Radikal (semitische Sprachen)
Ein Radikal, auf Deutsch auch Wurzelkonsonant genannt, bezeichnet in der Semitistik einen Konsonanten als Bestandteil der für die semitischen Sprachen grundlegenden Modellstruktur.
Arabische Sprache
BearbeitenIm Arabischen liegt den meisten Wörtern eine dreiradikalige Wurzel zugrunde. Eine solche Wurzel kann aus allen Konsonanten bestehen, also allen Buchstaben des Alphabets, wobei das Alif mit seiner Grundbedeutung Hamza (nicht seiner sekundären vokalischen Bedeutung) steht. Die Wortbildung entsteht dadurch, dass bestimmte Präfixe, Infixe oder Suffixe hinzugefügt werden.
Beispiele
BearbeitenAls klassisches Beispiel dient die Wurzel ك ت ب (von rechts nach links zu lesen), DMG k–t–b:
- كتب / kataba – schreiben (Verb)
- كتاب / kitāb – Buch
- كاتب / kātib – Schreiber, Schreibender (Partizip Aktiv)
- مكتوب / maktūb – Brief, Schriftstück (Partizip Passiv)
- مكتب / maktab – Schreibtisch, Büro
- مكتبة / maktaba – Bibliothek, Buchhandlung
Alle Ableitungen einer Wurzel bilden somit gewissermaßen eine Wortfamilie, innerhalb derer sich die Reihenfolge der Wurzelkonsonanten nie ändert.
In den meisten Fällen besteht die Wurzel aus drei Konsonanten, daneben gibt es auch Wurzeln mit vier, sogenannte „vierradikalige Wurzeln“.
Die Wurzelstruktur ist auch für die arabische Konjugation von großer Bedeutung, da die verschiedenen Verbformen (Verbstämme genannt) von ihr abgeleitet sind und stets dem gleichen Muster folgen. Die Verbstämme werden üblicherweise mit römischen Zahlen nummeriert. Neben den hier angeführten Stämmen I bis X existieren auch Stämme XI bis XV, die jedoch im modernen Arabisch noch mehr als schon im klassischen Arabisch außer Gebrauch sind. Die im Arabischen übliche Beispielwurzel ist ف ع ل / f–ʿ–l (von faʿala, „er machte“). Diese 3. Person männlich Singular Perfekt aktiv wird als Grundform verwendet.
Stamm | Grundmodell | Umschrift | Merkmal | Bedeutungsänderung |
---|---|---|---|---|
I | فعل | faʿala | Grundform | |
II | فعّل | faʿʿala | Verdoppelung des zweiten Radikals | intensivierend, kausativ, denominativ, fast immer transitive Verben |
III | فاعل | fāʿala | Infix ā zwischen erstem und zweitem Radikal | Einwirkung auf eine Person oder Sache, fast immer transitive Verben |
IV | أفعل | afʿala | Präfix a + Vokallosigkeit des ersten Radikals | kausativ, denominativ und andere Bedeutungen, fast immer transitive Verben |
V | تفعّل | tafaʿʿala | Präfix ta + II. Stamm | intransitive Formen zum II. Stamm |
VI | تفاعل | tafāʿala | Präfix ta + III. Stamm | reziproke Formen zum III. Stamm, transitive und intransitive Verben |
VII | اِنفعل | infaʿala | Präfix in | reflexiv, immer intransitiv |
VIII | اِفتعل | iftaʿala | Präfix i + Vokallosigkeit des ersten Radikals + Infix ta zwischen erstem und zweitem Radikal | teils reziproke Formen, transitive und intransitive Verben |
IX | اِفعلّ | ifʿalla | Präfix i + Vokallosigkeit des ersten Radikals + Verdoppelung des dritten Radikals | Eintreten eines Zustands, immer intransitiv |
X | استفعل | istafʿala | Präfix ista + Vokallosigkeit des ersten Radikals | oft Bedeutung „um etwas bitten“ oder "etwas erwirken/befördern", überwiegend transitive Verben |
Anhand dieses Modells lassen sich auch von der Wurzel ك ت ب die verschiedenen Verbformen ableiten:
- I. كتب / kataba – schreiben (eigentlich: er schrieb)
- II. كتّب / kattaba – schreiben lassen
- III. كاتب / kātaba – korrespondieren
- IV. أكتب / aktaba – diktieren
- V. تكتّب / takattaba – nicht gebräuchlich
- VI. تكاتب / takātaba – einander schreiben
- VII. اِنكتب / inkataba – sich einschreiben
- VIII. اِكتتب / iktataba – abschreiben
- IX. اِكتبّ / iktabba – nicht gebräuchlich
- X. اِستكتب / istaktaba – zu schreiben bitten
Wie zu sehen ist, haben die verschiedenen Verbformen unterschiedliche Bedeutungen, die jedoch mit dem Grundverb in enger Verbindung stehen. Eine Bedeutungsbeziehung zum Grundverb ist in anderen Fällen jedoch nicht immer erkennbar. Das Beispiel zeigt auch, dass anhand des Grundmodells theoretisch auch solche Verbformen abgeleitet werden können, die nicht in Gebrauch sind.
Hebräische Sprache
BearbeitenAuch in der althebräischen Grammatik liegt dem Großteil der Wörter eine dreiradikalige Wurzel zugrunde, die aus sämtlichen Buchstaben des hebräischen Alphabets gebildet werden kann. Das Konjugationsmodell der hebräischen Verben wurde von hebräischen Grammatikern im Frühmittelalter aus der arabischen Grammatik übernommen. Mit sieben Stämmen (hebr. binjaním, wörtl. „Gebäuden“) ist es etwas einfacher aufgebaut als sein Vorbild, folgt aber denselben Mustern. Auch im Hebräischen wird die 3. Person männlich Singular Perfekt aktiv als Grundform zur Ableitung der übrigen Verbformen verwendet.
Grundmodell | Aussprache | Bedeutungsänderung | |
---|---|---|---|
פעל, קל | pa'al, qal | Grundform | |
נפעל | nif'al | meist Passivform von pa'al | |
פעל | pi'el | oft intensivierend, fast immer transitive Verben | |
פועל | pu'al | Passivform von pi'el | |
הפעיל | hif'il | kausativ | |
הפעל | hof'al | Passivform von hif'il | |
התפעל | hitpa'el | reflexive Formen |
Beispiele
BearbeitenAls Beispiel für die Ableitungsmöglichkeiten einer hebräischen Wurzel sei hier ebenfalls der Begriff für schreiben, hebräisch כתב (kataw) angegeben, mit verschiedenen verbalen und nominalen Ableitungen:
- katáw (pa'al): er schrieb (Infinitiv: lichtów), davon abgeleitet:
- michtáw: Brief; ketówet: Anschrift, Adresse
- nichtáw (nif'al): er (es) wurde geschrieben (Infinitiv: lehikatéw)
- kitéw (pi'el): er beschriftete (Infinitiv: lechatéw), davon abgeleitet:
- kitúw: Beschriftung
- hichtíw (hif'il): „er ließ schreiben“, d. h., „er diktierte“ (Infinitiv: lehachtíw), davon abgeleitet:
- hachtawá: Diktat
- hitkatéw (hitpa'el): er korrespondierte (Infinitiv: lehitkatéw), davon abgeleitet:
- hitkatwút: Korrespondenz
Literatur
Bearbeiten- Burkhart Kienast: Historische semitische Sprachwissenschaft. Otto Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2001, ISBN 3-447-04359-8.