Ryōjin hishō

Sammlung japanischer Volkslieder

Das Ryōjin hishō (japanisch 梁塵秘抄 Geheime Sammlung von Liedern, deren Schönheit den Staub von den Balken wegwischt[1], auch: Geheime Abschrift von schönen Liedern[2]) ist eine Sammlung von kayō (歌謡)[Anm. 1], also Gesangsdichtung oder traditioneller Volkslieder aus der späten Heian-Zeit. Anders als beim Kanshi erfolgte die Notation der Texte in Kana.

Überblick

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Während etwa die Waka-Dichtung als hohe Form der Dichtkunst am Hofe gepflegt und auf Veranlassung verschiedener Kaiser in Gedichtanthologien im Umfang von 20 Bänden gesammelt wurden, galt die Lieddichtung als weniger raffinierte und eloquente Unterhaltungsform des Volkes. „Es liegt in der Natur des Volkslieds, Individualität und soziale Hierarchie außer Acht zu lassen. [...] Der Sänger war frei, Verse teilweise zu verändern oder auf der ursprünglichen Basis einen neuen Text zu dichten.“[3] Das kayō drohte als gering geschätzte Kunstform unbemerkt zu verschwinden. Es ist Kaiser Go-Shirakawa zu verdanken, dass mit dem Ryōjin hishō eine Sammlung von kayō im japanischen Mittelalter angelegt wurde. Es ist neben dem Kanginshū (閑吟集), das ca. 350 Jahre später entstand, eine seltene Quelle dieser Dichtkunst.

Man nimmt an, dass das Ryōjin hishō ursprünglich 20 Bände (Maki)[Anm. 2] umfasste und bis 1179[4] fertiggestellt war. Man wusste zwar aus dem Fuboku wakashu (夫木和歌抄) von der Existenz des Ryōjin hishō, entdeckte jedoch erst 1911 Wada Hidemitsu eine edozeitliche Kopie des Textkorpus in Kyoto[5]. Erhalten sind kleine Bruchstücke von Band 1 mit 21 Texten sowie der komplette 2. Band mit 545 Texten. Zudem ein Band von Go-Shirakawa selbst (Band 10). Summa summarum sind etwa 566 Texte erhalten, die in profane und religiöse Texte unterschieden werden können. Hauptmerkmal der profanen Texte sind die leidenschaftliche Liebe und die Sexualität. Die religiösen Texte können wiederum in zwei Kategorien aufgeteilt werden, in solche die den Shintoismus und solche die den Buddhismus zum Gegenstand haben. Sie enthalten mit wenigen Ausnahmen die „Lehre von den guten Taten.“[6] So ist das Hokkekyō (Lotus-Sutra) Grundlage von 110 Volksliedern. Man nimmt an, dass die Bände 1 bis 9 bereits 1169 fertiggestellt wurden, in den kommenden Jahren bis 1179 dann die Bände 11 bis 20 und zuletzt Band 10, der von Go-Shirakawa selbst verfasst wurde und autobiographische Züge trägt. Aus diesem Band geht auch hervor, dass Go-Shirakawa zeitlebens ein großer Verehrer der Lieddichtung war und dass er sich mit Leidenschaft mit imayō uta („Lieder nach dem Geschmack des Tages“) beschäftigte.

Die ersten 10 Bände der Sammlung waren als Textsammlung mit Wortlaut der Lieder konzipiert, die restlichen 10 Bände sollten alle Einzelheiten der musikalischen Interpretation umfassen, meist mit Ryōjin hishō kudenshū (梁塵秘抄口伝集) bezeichnet. Im Einzelnen sind heute noch 220 Hōmonka (法文歌 buddhistisch geistliche Lieder), 204 Shiku kamiuta (四句神歌 vierversige Götterlieder)[5], 122 Niku kamiuta (二句神歌 zweiversige Götterlieder), 10 Nagauta, 1 Koyanagi (古柳) mit hayashi kotoba (囃子詞)[Anm. 3] und 10 Imayō (今様) des Ryōjin hishō erhalten.[7] Der erhaltene Textkorpus wird in der Bibliothek der Universität Tenri aufbewahrt. Das Ryōjin hishō wurde am 10. Juni 1993 zum wichtigen Kulturgut deklariert.

Die moderne Weise, das imayō, besteht umgekehrt zum Waka aus zwei Halbversen mit 7 : 5 Moren. Im 10. Band berichtet Go-Shirakawa, dass er sich am Toshiyori Zuinō (俊頼髄脳, 1155) einem Stilbuch von Minamoto Toshiyori (1055–1129) orientiert. Das Toshiyori Zuinō besteht aus zwei Bänden und befasst sich mit dem Ursprung von Gedichten (waka). Weiterhin beinhaltet es Analysen von Gedichten und Techniken. 1157 lud Go-Shirakawa die Sängerin Otome († 1169) ein ihn zu unterrichten. Go-Shirakawa wählte 1179 zwei Schüler aus: Minamoto Suketoki und Fujiwara no Moronaga (1137–1192). Er veranstaltete am Hof Liedwettbewerbe, bei denen die Sängerinnen sich messen konnten. Diese Sängerinnen besaßen meist einen sogenannten asobi- oder kugutsu- (傀儡) Hintergrund. Sie stammten also meist aus dem Unterhaltungs- oder Gauklergewerbe oder gingen der Prostitution nach.

Textbeispiel

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Buddhismus

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Japanisch Transkription Übersetzung[Anm. 4]

生死の大海辺無し、
仏性真如岸遠し、
妙法蓮華は舟筏、
来世の衆生、渡すべし。

shōji no daikai hotori nashi
busshō shinnyo kishi tōshi
myōhō renge wa fune ikada
raise no shujō watasubeshi

Der Ozean von Leben und Tod kennt keine Grenzen
Das Ufer ist weit der Buddhaschaft und wahren Soheit.
Die Lotusblüte der wunderbaren Lehre ist ein Boot oder Floß,
Es wird auch die Lebewesen zukünftiger Generationen [über dieses Meer] geleiten. (Nr. 210)

Profane Dichtung

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Japanisch Transkription Übersetzung[Anm. 5]

美女うち見れば 
一本葛にもなりなばやとぞ思ふ
本より末まで縒らればや
切るとも刻むとも
離れ難きはわが宿世

Binjō uchi mireba
hitomoto kazura-to-mo nairnabaya-to-zo omou
moto-yori sue-made yorarebaya
kiru-tomo kizamu-tomo
hanaregataki wa waga sukuse

Erblick ich die Schöne
möcht ich zur Ranke werden, möcht sie umschlingen
von den Wurzeln her bis zum äußersten Zweig.
Selbst zerschnitten, zerhackt, bleib ich unzertrennlich,
so ist's mir bestimmt. (Nr. 342)

  

Japanisch Transkription Übersetzung[Anm. 6]

遊びをせんとや生まれけむ 
戯れせんとや生まれけん 
遊ぶ子供の声聞けば 
我が身さえこそ動がるれ

Asobi-wo sen-to-ya umarekemu
tawabure sen-to-ya umarekemu
asobu kodomo no koe kikeba
waga mi-sae-koso yurugarure

Sind auch sie zum Spielen auf die Welt gekommen?
Sind auch sie zum Scherzen auf die Welt gekommen?
Hör ich die Stimmen der spielenden Kinder
packt mich heftige Bewegung. (Nr. 359)

Anmerkungen

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  1. Auch als Liedvortrag bezeichnet, der oft mit Gesang und Tanz verbunden war.
  2. Laut Hochōshojaku mokuroku (本朝書籍目録, 1290).
  3. Refrain mit unsinnigen Silben, der dazu dient den Rhythmus zu halten.
  4. Die Übersetzung stammt von Jörg B. Quenzer: Das Motiv von Leben und Tod (shōji) in der japanischen Dichtung des Mittelalters. In: Birgit Staemmler Werden und Vergehen, Tübinger Ostasiatische Forschungen Vol. 24, Berlin, Lit Verlag, 2016, S. 56–57
  5. Die Übersetzung stammt von Ōoka Makoto, S. 120, die Transkription von Bruno Lewin, S. 81
  6. Die Übersetzung stammt von Ōoka Makoto, S. 123, die Transkription von Bruno Lewin, S. 81

Einzelnachweise

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  1. Ōoka Makoto: Dichtung und Poetik des alten Japan. Carl Hanser, München 2002, ISBN 978-3-446-19859-3, S. 116.
  2. Bruno Lewin: Japanische Chrestomathie von der Nara bis zur Edo Zeit. Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1965, S. 77.
  3. Ōoka Makoto: Dichtung und Poetik des alten Japan. Carl Hanser, München 2002, ISBN 978-3-446-19859-3, S. 113.
  4. Konishi Jin'ichi: Ryōjin hishōkō. Sanseidō, 1941, S. 34–53 (japanisch).
  5. a b Bruno Lewin: Japanische Chrestomathie von der Nara bis zur Edo Zeit. Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1965, S. 78 (Dort sind 170 Shiku kamiuta genannt.).
  6. Ōoka Makoto: Dichtung und Poetik des alten Japan. Carl Hanser, München 2002, ISBN 978-3-446-19859-3, S. 118.
  7. 梁塵秘抄. In: 日本大百科全書(ニッポニカ) bei kotobank.jp. Abgerufen am 20. Oktober 2019 (japanisch).