Otto Küsel

deutscher Funktionshäftling in Konzentrationslagern

Otto Küsel (* 16. Mai 1909 in Berlin; † 17. November 1984 in Oberviechtach[1]) war deutscher Funktionshäftling in dem Konzentrationslager Auschwitz, der seinen beschränkten Handlungsspielraum beispielhaft zugunsten anderer Häftlinge einsetzte.

Haft in deutschen Konzentrationslagern

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Sein Lebensunterhalt verdiente er in den 20er und 30er Jahren mit Betteln und Hausieren, wie er in seinem einzigen Interview Anfang der 80er‑Jahre erzählte. Die Zeit nach der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1935 verbrachte er offenbar überwiegend in Gefängnissen,[2] Küsel war aufgrund verschiedener Vermögensdelikte inhaftiert worden.[3] Im Februar März 1937 kam er einer Vorladung der Gestapo nach, bei der er verhaftet wurde und als „Berufsverbrecher“ ins KZ Sachsenhausen eingeliefert.[2]

Er wurde am 20. Mai 1940 als einer von 30 kriminellen Häftlingen aus dem KZ Sachsenhausen ins Stammlager des KZ Auschwitz überstellt. Die 30 Häftlinge wurden von dem SS-Mann Gerhard Palitzsch begleitet. In Auschwitz erhielt Küsel die Häftlingsnummer 2 und gehörte zu den Kapos in diesem Lager. Kapos standen in der Lagerhierarchie gleich unter den Wachmannschaften.[4]

Küsel koordinierte in Auschwitz als Kapo den Einsatz der Arbeitskommandos. Im Gegensatz zu vielen anderen Häftlingen in ähnlichen Positionen nutzte Küsel seinen Handlungsspielraum, um Häftlingen beispielsweise durch die Zuweisung leichterer Arbeiten zu helfen.[3] Küsel äußerte sich 1969 in einem Gespräch mit Hermann Langbein folgendermaßen: „Natürlich konnte ich nicht jedem zu einem guten Kommando verhelfen, der mich darum gebeten hat. Wenn ich einen abweisen musste, dann sagte ich ihm: Komm nur immer wieder! Einmal ist es dann doch gelungen. Ich habe Neuzugänge in die schlechten Kommandos eingeteilt und diejenigen, die schon eine Zeitlang dort arbeiten mußten, in bessere versetzt.“[5] Er warnte Häftlinge „sich nicht als Akademiker oder Offiziere zu erkennen geben, denn das käme einem Todesurteil gleich. Er sprach Häftlingen Trost zu, baute sie psychologisch auf. Küsels Schreibstube wurde zur wichtigsten Anlaufstelle des polnischen Widerstands. Fluchtwillige wurden Kommandos zugeteilt, in denen sie besser abhauen konnten. Im Museum des Lagers gibt es Hunderte Berichte geben, in denen Küsel positiv erwähnt wird.“[2]

Am Nachmittag des 29. Dezember 1942 floh Otto Küsel zusammen mit den drei Polen Jan Baraś (eigentlich Jan Komski), Mieczysław Januszewski und Bolesław Kuczbara aus Auschwitz.[6] Die vier Häftlinge entwichen mittels eines durch den Arbeitsdienst organisierten Pferdewagens, der außerhalb des Einzugsbereichs des KZ Auschwitz zurückgelassen wurde. Küsel hinterließ im Pferdewagen einen Brief, der später von Angehörigen der Lager-SS gefunden wurde. In diesem Brief wies er auf den Ofen in der Stube des unter den Häftlingen gefürchteten Lagerältesten des Stammlagers Bruno Brodniewicz (Häftlingsnr. 1) hin. In dem Ofen hatte Brodniewicz Gold und andere Wertgegenstände illegal versteckt, die seitens der Lager-SS nach Küsels Hinweis gefunden wurden. Brodniewicz kam daraufhin in den Bunker und wurde als Lagerältester abgelöst.[7]

Küsel, der anschließend in Warschau bei einer polnischen Widerstandsgruppe aktiv war, wurde dort nach einem Dreivierteljahr durch die Gestapo verhaftet.[7] Von September 1943 bis November 1943 war Küsel wieder in Auschwitz interniert.[8] Während der Haft traf er wieder auf den ihm bekannten und berüchtigten SS-Oberscharführer Gerhard Palitzsch, der ebenfalls im „Bunker“ inhaftiert war. Palitzsch war wegen einer illegalen intimen Beziehung zu einem weiblichen jüdischen Häftling festgenommen worden.[9]

Im Rahmen einer Amnestie beim Amtsantritt des neuen Lagerkommandanten Arthur Liebehenschel wurde Küsel aus dem Bunker entlassen.[10] Am 9. November 1944 überstellte man ihn von Auschwitz ins KZ Flossenbürg.[8]

Nach dem Krieg

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Nach Kriegsende wurde Küsel noch 1945 die polnische Staatsbürgerschaft ehrenhalber angeboten. Küsel lebte später zurückgezogen in Bayern und erhielt aufgrund seiner Hilfeleistungen viele Dankschreiben ehemaliger Mithäftlinge.[7] In der Oberpfalz heiratete er Ende 1945 eine Frau aus der Region und hatte zwei Töchter. Er arbeitete zunächst in der Landwirtschaft, dann als Verkaufsfahrer für einen Obst- und Gemüsegroßhändler.[2]

Küsel war einer von 211 Auschwitzüberlebenden, die im ersten Frankfurter Auschwitzprozess eine Aussage machten.[11] Im Auschwitzprozess wurde er hart befragt. Man versuchte ihn als verlängerten Arm oder gar Spitzel der Lagerleitung zu verleumden.[2]

Literatur

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  • Monika Bernacka: Otto Küsel - Green Triangle. On the 100th Anniversary of his Birth. In: Oś—Oświęcim, People, History, Culture magazine, No. 5, May 2009, S. 8–9 (Digitalisat, englisch), zuletzt abgerufen am 29. April 2010.
  • Sebastian Christ: Auschwitzhäftling Nr. 2: Otto Küsel – Der unbekannte Held des Konzentrationslagers. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2024, ISBN 978-3534610259.
  • Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. 1. Aufl., 1989. Zitiert nach der Italienischen Übersetzung von Gianluca Picchinini (Digitalisat, italienisch).
  • Sebastian Dregger: Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz – und das Beispiel Otto Küsels. In: Aventinus. Die Historische Internetzeitschrift von Studenten für Studenten, Ausgabe 04 – Wintersemester 07/08.
  • Ernst Klee: Auschwitz. Täter, Gehilfen und Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-10-039333-3.
  • Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein, 1980, ISBN 3-548-33014-2.
  • Alfred Wolfsteiner: „He was an exceptional man, and a good one“ oder: „Es zählt nur der Mensch, nicht was er ist“. In: Jahresband zur Kultur und Geschichte im Landkreis Schwandorf, Band 24, 2014, S. 147–158.
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Einzelnachweise

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  1. Präzise Lebensdaten nach Ernst Klee: Auschwitz. Täter, Gehilfen und Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon, Frankfurt am Main 2013, S. 242
  2. a b c d e Der Kleinkriminelle Otto Küsel, der in der KZ-Hölle zum Helden wurde. In: rnd.de. 26. Dezember 2024, abgerufen am 26. Dezember 2024.
  3. a b Dregger, Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz – und das Beispiel Otto Küsels., Kapitel 2B
  4. Czech, Danuta: Kalendarium, S. 5 (PDF; 264 kB)
  5. Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz, Ullstein, München und Frankfurt a. M., 1980, S. 180 u. 181
  6. Czech, Danuta: Kalendarium. S. 107f.@1@2Vorlage:Toter Link/www.associazioni.milano.it (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Mai 2019. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  7. a b c Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz; Frankfurt am Main, 1980; S. 181
  8. a b Czech, Danuta: Kalendarium. 1942-2.pdf, S. 108. Fußnote 1
  9. Hermann Langbein: Menschen in Auschwitz; Frankfurt am Main, 1980; S. 458
  10. Bernacka, Otto Küsel - Green Triangle. On the 100th Anniversary of his Birth, 2009, S. 8f
  11. 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965)