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Pädagogische Diagnostik bezeichnet ein Verfahren, das unterschiedliche Methoden und Techniken aus der empirischen Sozialforschung zusammenführt, um lebensgeschichtliche Selbstbeschreibungen, wie sie im Rahmen der Datenerhebung zustande kommen, auf die in ihnen wirksamen handlungsleitenden Muster zu bestimmen. Diese Muster sind die Grundlage für die Entwicklung von Handlungsstrategien, die, seien sie noch so deviant oder gar delinquent, einer inneren Logik folgen. Sie sind das Produkt eines komplexen Bildungsprozesses. Warum ein Jugendlicher tut, was er tut, lässt sich nur verstehen, wenn dieser Bildungsprozess und seine zentralen Wirkmechanismen entschlüsselt und verstanden werden. Von der Realitätstauglichkeit dieser Dechiffrierung hängt ab, ob die ermittelte lebensgeschichtliche Problematik des Jugendlichen und die vorgesehene Maßnahme konstruktiv zur Passung gebracht werden können.

Handlungsleitende Muster entsprechen dem, was sich in der Biographieforschung unter dem Begriff der “Fallstruktur” eingebürgert hat. Auf der grundlegenden Ebene jeder Persönlichkeit sorgen also bestimmte Muster dafür, dass ein Individuum sich in der sozialen Welt orientieren und an ihr teilhaben kann. Die »Pädagogische Diagnostik« zielt darauf, diejenigen Strukturen zu ermitteln, die einen Menschen zu einem unverwechselbaren Individuum mit einzigartiger Identität bzw. Subjektivität machen. Diese Ebene ist dem einzelnen Subjekt selbst nicht vollständig zugänglich. Gerade deshalb erweisen sich fehlgelaufene Sozialisationsprozesse oftmals als besonders hartnäckig, weil der Träger eines problematischen Sozialverhaltens subjektiv einen ganz anderen Zugriff auf die von ihm verursachten Ereignisse hat, als beispielsweise ein außenstehender Beobachter. In der Konsequenz dieser Tatsache liegt ein pädagogisches Kernproblem: Wenn es nämlich nicht gelingt, dem Kind oder Jugendlichen sinnhaft zu vermitteln, warum z. B. sein Verhalten nicht akzeptabel ist, er sich selber schadet, folgenreiche Fehler im Hinblick auf sein weiteres Leben begeht etc., kann eine auf Autonomie gerichtete Interventionsstrategie von vornherein nicht gelingen. Die angestrebte Verhaltensänderung ist nämlich immer Ausdruck eines Bildungsfortschrittes und gründet immer auf Einsicht und Erkenntnis. Wie dieser jedoch herbeigeführt werden kann, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit die fallspezifischen Muster der Wirklichkeitsverarbeitung erfasst werden konnten, um darauf aufbauend das fragliche Problem an der Wurzel anzugehen.

Das Analyseverfahren

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Objektive Hermeneutik

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Das Verfahren, das der Pädagogischen Diagnostik zugrunde liegt, findet in den Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten Verwendung: Die objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann. Hierbei handelt es sich um ein seit nahezu dreißig Jahren kontinuierlich fortentwickeltes Verfahren der Textanalyse. Seit ihren Anfängen in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt »Elternhaus und Schule« ist es zu einem Instrument herangereift, das es den InterpretInnen von Texten gleich welcher Art erlaubt, sich von den Selbstdeutungen, wie sie in authentischen Handlungsprotokollen wie z.B. offenen Interviews, Tagebüchern und Bildern bzw. Zeichnungen vorkommen, zu lösen und den vorliegenden Text auf seine objektiven Bedeutungsstrukturen hin auszuleuchten. Die Grundüberlegung besteht darin, dass die Sinnproduktionen von Individuen regelgeleitet erfolgen, d.h. konkrete Texte werden als Produkte einer spezifischen Individualität betrachtet, die nur dadurch für andere verständlich sind, weil sie durch Regeln erzeugt werden, die prinzipiell rekonstruierbar sind, d.h. anderen sprach- und handlungsfähigen Individuen mindestens intuitiv vertraut sind (sog. “tacit knowledge”). Das Verfahren der Pädagogischen Diagnostik stellt nun darauf ab, diese Persönlichkeitsmuster vermittels ihrer unverwechselbaren Regelverwendung zu bestimmen.

Vorgehen am Text

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Analyse der objektiven Daten

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Im ersten Schritt der Analyse werden die Daten des Familiensystems (Geburten, Wohnorte, Einkommensverhältnisse, Berufe etc.) Punkt für Punkt interpretiert. Der Sinn dieser Operation besteht darin zu klären, was die Familie zu einem bestimmten Zeitpunkt ist und wie es zu dem konkreten Familiensystem kam. Dabei liegt ein besonderes Augenmerk darauf, wie ein gegebenes Familiensystem sich angesichts konkreter sozio-ökonomischer Bedingungen (wie z.B. Arbeitslosigkeit, Wohnraummangel usw.) behauptet, welche Strategien es aufbietet, um Bedrohungen abzuwehren, aber auch, welche positiven Identifikationsmöglichkeiten die Nachkommen antreffen, was sich z.B. in der Fortführung einer bestimmten beruflichen Orientierung über mehrere Generationen hinweg zeigt. Auf der Basis der Dateninterpretation können dann Fragestellungen entwickelt werden, die die spätere Arbeit am Text anleiten und präzisieren helfen. Dieser Schritt der Analyse stellt eine gedankenexperimentell erzeugte Normalitätsfolie bereit. Wenn man dann die tatsächlichen Ereignisse und Entscheidungen der Familienmitglieder (für Schultyp, Berufswahl, Lebenspartner o.ä.) darauf bezieht, erscheint das Entscheidungshandeln in einem viel konturierteren Maße als das, was es im Grundsatz immer ist, nämlich eine bewusst oder unbewusst vollzogene Auswahl unter alternativen Möglichkeiten. Die hier zugrundeliegende Theorie geht davon aus, dass die Spezifik eines gegebenen Familiensystems sich daran ablesen lässt, wie es sich bietende Chancen nutzt, was es überhaupt als Chance begreift, welche Präferenzen den Entscheidungen zugrunde liegen, also allgemein gesprochen: was es in Bezug auf sich selbst als normal und angemessen versteht.

Analyse des authentischen Handlungsprotokolls

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Die einzelnen Abschnitte (Sequenzen) des verschrifteten Handlungsprotokolls werden von einer InterpretInnengruppe solange Schritt für Schritt interpretiert, bis eine sog. »Strukturhypothese« formuliert und begründet werden kann. Diese stellt gleichsam das Ziel der Anstrengungen dar, weil in dieser Hypothese die bedeutenden Merkmale des ‚Falles‘ zusammengefasst sind und es somit daran anknüpfend möglich wird, fundierte Aussagen über die Art und Weise zu machen, wie das konkrete Individuum seine Welt wahrnimmt, sich zu ihr stellt, was ihm wichtig ist, welche Ziele es verfolgt und, was von herausgehobener Bedeutung gerade im Zusammenhang mit Entwicklungsstörungen ist: an welche (schlummernden) Selbstheilungspotentiale eine Interventionsstrategie anschließen kann.

Die Konstruktion der pädagogischen Indikation

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Das fallrekonstruktive Verfahren der Pädagogischen Diagnostik zeichnet sich dadurch aus, dass im Zuge der Rekonstruktion der Fallstruktur von Jugendhilfefällen nicht nur die Defizite, das biographische Scheitern und die fallspezifischen Ressourcen, sondern kehrseitig dazu immer auch die Gelungenheit als kontrafaktische Normalitätsfolie herausgearbeitet wird. Aufgrund der normativen Konstitution von Handeln kann gesagt werden, dass die Defizite und die Ressourcen des Falles nur auf der Grundlage dieser Normalitätsfolie überhaupt wahrnehmbar sind. Die so konstruierte Normalitätsfolie stellt eine regulative Idee hinsichtlich der Zielrichtung der Transformation dar. Vor dem Hintergrund der Traumatisierung des Falles kann die Normalitätsfolie, die immer eine Idealisierung darstellt, nicht das Ziel der in der Interventionspraxis angestrebten Transformation sein. Das so erzeugte Ideal lebenspraktischer Autonomie würde, falls es 1:1 übernommen würde, für die Fälle der Jugendhilfe eine Überforderung darstellen. Von daher besteht der erste Schritt der Entwicklung einer Indikation darin, Potentiale des Falles im Hinblick auf die regulative Idee von Autonomie zu identifizieren. Fallspezifische Autonomiepotentiale sind die Potentiale eines Falles, welche die Transformation hin zu mehr Autonomie möglich machen. Da es in der Jugendhilfe primär um solche Transformationsprozesse geht und da diese Prozesse immer sozialisatorische Prozesse sind, ist an dieser Stelle die sozialisatorische Interaktion, die der Fall zur weiteren Autonomisierung benötigt, in seiner Strukturlogik zu entwickeln.

Grundsätzlich kann gesagt werden: Eine Intervention ist nur sinnvoll, wenn sie fallangemessen ist. Daher ist bei der Entwicklung einer Interventionsstrategie grundsätzlich von der konkreten Fallstruktur auszugehen. Eine Subsumtion des Falles unter die bestehenden Jugendhilfe – Angebote bedeutet in sich eine Standardisierung des Falles und wäre von daher zum Scheitern verurteilt.

Die Entwicklung der Interventionsstrategie besteht im Kern also in der Identifikation von Strukturanalogien des Falles in der Praxis. Dies geschieht, weil trivialerweise nicht die Praxis ihrerseits einer Strukturanalyse unterzogen werden kann, qua intuitivem Urteil. Der an dieser Stelle mögliche Vorwurf der Beliebigkeit kann insofern entkräftet werden, als der Pädagogische Diagnostiker nicht bei dem intuitiven Urteil stehen bleibt. Ist intuitiv ein Urteil über ein geeignetes Betreuungssetting gefällt, wird dieses sofort einer Strukturanalyse unterzogen und die Strukturanalogie mit dem pädagogischen Handlungsproblem bzw. die Diskrepanz zu ihm festgestellt. Insofern erzeugt das ‚intuitive Urteil’ die Selektion des Betreuungssettings. Die Überprüfung selbst erfolgt im Rahmen der Strukturanalyse.

Einsatzmöglichkeiten der Pädagogischen Diagnostik

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Voraus geschickt werden muss, dass die ‚Pädagogische Diagnostik’ ein ambulantes Verfahren ist. Die kostenintensive Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in spezielle Einrichtungen ist zur Erstellung einer Diagnose nicht notwendig. Zudem ist die Pädagogische Diagnostik nicht auf die Ermittlung von Entwicklungsproblematiken von Kindern und Jugendlichen begrenzt. Sie eignet sich zur Rekonstruktion der Strukturlogik krisenbewältigenden Handelns generell. Einsatzgebiete zur Zeit:

  • Erstellung von Gutachten zur Entwicklungsproblematik von Kindern und Jugendlichen als Alternative zu psychologischen bzw. psychiatrischen Gutachten
  • Fallberatung von Jugendämtern und Einrichtungen der Jugendhilfe
  • Erstellung von Gutachten zur Erziehungsfähigkeit von Eltern z.B. auch für Familiengerichte
  • Kollegiale Beratung
  • Supervision
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