Die Orgel der Großen Kirche (Leer) weist einen gewachsenen Registerbestand aus einem Zeitraum von über vierhundert Jahren auf. Die historische Orgel der Großen Kirche im ostfriesischenLeer ist im Laufe der Zeit immer wieder erweitert worden, wobei ein Grundbestand erhalten blieb. Die zwölf ganz oder teilweise historischen Register gehen zum Teil auf das 16. Jahrhundert zurück. Das Instrument verfügt seit Abschluss der Restaurierung durch Hendrik Ahrend im Jahr 2018 über 48 Register, die auf drei Manuale und Pedal verteilt sind. Sie ist damit die größte Orgel in der Orgellandschaft Ostfriesland.[1]
Die Geschichte der Orgel hat im Kloster Thedinga ihren Ursprung, für das vermutlich Andreas de Mare um 1570 eine Orgel schuf. Diese vermacht Graf Enno III. 1609 der Reformierten Kirchengemeinde in Leer. Marten de Mare wurde beauftragt, die Klosterorgel abzubauen und in der alten Liudgeri-Kirche in der Nähe des Plytenberges wieder aufzubauen. Der Pastor Wessel Onken konnte in seiner 1763 verfassten Chronik Beschryvink van het oude vlek Leer nicht sagen, ob es sich bei dieser Maßnahme um einen Um- oder Neubau gehandelt hat. Möglicherweise verwendete Marten de Mare die Pfeifen der Klosterorgel für den Umbau in Leer und den Prospekt für einen Orgelneubau in der St.-Georg-Christophorus-Jodokus-Kirche zu Stellichte im Jahre 1610.[2]
Jüngere Untersuchungen am Pfeifenwerk der Leeraner Orgel und an den historischen Prospektpfeifen der Renaissance-Orgel in Stellichte haben die unmittelbare Verwandtschaft beider Orgeln bestätigt, konnten jedoch die These von einer Aufteilung der Klosterorgel weder bestätigen noch widerlegen. Eine unmittelbare Verwandtschaft der beiden Instrumente ist jedoch durch den Vergleich der Pfeifeninskriptionen nachgewiesen worden.[3] Nachgewiesen wurde auch, dass die Orgel der Reformierten Kirche in Leer Pfeifen enthält, die vor 1609 ein Orgelbauer der Familie de Mare schuf und die 1609 Marten de Mare umarbeitete und wiederverwendete.
Die ursprünglich kleine Leeraner Orgel wurde im Laufe von vierhundert Jahren zu einer großen Stadtorgel erweitert, ohne dass der Grundbestand erneuert wurde. Für 1685 und 1733–1734 sind Reparaturen belegt, wobei kein Orgelbauer namentlich genannt wird. Möglicherweise waren Joachim Kayser und Johann Friedrich Constabel tätig. Nach 1750 habe Dirk Lohman eine „grand restauration“ durchgeführt, was sich urkundlich aber kaum nachweisen lässt.[5]
Einen eingreifenden Umbau, der nahezu einem Neubau gleichkam, nahm Albertus Antonius Hinsz (1763–1766) vor, der auch ein neues äußeres Gehäuse mit reichem barocken Schnitzwerk schuf, das zum Teil noch erhalten ist. Das innere Tragwerk des Hauptwerks ist wesentlich älter und stammt möglicherweise noch aus der de-Mare-Orgel, deren Proportionen sich noch im Prospekt widerspiegeln.[6] Das neue Rückpositiv umfasste acht Register, die Orgel insgesamt 20 Register.[7]
Johann Friedrich Wenthin überführte 1787 das Instrument nahezu unverändert in die heutige Kirche, die 1785–1787 gebaut wurde. Die durch die Umsetzung durcheinander geratenen kleinen Pfeifen wurden von Wenthin neu geordnet. Reparaturen und Jahrespflegen sind von Hinrich Just Müller (1800–1810), Wilhelm Eilert Schmid (?) (1811) und Herman Eberhard Freytag (1821) belegt.
In den Jahren 1845–1850 fand ein umfassender Erweiterungsumbau durch Wilhelm Caspar Joseph Höffgen und nach seinem Tod im Jahr 1849 durch Brond de Grave Winter und dessen Neffen Johann Visser statt. Höffgen rückte das Gehäuse vor, fügte ein selbstständiges Pedalwerk mit sechs Registern hinzu und setzte das Rückpositiv als Oberwerk mit einem neuen Prinzipal 8′ im Prospekt auf das Hauptwerk, was eine Erneuerung der Traktur nach sich zog. Der Prospekt wurde auf diese Weise erheblich verändert; Emder Bildhauer schufen neues Schnitzwerk. Des Weiteren ersetzte Höffgen einige Register. Die Orgel verfügte nun über 27 Register.[7]
Entsprechend dem Zeitgeschmack mussten in den folgenden Jahrzehnten aufgrund der Maßnahmen von Gebr. Rohlfing (1888) und Friedrich Klassmeier (1924) weitere alte Register neuen weichen. Johann Diepenbrock (1900) arbeitete an der Traktur. Die 1917 für Rüstungszwecke abgegebenen zinnhaltigen Prospektpfeifen wogen 227 kg und wurden mit 1.770,65 DM erstattet. Sie wurden 1924 von Klassmeier durch Zinkpfeifen ersetzt.[8]
Ungewöhnlich ist der heutige äußere Aufbau mit einem linken und einem rechten Rückpositiv, der auf Paul Ott (1953–1955) zurückgeht. Zuvor (1951) war die Orgelempore zu einer Chorempore umgebaut worden. Ott veränderte auch den Prospekt, vergrößerte die Pedalgehäuse auf 16-Fuß-Höhe und beseitigte einen großen Teil des Schnitzwerks einschließlich der Gehäusebekrönungen. Er schuf den freistehenden Spieltisch mit einer neuen Mechanik und erweiterte den Klaviaturumfang. Höffgens Oberwerksgehäuse stand seitdem leer. Ott übernahm bei seiner Erweiterung der Orgel 19 ältere Register. Die Registerzahl war auf 37 Stimmen angewachsen.[7]
In verschiedenen Bauabschnitten konsolidierten Ahrend & Brunzema von 1963 bis 1971 die Orgel (zunächst Hauptwerk und Pedal, 1971 die Rückpositive). Alle sieben modernen Zungenregister wurden erneuert, das gesamte Pfeifenwerk neu intoniert, Einzelpfeifen ersetzt, die Windladen überarbeitet und die Windversorgung durch zwei neue Magazinbälge verbessert.
Seit 1971 weist das Instrument folgende Disposition auf:[4]
LKMDWinfried Dahlke, Leiter des Organeum (Weener) und Organist an der Großen Kirche, inventarisierte die Tonbuchstaben auf dem alten Pfeifenbestand im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts (2006–2008) und erstellte in Zusammenarbeit mit Jürgen Ahrend eine Dokumentation der Forschungsergebnisse und der Baugeschichte der Orgel.[9] Diese Untersuchung bildete die Grundlage für die Restaurierung, für die sich der Kirchenbauverein der Großen Kirche einsetzte. Angesichts des gewachsenen Bestandes war eine Rekonstruktion auf einen bestimmten früheren Zustand nicht sinnvoll, sodass eine Konservierung des historischen Materials angestrebt wurde und nur spätere mangelhafte Veränderungen rückgängig gemacht werden sollten. Eine internationale Expertengruppe beriet auf einer Orgelkonferenz im Januar 2012 über ein mögliches Restaurierungskonzept.[10]
Die Restaurierung wurde in zwei Bauabschnitten durchgeführt. Von 2014 bis 2015 wurden die schwergängige mechanische Traktur erneuert und die Spielanlage im Untergehäuse rekonstruiert sowie die Anlage des leerstehenden Oberwerks zum Ausbau vorbereitet. Ahrend sanierte das teils im Kern barocke Gehäuse und die Schleierbretter und reich gestalteten Blendflügel von 1845–1850. Hierfür lagen Spenden und öffentliche Fördermittel in Höhe von € 210.000 vor. In einem zweiten Bauabschnitt wurden von 2016 bis 2018 für € 600.000 das historische Pfeifenwerk mit 2500 Pfeifen restauriert, die aufgrund des erhöhten Winddrucks angelängt werden mussten. Ahrend erneuerte alle Prospektpfeifen aus reinem Zinn, fertigte die Windladen des Rückpositivs neu an und rekonstruierte die ursprüngliche Windanlage mit vier Keilbälgen.[11] Für das Oberwerk, das elf Register mit insgesamt etwa 800 Pfeifen umfasst, wurden die Windlade und acht Register rekonstruiert und drei Register von Hinsz und Höffgen übernommen. Oberwerk und rechtes Rückpositiv sind vom dritten Manual spielbar. Alle minderwertigen Register, die zwischen 1888 und 1955 entstanden, darunter etwa 20 Ott-Register, wurden durch neue Register im historischen Stil ersetzt.[12] Seit 2018 lehnen sich die Registernamen an die Schreibweise der Register der Orgel der Norder Ludgerikirche an. Während der Restaurierungsmaßnahmen blieb die Orgel in Teilen spielbar.
Innerhalb der Orgellandschaft Ostfriesland mit ihrem reichen Orgelbestand aus sechs Jahrhunderten stellt die Orgel in Leer nach der gotischen Orgel der Rysumer Kirche das zweitälteste Instrument dar. Eingreifende Umbauten haben zwar die äußere Gestalt mehrfach stark verändert, ein Grundbestand an alten Pfeifen wurde aber jeweils übernommen. Der gewachsene Zustand der Leeraner Orgel umfasst Pfeifen aus dem 16., 17., 18., 19., 20. und 21. Jahrhundert. Zwölf historische Register sind ganz oder teilweise erhalten, sieben Zungenregister wurden von Ahrend & Brunzema (1971) übernommen und 13 Register von Hendrik Ahrend rekonstruiert sowie 16 im historischen Stil ergänzt. Sie ist das einzige Werk von Hinsz auf deutschem Boden. Nach Abschluss der Restaurierung im Jahr 2018 ist sie maßgeblich durch den barocken Stil geprägt.[13] Mit 48 Registern, die auf vier Manualwerke und Pedal verteilt sind, ist sie die größte Stadtorgel in Ostfriesland.[14]
Im Sommer finden regelmäßig Orgelkonzerte im Rahmen des „Internationalen Leeraner Orgelsommers“ in der Großen Kirche statt.[15]
Winfried Dahlke, Jürgen Ahrend: Die Dokumentation der Orgel in der Evangelisch-Reformierten Großen Kirche zu Leer – Das historische Pfeifenwerk. Noetzel, Wilhelmshaven 2011, ISBN 3-7959-0927-9 (Erste Fassung 2008 Print on Demand).
Walter Kaufmann: Die Orgeln Ostfrieslands. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1968, S.153–155.
Kirchenrat der Ev.-ref. Kirchengemeinde Leer (Hrsg.): Orgel Grosse Kirche Leer. Information zur Geschichte und Situation der Orgel in der Grossen Kirche zu Leer. Sollermann, Leer 2014.
Günter Lade (Hrsg.): 40 Jahre Orgelbau Jürgen Ahrend 1954–1994. Selbstverlag, Leer-Loga 1994.
Uda von der Nahmer: Windgesang. Orgeln, Wind und Verwandte. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich 2008, ISBN 978-3-940601-03-2, S.26–27.
Wessel Onken: Aus Leers Vergangenheit (Chronik des Fleckens Leer). Loeser, Reinbek 2007.