Frage schon damals omnipräsent war."[14]

Marcin Waldoch (Świat Idei i Polityki)

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Marcin Waldoch (Uniwersytet Kazimierza Wielkiego w Bydgoszcz) bemängelt in seiner Rezension vom 1. Dezember 2022 Sarottes implizite Ansicht, die NATO-Osterweiterung sei schädlich für die Weltordnung gewesen. Er sieht in dieser Auffassung potenziell schwerwiegende Konsequenzen für Länder wie Polen, die auf die NATO-Erweiterung als Sicherheitsgarantie angewiesen seien Aus Waldochs Perspektive wird die Osterweiterung von Ländern Osteuropas eher als Notwendigkeit und Erfolg gewertet, während Sarottes Kritik an der Expansion eine westlich-zentrierte Sichtweise widerspiegeln könne, die die Sicherheitsinteressen dieser Länder weniger berücksichtigt. Waldoch sieht die Aufnahme in die NATO für Länder wie Polen nicht als geopolitische Entscheidung des Westens, sondern als ein existenzielles Bedürfnis, um die eigene Souveränität und Sicherheit nach Jahrzehnten der sowjetischen Dominanz zu gewährleisten. Sarottes konzentriere sich zu stark auf die negativen Auswirkungen der NATO-Erweiterung auf die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. Ein weiterer Kritikpunkt Waldochs betrifft die Quellengrundlage des Buches. Er merkt an, dass viele Informationen aus journalistischen Quellen wie der New York Times oder der Washington Post stammen, was Tiefe und Objektivität der Analyse aus seiner Sicht einschränken könne. Dennoch erkennt er die Qualität der Forschung und die analytische Stärke von Sarottes Werk an, sieht jedoch die Notwendigkeit, die Perspektive der betroffenen osteuropäischen Länder stärker in den Mittelpunkt zu rücken.[15]

Joshua Jaffa (New Yorker)

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Joshua Jaffa urteilte im The New Yorker im Januar 2022, einen Monat vor Kriegsbeginn, die neuen Befunde Sarottes würden die etablierten Narrative auf beiden Seiten sowohl ausfüllen als auch verkomplizieren. Sarotte habe ihm mitgeteilt, sie habe eine "nicht-triumphalistische Geschichte" des Endes des Kalten Krieges schreiben wollen, also das Gegenteil der Version, "die die meisten von uns kennen: eine Geschichte von Sieg, Freiheit und Chancen." Diese Empfindungen der Menschen in Osteuropa seien nicht falsch, aber sie frage, was dieselbe Geschichte für jemanden wie Putin bedeute, der es als Katastrophe betrachtet habe. Ob dies weniger relevant sei?

"Es besteht eine nicht unerhebliche Chance, dass wir im Jahr 2022 einen massiven europäischen Landkrieg erleben werden, der zumindest teilweise darauf zurückzuführen ist, wie Russland glaubt, dass der Westen mit dem Ende des Kalten Krieges umgegangen ist."

Sarotte würde nicht sagen, dass der Westen Russland ausgenutzt habe (taken advantage of Russia), aber die westlichen Mächte hätten gut daran getan, einen Aphorismus von Winston Churchill zu beherzigen: "Im Sieg: Großmut". Zu den historischen Fakten sagte sie, in der gegenwärtigen Situation gehe es Putin eher um "politische Arithmetik" als um historische Genauigkeit.[16]

Interviews

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T-Online

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2023 kommentierte Sarotte in einem Gespräch mit T-Online, Putins Behauptungen über die NATO-Osterweiterung seien Propaganda: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag erlaube es der NATO, sich nach Osten auszudehnen. Die mündlichen Aussagen, „nennen wir es meinethalben ein mündliches Gentlemen’s Agreement“, stünden dem schriftlichen Zwei-plus-Vier-Vertrag gegenüber. "Es ging hart auf hart, jeder wusste, dass nur das zählt, was schwarz auf weiß im Vertrag steht." Als Historikerin könne sie zu den gegensätzlichen Meinungen nach Analyse der Quellen sagen: "Weder die eine noch die andere Aussage ist vollkommen korrekt." James Baker, der damalige US-Außenminister, habe 1990 tatsächlich im Gespräch mit Michail Gorbatschow die Möglichkeit ausgelotet, ob Moskau der deutschen Einheit zustimmen würde im Austausch für die Zusage, dass sich die Nato nicht nach Osten ausdehnt. Entsprechend den Vorgaben von Bush habe Baker das Thema dann ruhen lassen, während Hans-Dietrich Genscher dies nicht tat und dafür in einem Brief von Bundeskanzler Helmut Kohl getadelt worden sei. Moskau habe schließlich den Vertrag unterzeichnet und dafür Milliarden kassiert. Die Schwäche der Sowjetunion sei jedem westlichen Unterhändler durchaus bewusst gewesen.[17]

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Literatur

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  • Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung. C. H. Beck, München 2023, ISBN 978-3-406-80831-9 (englisch: Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate. New Haven 2021).[18] Die deutsche Ausgabe wurde etwas gekürzt.
  • How to Enlarge NATO: The Debate inside the Clinton Administration, 1993–95. In: International Security. Band 44, Nr. 1, Sommer 2019, S. 7–41, doi:10.1162/isec_a_00353.
  • Debatte mit Mark Kramer: No Such Promise. Letters to the Editor. In: Foreign Affairs. Band 93, Nr. 6, November/Dezember 2014, S. 208–209.
  • Versprochen und gebrochen? In: Die Zeit. Nr. 41, 1. Oktober 2014, S. 9 (zeit.de).
  • A Broken Promise? In: Foreign Affairs. Band 93, Nr. 5, September/Oktober 2014, S. 90–97.
  • Not One Inch Eastward? Bush, Baker, Kohl, Genscher, Gorbachev, and the Origin of Russian Resentment toward NATO Enlargement in February 1990. In: Diplomatic History. Band 34, Nr. 1, Januar 2010, S. 119–140, doi:10.1111/j.1467-7709.2009.00835.x.

Rezensionen

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Einzelnachweise

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  1. Mary Elise Sarotte. 6. Februar 2020, abgerufen am 21. Dezember 2024 (englisch).
  2. Die Inhaltsangabe folgt den ausführlichen Rezensionen von Begovic und Reynolds
  3. Mary Elise Sarotte: ‘Not one inch’: unpicking Putin’s deadly obsession with the details of history. In: Financial Times. 17. Februar 2023 (ft.com [abgerufen am 20. Dezember 2024]).
  4. Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte. Klett-Cotta, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-608-98148-3. Englischsprachige Originalausgabe: The Cold War. A World History. Basic Books, New York 2017, ISBN 978-0-465-05493-0. Übersetzt von Helmut Dierlamm und Hans Freundl. Rezensiert u. a. von Jost Dülffer, Bernd Greiner, Norman M. Naimark und mehreren Historikern aus dem englischen Sprachraum im Rahmen einer H-Diplo Roundtable.
  5. Boris Begovic: Rezension: Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post–Cold War Stalemate by Mary Elise Sarotte. Anali Pravnog fakulteta u Belgradu 2022.
  6. Morson, Gary Saul. 2022. What Solzhenitsyn Understood. New York Review of Books. 7 April.
  7. Dominic Lieven: By Invitation: Dominic Lieven Says Empires Eventually End Amid Blood and Dishonour. The Economist. 23 April 2022.
  8. Book review "Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post–Cold War Stalemate", by Mary Elise Sarotte September 2022. Anali Pravnog fakulteta u Beogradu 70(3):887-909
  9. Matthias Dembinski: Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten: Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung. In: Portal für Politikwissenschaft. 6. Februar 2024, abgerufen am 29. Februar 2024.
  10. Andrew Moravcsik: Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post–Cold War Stalemate. in. Foreign Affairs. 100 (6).
  11. Robert Service: From Thaw to War. 1. April 2024, abgerufen am 28. Dezember 2024 (englisch).
  12. Marc Trachtenberg: The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990: New Light on an Old Problem?’ In: International Security 45, Nr. 3 (2021), S. 203
  13. https://helda.helsinki.fi/server/api/core/bitstreams/bd8c0e29-580b-4190-8422-d7997654029e/content
  14. Rezension. In: Politische Vierteljahresschrift, Jahrgang 63, 2022, S. 763–765 https://doi.org/10.1007/s11615-022-00425-3
  15. Marcin Waldoch: Rezension zu Mary Elise Sarotte Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate Yale University Press, New Haven and London 2021, pp. 550. Świat Idei i Polityki. Jahrgang 21, Nr. 1, (Dezember 2022), S. 207–209. DOI:https://doi.org/10.34767/SIIP.2022.01.12.
  16. Joshua Yaffa: The Historical Dispute Behind Russia’s Threat to Invade Ukraine. In: The New Yorker. 25. Januar 2022, ISSN 0028-792X (newyorker.com [abgerufen am 27. Dezember 2024]).
  17. "Putin ist besessen von der Geschichte, wie er sie sieht" – Expertin entlarvt Propaganda. 28. September 2023, abgerufen am 21. Dezember 2024.
  18. Rezensionen: Thomas Speckmann: Wider Moskaus Mythen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 14. November 2023, S. 6; Andreas Hilger: M. Sarotte: Not One Inch. In: H-Soz-Kult, 17. Mai 2022; Fred Kaplan: “A Bridge Too Far”. In: The New York Review of Books. Band 69, Nr. 6, 7. April 2022 (englisch).