Seengen–Riesi
Seengen–Riesi bezeichnet einen archäologischen Fundplatz in Seengen im Schweizer Kanton Aargau, im Moorreservat Riesi (auch Risle oder Rieslen) am Hallwilersee, in der Gegend des Ausflusses des Aabachs. Es handelt sich dabei um eine Seeufersiedlung (auch Pfahlbauerdorf oder Palafitte genannt)[1] aus der Spätbronzezeit (11.–9. Jh. v. Chr.). Seit 2011 ist der Fundplatz Teil des UNESCO-Welterbes «Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen».
Entdeckung und Erforschung
BearbeitenZu Beginn der 1920er-Jahre vermutete man eine «Pfahlbaute» beim Ausfluss des Aabachs aus dem Hallwilersee, analog zur Situation an anderen Seen der Schweiz. Im Frühling 1923 führte deshalb der Posthalter Arnold Hauri von Seengen am Nordufer des Hallwilersees Versuchsbohrungen durch. In der sog. «Riesi», einem Moor-Reservat auf einer Halbinsel, stiess er auf Knochen und Topfscherben, die auf eine Seeufersiedlung deuteten. Noch im gleichen Jahr führten Reinhold Bosch und die «Historische Vereinigung Seengen» (heute «Historische Vereinigung Seetal und Umgebung») erfolgreiche Sondierungen und Grabungen durch.[2] Eine weitere kleinere Grabung wurde 1925 unternommen.[3]
Bereits die ersten Funde liessen vermuten, dass es sich um eine Siedlung aus der Spätbronzezeit handelt, die ins 11. bis 9. Jh. v. Chr. datiert. In der Schichtabfolge wurden drei Bauphasen erkannt.[4][5] Die Ausdehnung der Siedlung beläuft sich auf 75 m Länge und 55 m Breite, so dass sie eine Fläche von über 4000 m² einnahm. Es wurde festgestellt, dass sie von einer Steinumwallung umgeben war. Nach Bosch handelt es sich nicht um einen Pfahlbau im eigentlichen Sinne, sondern um einen richtigen Moorbau.[6]
In der Septemberkampagne 1923 wurde ungefähr in der Mitte der Siedlung ein Gebäudegrundriss im Ausmass von 4,40 m × 6,30 m freigelegt. Der Hausgrundriss zeigt eine Kombination aus senkrechten Pfosten und horizontalen Unterzügen. Das Rahmenwerk besteht aus Eichenbalken. Bosch spricht von einem «Blockwandhaus» mit einem einzigen Innenraum.[6] Wey vermutet, dass es sich bei diesem aufgedeckten Befund um einen Unterbau handelt, auf dem erst der eigentliche Wohnbau folgt.[7]
Darunter wurden die Bodenkonstruktionen einer zweiten und dritten Hütte gefunden, bei denen es sich laut Bosch um ein «Flechtwandhaus» handelte.[6] Zumindest lassen die verschiedenen Lagen aufgedeckter Böden vermuten, dass es sich bei diesen älteren Hausbefunden um eine andere Bauweise handelt.[7] Infolge des Einsinkens der Böden und eines Teiles der Wände mussten die Bauten offenbar von Zeit zu Zeit erneuert werden.[8]
Bisher wurden nur etwa zwei Prozent der gesamten Siedlungsfläche archäologisch ausgegraben.[9]
Verschiedene Funde sind heute (2019) im Museum Burghalde in Lenzburg ausgestellt.
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Grabungsfoto, 1923
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Grabungsfoto, 1923
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Rekonstruktion des Unterbaus nach Bosch, 1923
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Rekonstruktionszeichnung eines Pfahlbaus von Reinhold Bosch
Funde und Datierung
BearbeitenZu den Funden aus der Bronzezeit gehören Keramikfunde wie Kochtöpfe und feine Schalen, Glasperlen, eine Steinperle, verschiedene zum Teil verzierte Tonwirtel, die zum Spinnen gebraucht wurden, mehrere Reibsteine, ein Steinbeil, einige Feuersteinmesserlein, eine halbe Bronze-Oberarmspange, drei Bronzenadeln, einige Mühlesteine, Schleudersteine, ein Bergkristall mit Schlagspuren und vieles andere mehr.[10]
Nach Wey verweisen die scharf abgeflachten Ränder der Gefässe, Zierelemente wie eingeritzte Zickzacklinien, Dreieckreihen, Linienbänder und hängende Bögen sowie Nadeln mit abgeflachtem Kugelkopf und eine Zweikopfnadel in die Hallstattzeit der Stufe Ha A2 (11. Jh. v. Chr.). Auch die nachfolgende Stufe Ha B1 scheint mit reicher gefüllten Zierzonen noch vertreten zu sein.[7]
Der Siedlungstyp Seeufersiedlung
BearbeitenBei Seeufersiedlungen handelt es sich um archäologisch besonders wertvolle Fundstellen, da im Feuchtbodenmilieu Hinterlassenschaften aus organischem Material erhalten bleiben, beispielsweise Bauhölzer und organische Abfälle die z. B. bei Zubereitung und Verzehr von Nahrung entstehen (siehe Erhaltungsbedingungen für organisches Material). Die Holzbauten lassen sich mittels Dendrochronologie besonders gut datieren.[11] Allerdings sind die Kulturschichten sehr empfindlich und durch verschiedene menschliche und natürliche Einflusse bedroht.[12]
Der Siedlungstyp der Seeufersiedlung tauchte in der frühen Jungsteinzeit um 4500 v. Chr. auf und verschwand am Ende der Bronzezeit um 850–800 v. Chr. Er war an Seeufern und in Moorgebieten beiderseits der Alpen verbreitet. Die grösste Anzahl fand sich im Schweizer Mittelland. Es handelt sich bei den jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Siedlungsresten um Dörfer, die von den ersten Ackerbauern und Viehzüchtern in dieser Region errichtet wurden (siehe Neolithische Revolution).[12]
Ein Hauptgrund, warum die jungsteinzeitlichen und bronzezeitlichen Bauern ihre Dörfer auf trocken gefallenen Strandplatten von Seen oder Moorgebieten errichteten, dürfte die Suche nach einer dauerhaften Wasserstelle in Zeiten relativer Trockenheit gewesen sein. Ausserdem dürfte der weiche, kaum bewachsene Baugrund ein Anreiz gewesen sein, da er es erlaubte, Holzpfähle in den Boden zu rammen, die Dach und Wände der Häuser trugen.[13]
Stieg der Seespiegel infolge einer Klimaverschlechterung an, wurde die überschwemmte Siedlung aufgegeben bzw. in ein höher gelegenes Gebiet verlegt. Die Kulturschicht und die organischen Reste wurden dann durch das Wasser und den Schlick konserviert.[12]
UNESCO-Welterbe «Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen»
BearbeitenAm 27. Juni 2011 hat die UNESCO 111 Fundstellen aus 6 Ländern Deutschland, Italien, Frankreich, Slowenien, Österreich und der Schweiz als «Prähistorische Pfahlbauten um die Alpen» in die Weltkulturerbeliste aufgenommen. In der Schweiz sind es 56 Fundstellen aus der Jungstein- und Bronzezeit. Für den Kanton Aargau sind dies die beiden Siedlungsstellen Seengen-Riesi und Beinwil-Ägelmoos.[14]
Es werden insbesondere zwei wichtige Forschungsschwerpunkte hervorgehoben[12]:
- Seeufersiedlungen liefern Erkenntnisse über die Beziehungen von Umwelt und Bevölkerung über einen Zeitraum von rund 4000 Jahren, insbesondere die Reaktionen der Bevölkerung auf Klimaschwankungen.
- Die Zeugnisse liefern Erkenntnisse über die sozialen Beziehungen zwischen verschiedenen identifizierten Kulturen. Das betrifft sowohl die Ufersiedlungen untereinander als auch der materielle und immaterielle Austausch mit anderen Kulturen auf dem europäischen Kontinent.
Nachgebauter Pfahlbau in Seengen
BearbeitenBeim Männerbad in Seengen steht ein nachgebautes Pfahlbauhaus. Dieses wurde 1989 nach Vorbild von Ausgrabungsbefunden aus dem Wauwilermoos (Kanton Luzern) gebaut. Informationstafeln machen auf die Seeufersiedlungen im und um den Hallwilersee aufmerksam.[15]
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Mit Schindeln gedeckter Nachbau
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Eingang
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Mit Lehm bestrichene Flechtwand
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Giebelseite
Siehe auch
BearbeitenLiteratur
BearbeitenArchäologische Berichte:
- Reinhold Bosch: Über das Moordorf Riesi am Hallwilersee. In: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde. Neue Folge 26, Heft 2–3, 1924, S. 73–85. (Online)
- Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte Nr. 15, 1923, Rubrik: Bronzezeitliche Kultur. Nr. 14: Seengen, S. 61–64. (Online)
- Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte Nr. 16, 1924, Rubrik: Die Kultur der Bronzezeit. Nr. 15: Seengen, S. 57–59. (Online)
- Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte Nr. 17, 1925, Rubrik: Die Kultur der Bronzezeit. Nr. 21: Seengen, S. 56–57. (Online)
Seeufersiedlungen / Pfahlbauten im Allgemeinen:
- Elisabeth Bleuer, Stefan Hochuli, Ebbe Nielsen: Die neolithischen und bronzezeitlichen Seeufersiedlungen des zentralen Mittellandes. In: Archäologie Schweiz 27, 2004, S. 30–41. (Online)
- Pierre Corboud, Margaret Gowen: Protection of the World Heritage against archaeological research. The case of the Prehistoric Pile Dwellings around the Alps registered at UNESCO. In: Jahrbuch Archäologie Schweiz 99, 2016, S. 157–164. (Online)
- Pierre Corboud, Gishan F. Schaeren: Die Pfahlbauten der Schweiz. (= Schweizerische Kunstführer, 99/988–989) 2017.
- Pierre Corboud: Ufersiedlungen. Feuchtbodensiedlungen. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 3. April 2019.
- Marc-Antoine Kaeser: Les palafittes au Patrimoine mondial de l’Unesco. Eléments pour un bilan d’étape. In: Archäologie Schweiz Nr. 4, 2017, S. 16–23.
- Peter J. Suter, Helmut Schichtherle u. a.: Pfahlbauten. UNESCO Welterbe-Kandidatur «Prähistorische Pfahlbauten rund um die Alpen». Verein zur Unterstützung der UNESCO-Welterbe Kandidatur «Prähistorische Pfahlbauten rund um die Alpen», Biel, 2009.
- Emil Vogt: Die Spätbronzezeitliche Keramik der Schweiz und ihre Chronologie. Zürich, 1930.
- Othmar Wey: Seeufersiedlungen am Hallwiler- und Baldeggersee. In: Markus Höneisen et al. (Hrsg.): Die ersten Bauern. Pfahlbaufunde Europas. Forschungsberichte zur Ausstellung im Schweizerischen Landesmuseum und zum Erlebnispark / Ausstellung Pfahlbauland Zürich. Band 1: Schweiz. Schweizerisches Landesmuseum Zürich, 1990, S. 286–287.
Weblinks
Bearbeiten- Fundstelle Riesi palafittes.org
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Corboud, Schaeren: Die Pfahlbauten der Schweiz.
- ↑ Reinhold Bosch: Über das Moordorf Riesi am Hallwilersee. In: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde. Neue Folge 26, Heft 2–3, 1924, S. 73.
- ↑ Othmar Wey: Seeufersiedlungen am Hallwiler- und Baldeggersee. 1990, S. 286.
- ↑ Reinhold Bosch: Über das Moordorf Riesi am Hallwilersee. In: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde. Neue Folge 26, Heft 2–3, 1924, S. 75.
- ↑ Pierre Corboud, Gishan F. Schaeren: Die Pfahlbauten der Schweiz. (= Schweizerische Kunstführer, 99/988–989) 2017, S. 74.
- ↑ a b c Jahresbericht der Schweizerischen Gesellschaft für Urgeschichte Nr. 15, 1923, Rubrik: Bronzezeitliche Kultur. Nr. 14: Seengen, S. 62.
- ↑ a b c Othmar Wey: Seeufersiedlungen am Hallwiler- und Baldeggersee. 1990, S. 287.
- ↑ Emil Vogt: Die Spätbronzezeitliche Keramik der Schweiz und ihre Chronologie. 1930, S. 9.
- ↑ Pierre Corboud, Gishan F. Schaeren: Die Pfahlbauten der Schweiz. (= Schweizerische Kunstführer, 99/988–989) 2017, S. 74.
- ↑ Reinhold Bosch: Über das Moordorf Riesi am Hallwilersee. In: Anzeiger für schweizerische Altertumskunde. Neue Folge 26, Heft 2–3, 1924, S. 81–81.
- ↑ Corboud, Schaeren: Die Pfahlbauten der Schweiz. S. 2–3.
- ↑ a b c d Pierre Corboud: Ufersiedlungen. Feuchtbodensiedlungen. In: Historisches Lexikon der Schweiz. 3. April 2019.
- ↑ Corboud, Schaeren: Die Pfahlbauten der Schweiz. S. 8–10.
- ↑ Kantonsarchäologie Aargau: Bericht der Kantonsarchäologie 2011. In: Argovia. Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau. Nr. 124, 2012, S. 271.
- ↑ Aargauer Zeitung: Infotafeln für unsichtbares Welterbe am Hallwilersee. Online-Beitrag vom 3. August 2011 (abgerufen am 26. August 2019); Kanton Aargau: Seengen - Jungsteinzeitliches Haus (Rekonstruktion) im Moos. (Abgerufen am 26. August 2019)
Koordinaten: 47° 19′ 2,4″ N, 8° 12′ 8,9″ O; CH1903: 657750 / 241000