Nottebohm-Fall

Liechtenstein vs Guatemala

Der Nottebohm-Fall war ein Rechtsstreit zwischen Liechtenstein und Guatemala, der vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) ausgetragen wurde und mit dem Urteil vom 6. April 1955[1] endete. In dem Rechtsstreit wurden die völkerrechtlichen Mindestanforderungen an die Zuerkennung von Staatsangehörigkeit behandelt.

Ausgangsfall

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Der deutsche Kaufmann Friedrich Nottebohm (* 16. August 1881 in Hamburg, † 28. Januar 1956)[2] war im Jahre 1905 nach Guatemala ausgewandert, wo er mit seinen Brüdern in den Bereichen Handel, Bankwesen und Plantagen tätig wurde. Das Geschäft florierte und Nottebohm übernahm 1937 die Geschäftsleitung.[3]

Im April 1939 kehrte er nach Deutschland zurück. Anlässlich eines Besuchsaufenthalts im Oktober 1939 in Liechtenstein beantragte er die liechtensteinische Staatsangehörigkeit im Wege der Einbürgerung, obwohl er dort zuvor nie gelebt hatte und außer einem dort lebenden Bruder keine persönlichen und geschäftlichen Verbindungen zu Liechtenstein hatte. Er verfügte aber weiterhin über familiäre und geschäftliche Beziehungen zu Deutschland.

Unter Verzicht auf das für eine Einbürgerung bestehende Erfordernis eines dreijährigen Voraufenthalts angesichts seiner Bereitschaft, insgesamt 37.500 Schweizer Franken an die zuständige Gemeinde und den Staat Liechtenstein zu zahlen[4], wurde seinem am 9. Oktober 1939 gestellten Einbürgerungsantrag schon am 13. Oktober 1939 entsprochen. Nottebohm verlor damit seine deutsche Staatsangehörigkeit[5] und verließ Liechtenstein im Januar 1940 nach Erhalt des liechtensteinischen Reisepasses mit einem Visum für Guatemala ausgestattet wieder in Richtung Guatemala. Die Staatsangehörigkeit Guatemalas erwarb Nottebohm trotz seines dortigen langjährigen Aufenthalts und seiner erheblichen wirtschaftlichen Aktivitäten nie.

Nach seiner Rückkehr erklärte Guatemala dem Deutschen Reich am 11. Dezember 1941 den Krieg. Im Rahmen der Deportation von Deutschen aus Lateinamerika während des Zweiten Weltkriegs, bei der die USA mit verschiedenen lateinamerikanischen Ländern zusammenarbeiteten, um über 4000 Personen deutscher Abstammung oder Staatsangehörigkeit in den USA zu internieren, wurde Nottebohm 1943 in Guatemala mit Blick auf seine deutsche Herkunft als feindlicher Ausländer verhaftet, an die USA ausgeliefert und dort bis 1946 interniert. Nach seiner Freilassung kehrte er nach Liechtenstein zurück, da ihm Guatemala die Wiedereinreise verweigerte. 1949 konfiszierte Guatemala sein im Land gelegenes Vermögen mit der Begründung, er sei ein ausländischer Feind. Hiergegen rief Liechtenstein den IGH an und beantragte festzustellen, dass die Festnahme, Auslieferung und Verweigerung der Wiedereinreise sowie die entschädigungslose Enteignung Nottebohms völkerrechtswidrig gewesen seien und Guatemala zum Schadensersatz an Liechtenstein verpflichtet sei. Guatemala hielt Liechtenstein nicht für berechtigt, diplomatischen Schutz über Nottebohm auszuüben.

Entscheidung des IGH

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Der IGH teilte die Auffassung Guatemalas und wies die Klage Liechtensteins ab. Nach Auffassung des IGH sollte der Erwerb der liechtensteinischen Staatsangehörigkeit im Zweiten Weltkrieg Nottebohm die Stellung des Angehörigen eines neutralen Staates sichern. Nottebohm verfügte aber über keine ausreichenden Beziehungen zu Liechtenstein, um die dort erfolgte Einbürgerung, über deren innerstaatliche Wirksamkeit der IGH nicht zu befinden hatte, jedenfalls im völkerrechtlichen Verhältnis als wirksam anzusehen. Der IGH sprach Liechtenstein die diplomatische Schutzberechtigung für Nottebohm ab.

Der IGH stellte klar, dass es jedem Land frei stehe, über sein innerstaatliches Recht zu bestimmen, wer zu seinem Staatsvolk gehören soll. Darin liege grundsätzlich kein das Völkerrecht berührender Vorgang. Denn die Staatsangehörigkeit habe für die meisten Personen ausschließliche Effekte nur innerhalb des Rechtssystems des Staates, der die Staatsangehörigkeit verleiht, und diene der Begründung von Rechte und Pflichten des Staatsangehörigen gegenüber dem Staat, dem er angehört.[6]

Die Frage des diplomatischen Schutzes im Ausland regle dagegen nicht das nationale, sondern das Völkerrecht. Insbesondere bei Doppelstaatern könne es dabei zu Konflikten kommen, die dadurch gelöst werden, dass auf die tatsächliche und effektive Staatsangehörigkeit (real and effective nationality) abgestellt werde. Diese bestimme sich danach, zu welchem Staat der Betroffene die stärkeren tatsächlichen Bindungen habe, wobei Wohnsitz, Mittelpunkt seiner Interessen, familiäre Bindungen, Teilnahme am öffentlichen Leben, Verbundenheit zu einem bestimmten Land, die er seinen Kindern vermittele, usw. zu berücksichtigen seien.[7]

Diese Grundsätze übertrug der IGH auf den Fall Nottebohm. Die nationalen Regelungen über die Verleihung der liechtensteinischen Staatsangehörigkeit müssten von der Völkergemeinschaft nicht akzeptiert werden, wenn keine echte Verbindung (genuine connection) des Betroffenen zum Staat bestehe, dessen diplomatischen Schutz er in Anspruch nehme.[8]

Der IGH stellte fest, dass Nottebohm seit seiner Geburt deutscher Staatsbürger war, stets Verbindungen zu in Deutschland verbliebenen Familienmitgliedern und Freunden aufrechterhalten und stets Geschäftsbeziehungen zu diesem Land hatte. Sein Land habe sich seit mehr als einem Monat im Krieg befunden, und nichts habe darauf hingedeutet, dass Nottebohms damaliger Antrag auf Einbürgerung durch den Wunsch motiviert gewesen sei, sich von der Regierung seines Landes zu distanzieren. Er sei seit 34 Jahren in Guatemala ansässig. Er habe dort seine Aktivitäten ausgeübt. Dort sei der Mittelpunkt seiner Interessen gewesen. Er sei kurz nach seiner Einbürgerung dorthin zurückgekehrt, und es sei der Mittelpunkt seiner Interessen und seiner Geschäftsaktivitäten geblieben. Er sei dort geblieben, bis er 1943 aufgrund von Kriegsmaßnahmen ausgewiesen worden sei. Später habe er versucht, dorthin zurückzukehren, und sich nun über die Weigerung Guatemalas beschwert, ihn wiederaufzunehmen. Auch in Guatemala habe es mehrere Mitglieder seiner Familie gegeben, die versucht hätten, seine Interessen zu wahren.

Im Gegensatz dazu seien seine tatsächlichen Verbindungen zu Liechtenstein äußerst dürftig gewesen. Er habe keinen festen Wohnsitz und keinen längeren Aufenthalt in diesem Land zum Zeitpunkt seines Einbürgerungsantrags gehabt. Mit der Klage wurde vorgetragen, dass er dort einen Besuch abgestattet habe, und es sei der vorübergehende Charakter dieses Besuchs durch die Aufforderung, das Einbürgerungsverfahren unverzüglich einzuleiten und abzuschließen, bestätigt worden. Die Absicht, sich dort niederzulassen, sei zu diesem Zeitpunkt nicht geäußert oder in den folgenden Wochen, Monaten oder Jahren verwirklicht worden – im Gegenteil, er sei sehr bald nach seiner Einbürgerung nach Guatemala zurückgekehrt und habe jede Absicht gezeigt, dort zu bleiben. Soweit Nottebohm 1946 nach Liechtenstein gegangen sei, sei dies geschehen, weil Guatemala ihn nicht habe wiederaufnehmen wollen. Es gebe keine Hinweise auf die Gründe, die den Verzicht auf das Wohnsitzerfordernis des liechtensteinischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1934 rechtfertigten, der ihm stillschweigend gewährt worden sei. Es sei auch nicht behauptet worden, dass er in Liechtenstein wirtschaftliche Interessen oder Tätigkeiten ausgeübt habe oder ausüben werde, und es sei auch keine Absicht geäußert worden, alle oder einen Teil seiner Interessen und Geschäftstätigkeiten nach Liechtenstein zu verlegen. Die einzigen Verbindungen zwischen dem Fürstentum und Nottebohm seien die bereits erwähnten kurzen Aufenthalte und die Anwesenheit eines seiner Brüder in Vaduz.[9]

Infolgedessen war Guatemala nicht verpflichtet, ihn als Liechtensteiner zu behandeln und Liechtenstein hatte kein Recht zur Ausübung diplomatischen Schutzes.[10]

Bedeutung der Entscheidung des IGH

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Der IGH hat mit der Entscheidung im Fall Nottebohm Grenzen für die Gestaltungsfreiheit des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts aufgezeigt, soweit es um die internationale Akzeptanz von Einbürgerungen geht.

Die Behauptung bestehenden Völkergewohnheitsrechts einer genuine connection wurde jedoch mit dem Hinweis angezweifelt, dass die nationalen Staatsangehörigkeitsregelungen in der Welt vielfältig seien, zum Teil viel schwächere Anknüpfungspunkte für die Verleihung von Staatsangehörigkeit ausreichend sein ließen und auch auf einen permanenten Aufenthalt im Land verzichteten. Eine entsprechende einheitliche Praxis der Völkergemeinschaft sei im Zeitpunkt der Entscheidung – entgegen den Ausführungen des IGH – tatsächlich nicht zu beobachten gewesen.[11] Hinzu komme, dass im Fall Nottebohm kein Staat mehr für dessen diplomatischen Schutz zuständig sei, was Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wonach jeder das Recht auf eine Staatsangehörigkeit habe, widerspreche. Die International Law Commission (ILC) habe sich in ihrem Artikelentwurf über den diplomatischen Schutz vom Nottebohm-Urteil dadurch distanziert, dass sie die Ausübung diplomatischen Schutzes nicht vom Vorliegen einer „natürlichen Nahebeziehung“ abhängig mache.[12]

Das Urteil des IGH sei dennoch ein Akt der Rechtsschöpfung, der zum Ausgangspunkt einer entsprechenden Regel des Völkergewohnheitsrechts werden könne.[11]

Für Liechtenstein bedeutete die Entscheidung das Ende der Finanzeinbürgerung.[13]

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. Amtlich englisch Nottebohm Case (second phase), Judgement of April 6th, 1955: I.C.J. Reports 1955, p. 4.
  2. Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online, Stichwort „Nottebohm-Fall“, abgerufen am 26. Dezember 2024.
  3. Zu den wirtschaftlichen Aktivitäten der Familie Nottebohm in Guatemala – die Einbürgerung Friedrich Nottebohms nach Liechtenstein wird auf den Seiten 83 und 87 erwähnt – siehe auch Christiane Berth: Aus Hamburg in die Kaffee-Welten Zentralamerikas: Die Nottebohm Hermanos in Guatemala, in: Ulrich Mücke und Jörn Arfs (Hrsg.), Händler, Pioniere, Wissenschaftler. Hamburger in Lateinamerika (PDF), Münster 2010, S. 67–88.
  4. IGH, Urteil vom 30. März 1955 – Liechtenstein vs. Guatemala –, ICJR 1955, 4 (15); Epping in Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rdnr. 85.
  5. § 25 Abs. 1 StAG in der 1939 geltenden Fassung.
  6. IGH, Urteil vom 30. März 1955 – Liechtenstein vs. Guatemala –, ICJR 1955, 4 (20).
  7. IGH, Urteil vom 30. März 1955 – Liechtenstein vs. Guatemala –, ICJR 1955, 4 (22).
  8. IGH, Urteil vom 30. März 1955 – Liechtenstein vs. Guatemala –, ICJR 1955, 4 (23); Epping in Ipsen, Völkerrecht, § 7 Rdnr. 71.
  9. IGH, Urteil vom 30. März 1955 – Liechtenstein vs. Guatemala –, ICJR 1955, 4 (25).
  10. IGH, Urteil vom 30. März 1955 – Liechtenstein vs. Guatemala –, ICJR 1955, 4 (26); von Arnauld, Völkerrecht, § 2 B III Rdnr. 80 (S. 31).
  11. a b Becker in Menzel/Pierlings/Hoffmann, Völkerrechtsprechung, Tübingen 2005, S. 152.
  12. Hilpold, NJW 2014, 1071 (1073).
  13. Historisches Lexikon des Fürstentums Liechtenstein online, Stichwort „Finanzeinbürgerung“, abgerufen am 26. Dezember 2024.