Poetischer Plural
Der Poetische Plural wird von Dichtern (selten von Prosaikern) statt des Singulars gesetzt, obwohl keine Mehrzahl bezeichnet wird. Dieses Phänomen begegnet vor allem in den Sprachen Griechisch und Latein. Nicht selten ist die Verwendung des Poetischen Plurals durch metrische Zwänge bedingt; häufig jedoch dient der Plural zur Differenzierung: „die Himmel“ statt „die Sphären des Himmels“ bzw. zur Amplifizierung,[1] das heißt, der Dichter lässt das Erwähnte durch die Pluralform größer wirken.[2]
Beispiele aus der griechischen Literatur
Bearbeitenἐνὶ φρεσί[3] (ení phresí; in den Sinnen)
ἐν σπέσσι[4] (en spessi; in Höhlen)
ἐν στήθεσσι[5] (en stḗthessi; in Brüsten)
„Plural bei Homer oft ohne erkennbare Bedeutung statt des Singulars“[6]
Beispiele aus der lateinischen Literatur
BearbeitenOft findet sich der Poetische Plural bei Körperteilen:
cervicibus[7] (die Nacken)
colla[8] (die Hälse)
corpora[9] (die Körper)
guttura[10] (die Kehlen)
ora[11] (die Münder)
pectora[12] (die Brüste)
terga[13] (die Rücken)
Nicht selten erscheint er bei Begriffen, die Elemente bezeichnen:
aequora[14] (die Meeresspiegel)
aera[15] (die Lüfte)
ignes[16] (die Feuer)
Auch bei Begriffen, die Emotionen bezeichnen, ist er häufig:
amores[17] (Liebe)
gaudia[18] (die Freuden)
irae[19] (Zorn)
odia[20] (Hass)
Außerdem:
coepta[21] (die Anfänge)
currus[22] (die Wagen)
dona[23] (die Geschenke)
sceptra[24] (die Szepter)
silentia[25] (Schweigen)
Beispiele aus der deutschen Literatur
Bearbeiten„Der Göttliche lächelt, er siehet, mit Freuden“[26]
„Er schaute mit vergnügten Sinnen“[27]
„‚Nehmt hin die Welt!‘, rief Zeus von seinen Höhen“[28]
„Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte“[29]
Anmerkungen
Bearbeiten- ↑ Raphael Kühner, Bernhard Gerth: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Satzlehre. Erster Teil. Vierte Auflage, Leverkusen 1955, S. 18
- ↑ Sophokles, Antigone 1041: ἐς Διὸς θρόνους: auf Zeus’ Throne, d. h. auf Zeus’ großen Thron
- ↑ Homer, Ilias 1,297
- ↑ Homer, Odyssee 1,15
- ↑ Homer, Odyssee 20,22
- ↑ Eduard Bornemann: Auswahl aus Homers Odyssee. Wortkunde. Diesterweg. Frankfurt/Main u. a., 17. Auflage 1970, S. 9
- ↑ Vergil, Aeneis 2,219; Ovid, Metamorphosen 1,542
- ↑ Vergil, Aeneis 2,721; Ovid, Metamorphosen 3,422
- ↑ Ovid, Metamorphosen 2,326
- ↑ Ovid, Metamorphosen 3,90
- ↑ Vergil, Aeneis 6,108; Ovid, Metamorphosen 1,93; 1,181; 1,484; 2,324; 8,229
- ↑ Vergil, Aeneis 1,355; Ovid, Metamorphosen 11,411
- ↑ Vergil, Aeneis 2,219; Ovid, Metamorphosen 2,187
- ↑ Vergil, Aeneis 1,142; Ovid, Metamorphosen 8,149
- ↑ Vergil, Aeneis 1,300; Ovid, Metamorphosen 10,279
- ↑ Vergil, Aeneis 1,743; Ovid, Metamorphosen 10, 582
- ↑ Vergil, Aeneis 4,28; Ovid, Metamorphosen 9,519
- ↑ Vergil, Aeneis 1,502; Ovid, Metamorphosen 6,514
- ↑ Vergil, Aeneis 1,130; Ovid, Metamorphosen 1,166 (iras)
- ↑ Vergil, Aeneis 2,96; Ovid, Heroides 7,47
- ↑ Ovid, Metamorphosen 1,2
- ↑ Ovid, Metamorphosen 2,387
- ↑ Ovid, Metamorphosen 10,52
- ↑ Ovid, Metamorphosen 1,596; 11,560
- ↑ Vergil, Aeneis 2,755; 10,63; Ovid, Metamorphosen 10,30; 10,53
- ↑ Johann Wolfgang von Goethe: Der Gott und die Bajadere, V. 32
- ↑ Friedrich Schiller: Der Ring des Polykrates, Vers 2
- ↑ Friedrich Schiller: Die Teilung der Erde, V. 1
- ↑ Eduard Mörike: Er ist’s, V. 1–2
Literatur
Bearbeiten- Eduard Hailer: Beiträge zur Erklärung des poetischen Plurals bei den römischen Elegikern. Programm des Königlichen humanistischen Gymnasiums zu Freising für das Schuljahr 1901/02. Freising 1902
- Raphael Kühner, Bernhard Gerth: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Satzlehre. Erster Teil. Vierte Auflage, Leverkusen 1955
- Raphael Kühner, Carl Stegmann: Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre. Erster Band. Darmstadt 1966, S. 82–85
- Paul Maas: Studien zum poetischen Plural bei den Römern. Teubner, Leipzig 1903
- Gregor Maurach: Lateinische Dichtersprache. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, § 121 = S. 84–86 (mit Angabe älterer Literatur in Anm. 82)