Prospect Theory

entscheidungstheoretisches Konzept

Die Prospect Theory, im Deutschen auch Prospect-Theorie, Prospekt-Theorie oder Neue Erwartungstheorie genannt, wurde 1979 von den Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky als eine empirisch fundierte Alternative zur Erwartungsnutzentheorie vorgestellt.[1] Kahneman erhielt 2002 den Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften für dieses Konzept und die zugehörigen Forschungsarbeiten, die er gemeinsam mit Tversky durchgeführt hatte. Tversky war 1996 verstorben. Die Theorie beschreibt das Entscheidungsverhalten unter Bedingungen der Unsicherheit und stützt sich auf empirische Untersuchungen zu Lotterien (gambles), bei denen die Alternativen hinsichtlich ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und ihres monetären Erwartungswertes variieren. Die Prospect Theory ist heute ein fester Bestandteil der Verhaltensökonomik (englisch behavioral economics) und wird insbesondere in der ökonomischen Entscheidungstheorie angewendet.

Die Prospect Theory geht davon aus, dass das Risikoverhalten nicht allein auf der Grundlage des Erwartungsnutzens erfolgt, sondern auch von der subjektiven Wahrnehmung von Sicherheit und Verlustaversion beeinflusst wird. Empirisch zeigt sich, dass Individuen in Gewinnsituationen risikoavers handeln: Eine sichere Auszahlung wird einem potenziell höheren, aber unsicheren Gewinn vorgezogen. Beispielsweise wird eine garantierte Auszahlung von 50 Euro bevorzugt, anstatt an einer Lotterie teilzunehmen, bei der mit 50 % Wahrscheinlichkeit 100 Euro gewonnen, aber auch mit 50 % Wahrscheinlichkeit nichts erhalten wird. In Verlustsituationen kehrt sich dieses Verhalten um: Hier handeln Individuen eher risikofreudig, indem sie einen unsicheren, aber potenziell höheren Verlust einem sicheren, aber geringeren Verlust vorziehen. Diese Unterschiede spiegeln sich in einer S-förmigen Wertefunktion wider, die im Gewinnbereich konkav und im Verlustbereich konvex verläuft. Zusätzlich spielt der Endowment-Effekt eine Rolle, der besagt, dass Menschen Güter, die sich bereits in ihrem Besitz befinden, systematisch höher bewerten als solche, die sie erst erwerben müssten.[2]

Abgrenzung

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Seit etwa 1940 basieren wirtschaftswissenschaftliche Theorien überwiegend auf der Annahme eines rational handelnden Individuums (Homo oeconomicus), das Entscheidungen auf Grundlage verfügbarer Informationen trifft, um Kosten zu minimieren und den eigenen Nutzen zu maximieren. Der Economist nutzt hierfür die Metapher des „Mr. Spock“[3][4] als idealtypischen, rein logisch denkenden Akteur. Während statistische Untersuchungen dieses Modell in bestimmten Bereichen stützen, zeigen sich in anderen Kontexten deutliche Abweichungen.

Der Homo oeconomicus ist eine zentrale Annahme der klassischen Ökonomie. Ihm werden uneingeschränkte Rationalität, konsequente Nutzenmaximierung, vollständige Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung ohne emotionale Einflüsse zugeschrieben. Obwohl dieses Modell des Homo Oeconomicus unrealistisch ist, hat dieses vereinfachte Menschenbild der modernen Nationalökonomie die enormen Fortschritte bei der Ausarbeitung ökonomischer Theorien und Modelle ermöglicht.[5]

Die Prospect Theory modifiziert dieses strikt rationale Konzept, indem sie kognitive Verzerrungen (s. u.) berücksichtigt, die das Entscheidungsverhalten systematisch beeinflussen. Im Vergleich zu anderen Ansätzen der Verhaltensökonomik hat sie den Vorteil, dass sie mathematisch modellierbar ist und somit empirisch überprüft werden kann.

Das mathematische Modell

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Wertfunktion

Von der Empirie ausgehend, beschreibt die Theorie, wie Individuen erwartete Gewinne bzw. Verluste bewerten. Entscheidungsprozesse werden in zwei Stufen gegliedert: editing (etwa: Bearbeitung) und evaluation (Bewertung). Zunächst werden die möglichen Resultate heuristisch geordnet: Ähnlichkeiten und Referenzpunkte werden festgelegt, so dass niedrige Ergebnisse als Verluste, höhere als Gewinne angesehen werden. Danach werden, ausgehend von den potentiellen Resultaten und ihren Eintrittswahrscheinlichkeiten, diesen Punkten Werte (Nutzen) zugeordnet. Die Alternative mit dem höchsten Nutzen wird dann gewählt.

Die einfachste Form einer Formel, die Kahneman und Tversky für die Bewertungsphase angeben, lautet:

 

wobei   die potentiellen Resultate und   ihre jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten abbilden.

  ist eine so genannte Wertfunktion, die einem Resultat einen Wert bzw. Nutzen zuordnet. Sie schneidet den Referenzpunkt (0;0), ist S-förmig und gewichtet, wie ihre Asymmetrie nahelegt, bei gleicher Varianz in absoluten Werten, Verluste stärker als Gewinne (loss aversion). Im Gegensatz zur Erweiterten Nutzentheorie werden nur Verluste und Gewinne, nicht aber absolute Beträge gemessen. Die Funktion   wird Wahrscheinlichkeits-Gewichtungsfunktion genannt und drückt aus, dass Individuen unwahrscheinliche Ergebnisse überbewerten und mittel- bis hochwahrscheinliche Ergebnisse unterbewerten.

Zwei Besonderheiten zeichnen die S-förmige Wertefunktion aus. Sie verläuft konkav im Bereich der Gewinne und konvex im Bereich der Verluste, außerdem ist sie steiler im Verlustbereich als im Gewinnbereich. Steigt der Gewinn, steigt die Wertschätzung, allerdings zunehmend langsamer. Die absolute Differenz zwischen zwei Gewinnen spielt also eine umso geringere Rolle, je größer das Ausgangsniveau bereits ist. Der konvexe Verlauf im Bereich der Verluste stellt sicher, dass das gleiche Phänomen auch im Verlustbereich auftritt. Demnach wird ein Anstieg des Verlustes im niedrigen Bereich schlechter bewertet als der gleiche Anstieg im höheren Bereich. Die Funktion verläuft steiler im Verlustbereich als im Gewinnbereich, da die Menschen Verluste höher gewichten als Gewinne.[6]

Erklärungsversuch: kognitive Verzerrungen

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In der Theorie wird die These vertreten, dass häufig auftretende kognitive Verzerrungen (biases) das Verhalten unter Ungewissheit beeinflussen. Insbesondere sollen Menschen stärker durch Verluste als durch Gewinne motiviert werden und demnach mehr Energie in die Vermeidung von Verlusten als in die Erzielung von Gewinnen investieren.[1]

Die Theorie basiert auf den experimentellen Arbeiten von Kahneman und Tversky. Kahneman wurde 2002 dafür mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, Tversky war zu dieser Zeit schon verstorben.[1] Sie deckten in ihren psychologischen Experimenten die folgenden Wahrnehmungsverzerrungen und Ursachen auf:[7]

Gemäß der Prospect Theory wird ein absoluter Gewinn oder eine absolute Preissteigerung von 20 auf 40 höher bewertet, als eine absolute Steigerung von 220 auf 240. Hierzu gehört ebenfalls das betriebswirtschaftliche Einkalkulieren nicht entscheidungsrelevanter früherer Aufwendungen, der sogenannten Sunk costs (versunkene Kosten). Investiert man beispielsweise sehr viel Geld in die Reparatur eines Gebrauchtwagens, so möchte man günstigere Autoangebote nicht mehr wahrnehmen. Auch die finanzielle Illusion gehört zur ökonomischen Irrationalität. Man wechselt wegen eines Preisnachteils von fünf Euro bei einem Kauf von Turnschuhen den Laden; jedoch wechselt man bei einem gleich hohen Preisnachteil den Laden nicht, wenn es sich um den Kauf eines Fernsehers handelt.[8]

Selbstüberschätzung oder Vermessenheitsverzerrung

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englisch overconfidence/over-confidentiality bias

  • Überschätzen der eigenen Fähigkeiten und des eigenen Mutes
  • Überschätzen des eigenen Einflusses auf die Zukunft. Sogar phantastische Vorstellungen über zukünftige Ereignisse werden für wirksam gehalten (beispielsweise das Tragen des Vereins-T-Shirts vor wichtigen Spielen, Aberglaube)
  • Fehleinschätzung der Fähigkeiten von Konkurrenten
  • Überschätzen der eigenen Kenntnisse und des eigenen Verständnisses[3]

(auch Overconfidence-Effekt genannt[9])

englisch anchoring effect

  • Eine einmal gemachte Aussage (Meinung) wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Dies gilt sogar dann, wenn eine Aussage von einer Quelle stammt, die nicht besser informiert ist als man selbst.[3]

Sturheit

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  • Eine einmal eingenommene Position wird nicht gerne aufgegeben.

Nähe-Verzerrung

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  • Die Kenntnis einer bestimmten Problematik verzerrt die Wahrnehmung in Richtung des Bekannten; anderweitige Optionen werden ignoriert.

Status-quo-Verzerrung

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englisch status quo bias

  • Infolge einer Status-quo-Verzerrung gehen Menschen größere Risiken ein, um den Status quo zu erhalten, als um die Situation zu ändern.[3]

Gewinn und Verlust

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  • Menschen fürchten Verlust mehr, als sie Gewinn begrüßen (s. a. Dispositionseffekt). Das geht so weit, dass greifbare Vorteile nicht wahrgenommen werden, um die entferntere Chance des Versagens zu vermeiden.[3]

Falsche Prioritäten

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  • Menschen wenden unverhältnismäßig viel Zeit für kleine und unverhältnismäßig wenig für große Entscheidungen auf.

Unangebrachtes Bedauern

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  • Bedauern über einen Verlust bringt nichts ein, aber es wird viel Zeit darauf verwendet.

Täuschung

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Manipulation

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  • Die Entscheidung für eine Sache fällt – bei gleichem Ergebnis – leichter, wenn sie mit Verlustangst präsentiert wird, und fällt schwerer bei Hoffnung auf Gewinn (Gewinn- und Verlustszenarien).

nach John A. Bargh

  • Entscheidungen werden durch vergangene, gespeicherte und meist unbewusste Erfahrungen und Erwartungen beeinflusst (Semantisches Priming).

Vorahnungen

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Sonstiges

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Die Prospect Theory beruht u. a. auf grundlegenden Überlegungen zur individuellen Nutzenfunktion von Daniel Bernoulli, deren Schwachstellen und Irrtümer Kahneman und Tversky im Rahmen ihrer Arbeit mit simplen Gedankenexperimenten offenbarten und ergänzten. In Kahnemans Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" schrieb er hierzu:

"Man könnte sich ohne Weiteres vorstellen, dass Bernoulli selbst ähnliche Beispiele konstruiert und eine komplexe Theorie aufgestellt hätte, um ihnen Rechnung zu tragen; aus irgendeinem Grund tat er dies nicht. Man könnte sich auch vorstellen, dass ihm zeitgenössische Kollegen widersprochen oder spätere Wissenschaftler nach der Lektüre seines Aufsatzes Einwände erhoben haben, aber das geschah ebenfalls nicht." (S. 340)

Literatur

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  • D. Kahneman, A. Tversky: Prospect theory: An analysis of decision under risk. In: Econometrica, Band 47, 1979, Nr. 2, S. 263–291.
  • A. Tversky, D. Kahneman: Advances in prospect theory: cumulative representation of uncertainty. In: D. Kahneman, A. Tversky (Hrsg.): Choices, values and frames. Cambridge University Press, Cambridge 2000, S. 44–66.
  • D. Kahneman: Thinking, fast and slow. Allen Lane, London 2011, ISBN 978-1-84614-606-0, darin Kapitel 26 Prospect Theory, S. 278–288.
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Commons: Prospect theory – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b c www.economist.com
  2. W. Kroeber-Riel / A. Gröppel-Klein: Konsumentenverhalten. 10. Auflage. Franz Vahlen, München 2013, ISBN 978-3-8006-4618-0, S. 21.
  3. a b c d e Irrationality Rethinking thinking auf Economist.com vom 16. Dezember 1999.
  4. Economist: Behaviourists at the gates; 8. Mai 2003.
  5. H. Beck: Behavioral Economics. 1. Auflage. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-03367-5, S. 1–2.
  6. H. Beck: Behavioral Economics. 1. Auflage. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-03367-5, S. 131–132.
  7. The Economist. 24.–30. Mai 2003.
  8. V. Trommsdorff: Konsumentenverhalten. 7. Auflage. W. Kohlhammer, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-17-020155-2, S. 259.
  9. Christian Becker-Carus; Mike Wendt: Allgemeine Psychologie. Eine Einführung. 2. Auflage. Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 2017, ISBN 978-3-662-53006-1, S. 13 f.
  10. H. Beck: Behavioral Economics. 1. Auflage. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-03367-5, S. 110.