Nikolai Jakowlewitsch Marr

georgisch-russischer Sprachwissenschaftler

Nikolai Jakowlewitsch Marr (georgisch ნიკოლოზ იაკობის ძე მარი, Nikolos Iakobis dse Mari; russisch Николай Яковлевич Марр, Nikolaj Jakovlevič Marr; * 25. Dezember 1864jul. / 6. Januar 1865greg. in Kutaissi, Russisches Kaiserreich; † 20. Dezember 1934 in Leningrad) war ein georgisch-russischer Sprachwissenschaftler und Orientalist.

Nikolai Marr (1905)
Nikolai Marr, ca. 1930

Marrs Theorien genossen bis 1950 in der Sowjetunion offiziellen Anspruch, denn er hatte sie mit dem Marxismus verknüpft und damit die Unterstützung der Herrschenden erlangt.

Leben und Karriere

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Er wurde als Sohn des eingewanderten schottischen Gartenbaulehrers James Murray („Marr“) und dessen georgischer Ehefrau Agathia Magularia geboren. Seine Muttersprache war Georgisch, in der Familie wurden jedoch verschiedene Sprachen, aber kein Russisch gesprochen. Er absolvierte das Klassische Gymnasium in Kutaissi mit Auszeichnung und der Bescheinigung besonderer Sprachbegabung. 1884 immatrikulierte er sich an der Fakultät für orientalische Sprachen an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und studierte dort Georgisch, Armenisch, Semitistik und Kaukasische Sprachen. Nach Differenzen mit Alexander von Zagareli habilitierte er sich 1891 in Sankt Petersburg für Armenisch, nicht Georgisch. 1901 wurde er Professor, 1911 Dekan der Orientalischen Fakultät, 1912 ordentliches Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er lebte in Sankt Petersburg (Leningrad) bis zu seinem Tode.

Unter seiner Leitung fanden 1892 und 1893 sowie von 1904 bis 1917 die ersten gründlichen archäologischen Grabungen in der armenischen Bagratiden-Hauptstadt Ani (heute Türkei) statt. 1911 bis 1912 grub er mit Joseph Orbeli in Toprakkale.[1] Er gilt als Schöpfer der modernen georgischen Philologie, veröffentlichte Standardwerke über das Altarmenische und Altgeorgische, besorgte erste kritische Ausgaben altgeorgischer Texte, erforschte aber auch lebende kaukasische Sprachen (Georgisch, Mingrelisch, Lasisch, Swanisch, Abchasisch).

Marr entwickelte maßgeblich die Japhetitentheorie, der zufolge die kaukasischen, semitisch-hamitischen und baskischen Sprachen eine gemeinsame Grundlage haben. 1924 erklärte er, alle Sprachen der Welt stammten von einer Protosprache ab, die vier verbreitete Ausrufe besitze: sal, ber, yon und rosh. Obgleich die Sprachen verschiedene Entwicklungsstufen durchliefen, sei es für die linguistische Paläontologie möglich, Elemente der ursprünglichen Ausrufe in jeder Sprache zu erkennen.

Um Unterstützung für seine spekulative Theorie zu gewinnen, erarbeitete Marr ein marxistisches Fundament. Er nannte es die „Neue Lehre von der Sprache“. Seiner Hypothese zufolge tendierten alle modernen Sprachen dazu, in eine einzige Sprache – die der kommunistischen Gesellschaft – zu münden. Die Theorie wurde von Partei und Regierung der Sowjetunion anerkannt. 1921 wurde Marr Leiter des Japhetitischen Instituts der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, 1926 Leiter der Russischen Nationalbibliothek und 1930 Vizepräsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. 1930 wurde er als einziges vorrevolutionäres Mitglied der damals zaristischen Akademie der Wissenschaften – selten und unüblich sogar ohne Probezeit – in die Kommunistische Partei aufgenommen. 1933 wurde er mit dem Leninorden ausgezeichnet, konnte ihn aber aufgrund eines Schlaganfalls persönlich nicht entgegennehmen. Er starb in der Nacht vom 19. zum 20. Dezember 1934 und wurde am 22. Dezember, begleitet von 70.000 Menschen, auf dem Friedhof am Alexander-Newski-Kloster beigesetzt.

Stalins Wende 1950

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Im Juni 1950 hatte Stalin sich in Leserbriefen, unter anderem in der Prawda, gegen die Sprachtheorie von Marr gewandt, trotz seiner jahrelangen Unterstützung für Marr. Dem Sprachwissenschaftler zufolge gehörte die Sprache zum Überbau der Gesellschaft, war also abhängig von der jeweiligen materiellen (und gesellschaftlichen) Basis. So konnte man innerhalb der marxistischen Theorie, heißt es beim Kieler Historiker Georg von Rauch, eine neue, übernationale Sprache des Sozialismus vorausahnen, die sich nach dem weltweiten Sieg des Kommunismus durchsetzen würde.[2]

Angeregt wurde die Diskussion durch den georgischen Philologen Arnold Tschikobawa, dem es gelang, mit einem Brief die Aufmerksamkeit Stalins zu wecken. Marr und seine Neue Lehre von der Sprache waren zum damaligen Zeitpunkt anerkannt und wurden offiziell unterstützt, Kritik an ihr war mithin problematisch. Tschikobawas Standpunkt war in etwa der, dass Marr die verschiedenen Sprachsysteme in ein und dasselbe, nämlich sein eigenes, Schema pressen und mithin nicht dem marxistischen Anspruch gerecht werden würde, die wirkliche Entwicklung jeder Sprache nachzuvollziehen (historisch-vergleichend), sondern vielmehr durch Hierarchisierungen auf Grundlage der eigenen vorgefassten Kategorien, Ressentiment, Rassismus etc. Vorschub leiste.[3] Es gibt mehrere Vermutungen, was das Motiv für den Eingriff Stalins in die wissenschaftliche Kontroverse angeht. Neben persönlichen Ambitionen Stalins, vermutet besonders eine Reihe ausländischer Philologen, dass die Argumentation Tschikobawas ausschlaggebend gewesen sei. Außerdem wird vermutet, dass Tschikobawa als Ghostwriter an Stalins Briefen mitgewirkt hat.[4]

So äußerte sich auch die deutsche Philologin Gertrud Pätsch, unter besonderer Berücksichtigung solcher Entwicklungen in der Sprachwissenschaft, die das Dritte Reich begünstigt hätten, 1951 in ihrem Beitrag auf der Konferenz zur Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaften in Berlin, wo u. a. Wissenschaftler wie Wolfgang Harich und Robert Havemann auftraten, mit Kritik an Marr:

„Aber alle bisherigen Versuche, die vorhandenen Sprachen zu einer historischen Stufenfolge zu ordnen, haben bisher versagt, und zwar sowohl in der bürgerlichen Wissenschaft als auch bei den Marristen. Der Grund lag darin, daß man die Begriffe „primitiv“ und „hoch entwickelt“ nicht aus den historischen Gegebenheiten ableitete, sondern sie als gewissermaßen aprioristisch festgelegte Begriffe auf die Sprache und vor allem auf ihren morphologischen Bau übertrug. Nach dieser schematischen, völlig lebensfremden Einteilung erschien dann z. B. das Chinesische immer wieder als primitive Sprache, obgleich längst erwiesen ist, daß es eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich hat und als Produkt eines so komplizierten Prozesses in der Tat nicht mehr primitiv genannt werden kann…“[5]

In diesen sogenannten Briefen zur Sprachwissenschaft („Linguistikbriefe“) urteilte Stalin nun unter anderem, die Sprache sei etwas Selbstständiges abseits von Basis und Überbau, sie sei keine Klassenangelegenheit, sondern gehöre zum ganzen Volk. Wenn mehrere Sprachen zusammenträfen, dann gebe es keine Vermengung zu einer neuen, sondern eine Sprache werde sich durchsetzen. Das Russische sei so immer Sieger gewesen. Durch die Linguistikbriefe, so von Rauch, wurde die kommunistische Ideologie weiter in die Richtung des russisch-nationalen „Sowjetpatriotismus“ getrieben.[6]

Nach Stalin war die Sprache nicht zur Basis (den Produktionsmitteln) zu rechnen, weil sie keine stofflichen Güter hervorbringt, und nicht zum Überbau, weil die russische Sprache schließlich vor und nach der Revolution dieselbe geblieben wäre. Zur Auseinandersetzung zwischen Stalin und Marr (der seine Formel „die Sprache ist ein Überbau zur Basis“ auf Druck hin zur Formel „die Sprache ist ein Produktionsmittel“ geändert hatte) bemerkte Amadeo Bordiga 1953:

„Aber die Produktionsmittel fabrizieren auch keine stofflichen Güter! Der Mensch produziert sie, indem er die Produktionsmittel benutzt. Werkzeuge sind die Mittel, die die Menschen zum produzieren benutzen. Wenn ein Kind den Spaten zum ersten Mal zur Hand nimmt, am falschen Ende, so ruft der Vater ihm zu: ‚Nimm’s am Griff!‘ Dieser Zuruf – der nun zum Erlernten des Kindes gehört – wird, wie der Spaten, in der Produktion genutzt. Die geistige Folgerung Stalins zeigt, dass er es ist, der nicht recht hat. Wenn die Sprache, so sagt er, materielle Güter produzieren würde, so wären die Schwätzer die reichsten Menschen der Erde! Aber ist es denn nicht genau so? Der Arbeiter arbeitet mit seinen Händen, der Ingenieur mit seiner Zunge. Welcher von beiden wird besser bezahlt? […] In allen Epochen ist die Sprache ein Produktionsmittel, aber die einzelnen verschiedenen Sprachen sind Teil des Überbaus…“[7]

  • Н. Я. Марр, И. А. Орбели, Археологическая экспедиция 1916 года в Ван. Петроград 1922.
  • Der japhetitische Kaukasus und das dritte ethnische Element im Bildungsprozess der mittelländischen Kultur. Kohlhammer, Berlin/Stuttgart/Leipzig 1923
  • Rith chowrobs iapheturi enathmecniereba? Petrogradskij Institut živych vostočnych jazykov, Petrograd, 1923
  • Basksko-kavkazskie leksičeskie paralleli. Mecniereba, Tbilisi 1987
  • O jazyke i istorii abchazov. Izdat. Akad. Nauk SSSR, Moskva [u. a.] 1938
  • Ani: rêve d'Arménie. Anagramme Éd., Paris 2001, ISBN 2-914571-00-3
  • Jafetidologija. Kučkovo Pole, Moskva 2002, ISBN 5-86090-049-X

Siehe auch

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Literatur

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  • Gerhard Deeters: Die Sprachwissenschaft in der Sowjetunion. In: Bolko von Richthofen (Hrsg.), Bolschewistische Wissenschaft und „Kulturpolitik“ (Schriften der Albertus-Universität 14) Königsberg – Berlin 1938; S. 236–251;
  • Josif V. Stalin: Concerning marxism in linguistics. Soviet News, London 1950;
  • Lawrence L. Thomas: The linguistic theories of N. Ja. Marr. University of California Press, Berkeley, California [u. a.] 1957;
  • Tasso Borbé: Kritik der marxistischen Sprachtheorie N. Ja. Marr's. Scriptor Verl., Kronberg/Ts. 1974, ISBN 3-589-20021-9
  • René L'Hermitte: Marr, marrisme, marristes: Science et perversion idéologique; une page de l'histoire de la linguistique soviétique. Institut d'Etudes Slaves, Paris 1987, ISBN 2-7204-0227-3
  • Niko Marisa da Ek'vt'ime T'aqaisvilis mimocera. Sak'art'velos Mec'nierebat'a Akademia, Mec'niereba, Tbilisi 1991;
  • Ferenc Havas: A marrizmus-szindróma: Sztálinizmus és nyelvtudomány. Tinta Könyvkiadó, Budapest 2002, ISBN 963-9372-53-6
  • Olga D. Golubeva: N. Ja. Marr. Rossijskaja Nacional'naja Biblioteka, Sankt Petersburg 2002, ISBN 5-8192-0134-5
  • Vladimir M. Alpatov: Istorija odnogo mifa: Marr i marrizm. Editorial URSS, Moskva 2004, ISBN 5-354-00405-5
  • Ekaterina Pravilova: Contested Ruins: Nationalism, Emotions, and Archaeology at Armenian Ani, 1892–1918. In: Ab Imperio: Studies of New Imperial History and Nationalism in the Post-Soviet Space 1 (2016) 69–101.
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Commons: Nikolai Jakowlewitsch Marr – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

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  1. Tuğba Tanyeri-Erdemir, Agency, Innovation, change, continuity: considering the agency of Rusa II in the production of the imperial art and architecture of Urartu in the 7th Century BC. In: Peterson, D. L./Popova, L. M./Smith A. T. (Hrsg.), Beyond the Steppe and the sown. Proceedings of the 2002 University of Chicago Conference on Eurasian Archaeology. Colloquia Pontica 13 (Leiden Brill 2006), 266-267.
  2. Georg von Rauch: Geschichte des bolschewistischen Rußland, 2., überarbeitete Auflage, Frankfurt / Hamburg 1963 (Wiesbaden 1955), S. 402.
  3. A. Tschikobawa: Kogda i kak eto bylo (Russisch: Wann und wie das gewesen ist), Jahreszeitschrift der Ibero-Kaukasischen Sprachwissenschaft, XII, 1985, Seite 9-23. Digitalisat (auf Russisch)
  4. R. Medwedew, Sch. A. Medwedew, E. Dahrendorf: The unknown Stalin.
  5. Gertrud Pätsch: „Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Fragen des Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaft. Protokoll der theoretischen Konferenz der Abteilung Propaganda beim ZK der SED vom 23. bis 24. Juni 1951 im Haus der Presse zu Berlin.“ Dietz Verlag, Berlin, 1952
  6. Georg von Rauch: Geschichte des bolschewistischen Rußland, 2., überarbeitete Auflage, Frankfurt / Hamburg 1963 (Wiesbaden 1955), S. 403.
  7. Amadeo Bordiga: Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus und die Fragen des Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaft. Protokoll der theoretischen Konferenz der Abteilung Propaganda beim ZK der SED vom 23. bis 24. Juni 1951 im Haus der Presse zu Berlin. Dietz Verlag, Berlin, 1952.