Sassolin

Mineral, natürlich auftretende Form der Orthoborsäure

Sassolin ist ein eher selten vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der Borate (ehemals Oxide und Hydroxide, siehe Klassifikation) mit der chemischen Zusammensetzung B(OH)3[3] und ist damit die natürlich auftretende Form der Orthoborsäure.

Sassolin
Sassolin (weiß) mit Überzug aus gediegenem Schwefel (gelb)
Allgemeines und Klassifikation
IMA-Symbol

Sso[1]

Andere Namen

Natürliches Sedativsalz[2]

Chemische Formel
Mineralklasse
(und ggf. Abteilung)
Borate (ehemals Oxide und Hydroxide, siehe Klassifikation)
System-Nummer nach
Strunz (8. Aufl.)
Lapis-Systematik
(nach Strunz und Weiß)
Strunz (9. Aufl.)
Dana

IV/F.01
IV/F.01-010[5]

6.AA.05
24.03.01.01
Ähnliche Minerale Behoit, Klinobehoit, Borax, Kernit, Metaborit
Kristallographische Daten
Kristallsystem triklin[6]
Kristallklasse; Symbol triklin-pinakoidal; 1[7]
Raumgruppe P1 (Nr. 2)Vorlage:Raumgruppe/2[6]
Gitterparameter a = 7,09 Å; b = 7,04 Å; c = 6,35 Å
α = 92,49°; β = 101,46°; γ = 119,76°[6]
Formeleinheiten Z = 4[6]
Häufige Kristallflächen {001}
Zwillingsbildung häufig, Zwillingsachse [001]
Physikalische Eigenschaften
Mohshärte 1
Dichte (g/cm3) gemessen: 1,46 bis 1,50; berechnet: 1,562[8]
Spaltbarkeit vollkommen nach {001}
Bruch; Tenazität nicht definiert, Kristalle und Spaltblättchen biegsam[9]
Farbe farblos, weiß, durch Verunreinigungen auch grau oder gelb bis braun
Strichfarbe weiß
Transparenz durchsichtig
Glanz Glasglanz, Perlmuttglanz auf Spaltflächen
Kristalloptik
Brechungsindizes nα = 1,340
nβ = 1,456
nγ = 1,459[10]
Doppelbrechung δ = 0,1190[10]
Optischer Charakter zweiachsig negativ
Achsenwinkel 2V = 16,2° (berechnet); 5° (gemessen)[10]
Weitere Eigenschaften
Chemisches Verhalten Leicht löslich in Wasser
Besondere Merkmale manchmal fluoreszierend, „fruchtschädigend“ und „Fruchtbarkeit beeinträchtigend“

Sassolin kristallisiert im triklinen Kristallsystem und entwickelt überwiegend farblose und durchsichtige Kristalle mit plättchen- bis tafelförmigem, pseudohexagonalem Habitus. Durch Verunreinigung mit Schwefel kann er auch eine gelbe und mit Eisenoxiden eine braune Farbe annehmen. Seine Strichfarbe ist jedoch immer weiß.

Etymologie und Geschichte

Bearbeiten

Der Name Sassolin leitet sich von dem Fundort und der heutigen Typlokalität Sasso nahe Larderello in der italienischen Region Toskana ab, die im so genannten Tal des Teufels (ital. valle del diavolo) liegt. Diese geothermisch sehr aktive Region zeichnet sich durch zahlreiche schwefel- und borhaltige Fumarolen aus, die so genannten Soffionen.

Freie Borsäure (auch Boraxsäure oder Natürliches Sedativsalz) wurde erstmals durch Hubert Franz Hoefer (1728–1795) erwähnt, der sie in „siedend heißen Bergquellen der Lagone di Monte rotondo (auch Cherchiajo) und dem Lagone di Castel nuovo“ fand. Die später als Sassolin bezeichnete freie Borsäure wurde durch Paolo Mascagni an den Rändern der heißen Quelle bei Sasso, genauer Sasso Pisano in der Gemeinde Castelnuovo di Val di Cecina in der Toskana entdeckt. Den Namen Sassolin nach der Typlokalität des Minerals prägte 1800 Dietrich Ludwig Gustav Karsten.[2] Die chemische Untersuchung führte 1802 Martin Heinrich Klaproth durch.[11]

Da der Sassolin (englisch Sassolite) bereits lange vor der Gründung der International Mineralogical Association (IMA) bekannt und als eigenständige Mineralart anerkannt war, wurde dies von ihrer Commission on New Minerals, Nomenclature and Classification (CNMNC) übernommen und bezeichnet den Sassolin als sogenanntes „grandfathered“ (G) Mineral.[3] Die seit 2021 ebenfalls von der IMA/CNMNC anerkannte Kurzbezeichnung (auch Mineral-Symbol) von Sassolin lautet „Sso“.[1]

Klassifikation

Bearbeiten

Bereits in der zuletzt 1977 überarbeiteten 8. Auflage der Mineralsystematik nach Strunz gehörte der Sassolin zur Mineralklasse der „Oxide und Hydroxide“ und dort zur Abteilung „Hydroxide“, wo er als alleiniges Mitglied eine unbenannte Gruppe mit der Systemnummer IV/F.01 bildete.

In der zuletzt 2018 überarbeiteten Lapis-Systematik nach Stefan Weiß, die formal auf der alten Systematik von Karl Hugo Strunz in der 8. Auflage basiert, erhielt das Mineral die System- und Mineral-Nr. IV/F.01-010. Dies entspricht ebenfalls der Klasse der „Oxide und Hydroxide“, dort allerdings der neu definierten Abteilung „Hydroxide und oxidische Hydrate (wasserhaltige Oxide mit Schichtstruktur)“, wo Sassolin zusammen mit Behoit und Klinobehoit eine unbenannte Gruppe mit der Systemnummer IV/F.01 bildet.[5]

Die von der International Mineralogical Association (IMA) zuletzt 2009 aktualisierte[12] 9. Auflage der Strunz’schen Mineralsystematik ordnet den Sassolin in die neu definierte Klasse der „Borate“ und dort in die Abteilung der „Monoborate“ ein. Diese ist weiter unterteilt nach der möglichen Anwesenheit zusätzlicher Anionen und der Kristallstruktur der Boratkomplexe, so dass das Mineral entsprechend seiner Zusammensetzung in der Unterabteilung „BO3 ohne zusätzliche Anionen; 1(Δ)“ zu finden ist, wo es als einziges Mitglied eine unbenannte Gruppe mit der Systemnummer 6.AA.05 bildet.

In der vorwiegend im englischen Sprachraum gebräuchlichen Systematik der Minerale nach Dana hat Sassolin die System- und Mineralnummer 24.03.01.01. Das entspricht der Klasse der „Carbonate, Nitrate und Borate“ und dort der Abteilung „Wasserfreie Borate“. Hier findet er sich innerhalb der Unterabteilung „Wasserfreie Borate mit (A)m(B)n[XO3]p“ als einziges Mitglied in einer unbenannten Gruppe mit der Systemnummer 24.03.01.

Kristallstruktur

Bearbeiten

Sassolin kristallisiert im triklinen Kristallsystem in der Raumgruppe P1 (Raumgruppen-Nr. 2)Vorlage:Raumgruppe/2 mit den Gitterparametern a = 709 pm, b = 704 pm, c = 635 pm; α = 92,49°, β = 101,46° und γ = 119,76° sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle.[6]

Die Kristallstruktur weist einen ausgeprägten schichtartigen Charakter auf. Die einzelnen, trigonal-planar (siehe auch VSEPR-Modell) aufgebauten Borsäure-Moleküle sind senkrecht zur kristallographischen c-Achse ([001]) ausgerichtet und bilden über Wasserstoffbrückenbindungen Schichten parallel der (001)-Ebene (ab-Ebene). Zwischen diesen Schichten bestehen nur sehr schwache intermolekulare Wechselwirkungen, wodurch sich auch die vollkommene Spaltbarkeit parallel der (001)-Ebene und die sehr geringe Mohshärte von 1 erklärt.

Eigenschaften

Bearbeiten

Chemische und physikalische Eigenschaften

Bearbeiten

Sassolin ist leicht löslich in Wasser und hat einen salzigen bis bitteren Geschmack. Unter kurzwelligem UV-Licht zeigen manche Sassoline eine blaue Fluoreszenz.[8]

Morphologie

Bearbeiten

Sassolin kristallisiert gewöhnlich in Form von schuppenartigen Plättchen mit einer pseudohexagonalen Symmetrie. Dieser sechseckige Querschnitt der Plättchen wird einerseits durch den nahe bei 120° liegenden γ-Winkel, andererseits auch durch die starke Tendenz zur Zwillingsbildung der Kristalle verursacht, wobei mehrere Individuen makroskopisch als ein Kristall erscheinen. Die Kristalle erreichen eine Größe von bis zu 5 mm. Seltener sind nadelförmige Kristalle, die stalaktitartig, an Gesteinsoberflächen hängend, wachsen.

Bildung und Fundorte

Bearbeiten
 
Versiegelte Probe mit farblosem bis weißem Sassolin, aufbewahrt im Estnischen Museum für Naturgeschichte

Sassolin bildet sich durch Kristallisation aus kondensiertem, borsäurehaltigem Wasserdampf und findet sich gewöhnlich an Fumarolen in vulkanisch aktiven Gebieten. Bei entsprechend hohen Borsäuregehalten können in diesen Gebieten lokale Bor-Lagerstätten entstehen. Begleitende Minerale (Paragenesen) von Sassolin sind häufig gediegen Schwefel, Realgar und verschiedene Eisenoxide.

Sassolin gehört zu den seltenen Mineralbildungen und konnte daher nur an wenigen Orten nachgewiesen werden. Weltweit sind bisher rund 40 Vorkommen dokumentiert.[13]

Neben der Typlokalität nahe Larderello findet sich Sassolin in Italien auch am Vesuv und auf den Liparischen Inseln. Als weitere Fundorte können die Region um Aachen/Nordrhein-Westfalen in Deutschland, Ladakh in Indien, die Region um Kagoshima in Japan, die Halbinsel Kamtschatka in Russland, sowie Death Valley/Kalifornien, Yellowstone-Nationalpark/Wyoming und Washoe County/Nevada in den USA genannt werden.[14]

Vorsichtsmaßnahmen

Bearbeiten

Da Borsäure als reproduktionstoxisch, d. h. „fruchtschädigend“ und „Fruchtbarkeit beeinträchtigend“[15], gilt, sollten Mineralproben in staubdichten Behältern aufbewahrt und eine Aufnahme in den Körper (Inkorporation, Ingestion) auf jeden Fall verhindert und zur Sicherheit direkter Körperkontakt vermieden werden. Der Grenzwert für Stäube liegt bei 0,5 mg/m3 Bor, entsprechend 3 mg/m3 Sassolin; zum Vergleich einige allgemeine Staub-Grenzwerte.

Siehe auch

Bearbeiten

Literatur

Bearbeiten
  • Dietrich Ludwig Gustav Karsten: Mineralogische Tabellen. Heinrich August Rottmann, Berlin 1800, S. 75, Anmerkungen: (62) Der Sassolin... (rruff.info [PDF; 1,4 MB; abgerufen am 22. Juli 2024]).
  • Martin Heinrich Klaproth: LXXX. Chemische Untersuchung des Sassolins. In: Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper. Band 3. Decker und Co., Posen 1802, S. 95–101 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 22. Juli 2024]).
  • Martin Okrusch, Siegfried Matthes: Mineralogie. Eine Einführung in die spezielle Mineralogie, Petrologie und Lagerstättenkunde. 7., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Springer, Berlin [u. a.] 2005, ISBN 3-540-23812-3, S. 171.
Bearbeiten
Commons: Sassolin (Sassolite) – Sammlung von Bildern
Commons: Borsäure – Sammlung von Bildern

Einzelnachweise

Bearbeiten
  1. a b Laurence N. Warr: IMA–CNMNC approved mineral symbols. In: Mineralogical Magazine. Band 85, 2021, S. 291–320, doi:10.1180/mgm.2021.43 (englisch, cambridge.org [PDF; 351 kB; abgerufen am 5. Januar 2023]).
  2. a b Dietrich Ludwig Gustav Karsten: Mineralogische Tabellen. Heinrich August Rottmann, Berlin 1800, S. 75, Anmerkungen: (62) Der Sassolin... (rruff.info [PDF; 1,4 MB; abgerufen am 22. Juli 2024]).
  3. a b c Malcolm Back, Cristian Biagioni, William D. Birch, Michel Blondieau, Hans-Peter Boja und andere: The New IMA List of Minerals – A Work in Progress – Updated: July 2024. (PDF; 3,6 MB) In: cnmnc.units.it. IMA/CNMNC, Marco Pasero, Juli 2024, abgerufen am 13. August 2024 (englisch).
  4. Hugo Strunz, Ernest H. Nickel: Strunz Mineralogical Tables. Chemical-structural Mineral Classification System. 9. Auflage. E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung (Nägele u. Obermiller), Stuttgart 2001, ISBN 3-510-65188-X, S. 328 (englisch).
  5. a b Stefan Weiß: Das große Lapis Mineralienverzeichnis. Alle Mineralien von A – Z und ihre Eigenschaften. Stand 03/2018. 7., vollkommen neu bearbeitete und ergänzte Auflage. Weise, München 2018, ISBN 978-3-921656-83-9.
  6. a b c d M. Gajhede, S. Larsen, S. Rettrup: Electron density of orthoboric acid determined by X-ray diffraction at 105 K and ab initio calculations. In: Acta Crystallographica. B42, 1986, S. 545–552 (englisch).
  7. Sassolite Mineral Data. In: webmineral.com. Abgerufen am 18. Juli 2024 (englisch).
  8. a b Sassolite. In: John W. Anthony, Richard A. Bideaux, Kenneth W. Bladh, Monte C. Nichols (Hrsg.): Handbook of Mineralogy, Mineralogical Society of America. 2001 (englisch, handbookofmineralogy.org [PDF; abgerufen am 20. Juli 2024]).
  9. Helmut Schröcke, Karl-Ludwig Weiner: Mineralogie. Ein Lehrbuch auf systematischer Grundlage. de Gruyter, Berlin; New York 1981, ISBN 3-11-006823-0, S. 479–480.
  10. a b c Sassolite. In: mindat.org. Hudson Institute of Mineralogy, abgerufen am 20. Juli 2024 (englisch).
  11. Martin Heinrich Klaproth: LXXX. Chemische Untersuchung des Sassolins. In: Beiträge zur chemischen Kenntnis der Mineralkörper. Band 3. Decker und Co., Posen 1802, S. 95–101 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche [abgerufen am 22. Juli 2024]).
  12. Ernest H. Nickel, Monte C. Nichols: IMA/CNMNC List of Minerals 2009. (PDF; 1,9 MB) In: cnmnc.units.it. IMA/CNMNC, Januar 2009, archiviert vom Original am 29. Juli 2024; abgerufen am 30. Juli 2024 (englisch).
  13. Sassolite. In: mindat.org. Hudson Institute of Mineralogy, abgerufen am 20. Juli 2024 (englisch).
  14. Fundortliste für Sassolin (Sassolite) beim Mineralienatlas (deutsch) und bei Mindat (englisch), abgerufen am 20. Juli 2024.
  15. Datenblatt Borsäure zu Analyse bei Merck, abgerufen am 27. Oktober 2014.