Sergey Lagodinsky
Sergey Lagodinsky (russisch Сергей Лагодинский / Sergei Lagodinski; * 1. Dezember 1975 in Astrachan, Russische SFSR, Sowjetunion) ist ein deutscher Rechtsanwalt, Publizist und Politiker (Bündnis 90/Die Grünen). Seit der Europawahl 2019 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA.[1]
![Portraitfoto von Sergey Lagodinsky, der in die Kamera blickt](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/a/a2/Sergey_Lagodinsky_in_the_European_Parliament_%28cropped%29.jpg/220px-Sergey_Lagodinsky_in_the_European_Parliament_%28cropped%29.jpg)
Leben
BearbeitenLagodinsky zog mit seiner Familie Ende 1993 als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland,[2] wo sie sich in Kassel niederließen. Lagodinsky studierte Rechtswissenschaften an der Universität Göttingen sowie Public Administration an der Harvard University[3]. Er promovierte im Bereich Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Fellow am Global Public Policy Institute und bei der Stiftung Neue Verantwortung. 2010 war er mit Persönlichkeiten wie Alexei Nawalny Greenberg World Fellow der Yale University.[4]
Publizistisch arbeitet er für mehrere Zeitungen und Rundfunkanstalten wie Deutschlandradio Kultur, Deutschlandfunk und Deutsche Welle. Ebenso kommentierte er für den BBC World Service sowie RTVi, für Radio Liberty und N24 und veröffentlichte Gastbeiträge unter anderem für den Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung sowie für Die Welt, die Financial Times Deutschland und das Handelsblatt.[5] Von September 2003 bis Februar 2006 war Lagodinsky Direktor des Berliner Büro des American Jewish Committee. Seit 2008 bis 2012 war Lagodinsky Präsidiumsmitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.[6] Seit 2016 ist er Mitglied der Repräsentantenversammlung.[7]
Politik
BearbeitenVonn 2001 bis 2011 war Lagodinsky Mitglied der SPD.[8] Er gründete den Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und beteiligte sich am Bundesarbeitskreis der Integration und Migration beim Bundesvorstand der SPD.[9] Nach der Einstellung des Parteiordnungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin beendete er 2011 seine Parteimitgliedschaft[10] und veröffentlichte einen Offenen Brief an die Generalsekretärin Andrea Nahles, in dem er seinen Austritt mit der Ängstlichkeit und Unentschlossenheit der Partei begründete.[11] Kurze Zeit später trat er Bündnis 90/Die Grünen bei.[12] Ab April 2012 leitete Lagodinsky das Referat Europäische Union / Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung.[13] Zudem war er weiterhin als Anwalt tätig und unterrichtete Verfassungsrecht und Politik am Bard College Berlin (2017) sowie an der Leuphana-Universität in Lüneburg (2018).
Im November 2018 kandidierte Lagodinsky auf der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen für die Europawahlliste, die Delegierten wählten ihn auf Platz 12.[14][15] Seine Partei gewann bei der Europawahl mit 20,5 Prozent der Stimmen 21 der 96 deutschen Mandate, sodass Lagodinsky als Abgeordneter in Europäische Parlament direkt einzog. Er trat der Fraktion Die Grünen/EFA bei. In der 9. Legislatur war er Vorsitzender der Delegation des Europäischen Parlaments des Gemeinsamer Parlamentarischer Ausschuss EU-Türkei, stellvertretendem Vorsitzender des Rechtsausschusses und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten.[16] Bei der Europawahl 2024 wurde Lagodinsky auf Listenplatz 2 erneut ins Europäische Parlament gewählt.
Seit Beginn der 10. Legislatur ist er Vorsitzender der Parlamentarischen Versammlung EuroNest, Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, sowie im Rechtsausschuss und in der Delegation für die Beziehungen zu Belarus. Sowie stellv Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie , Der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sowie und Gemeinsamer Parlamentarischer Ausschuss EU-Türkei. Auch wurde er als stellv. Vorsitz der Fraktion Die Grünen/EFA gewählt.[17]
Europäisches Vereinsrecht und Rechtsstaatlichkeit
Lagodinsky initiierte und verhandelte als Berichterstatter für die Grünen/EFA das „Statut für europäische grenzüberschreitende Vereinigungen und Organisationen ohne Erwerbszweck“, den das Europäische Parlament im Februar 2022 mit überwältigender Mehrheit angenommen hat. Die Initiative greift langjährige Forderungen aus der Zivilgesellschaft auf, EU-weite Maßnahmen zu ihrem Schutz einzuführen. Als Reaktion auf die Entschließung des Parlaments legte die Kommission am 5. September 2023 einen Vorschlag für eine Richtlinie über europäische grenzüberschreitende Vereinigungen vor. Das Europäische Parlament nahm am 13. März 2024 in erster Lesung eine legislative Entschließung zu dem Vorschlag an. (Europäisches Parlament)
Lagodinsky ist zudem ein starker Verfechter der Rechtsstaatlichkeit, kritisierte die anti-demokratischen Praktiken in Ungarn und Polen und unterstützte Maßnahmen zur Durchsetzung von Konditionalitätsmechanismen für EU-Mittel (HBS Brussels).
Außenpolitik
Lagodinsky setzt sich insbesondere für die pro-demokratische russische und belarussische Opposition ein. So übernahm er am 14. September 2020 die Patenschaft für Maksim Snak, belarussischer Anwalt und politischer Gefangener.[17][18] und forderte immer wieder die Freilassung von Alexei Nawalny und verurteilte die Behandlung Nawalnys durch die russische Regierung. Er forderte immer wieder klare Sanktionen und Maßnahmen gegen Russland, auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ab 2022(Europäisches Parlament). Er zählte zu den ersten Grünen Politiker*innen/ Er war der erste Grüne Politiker in Deutschland, der // , die eine militärische Unterstützung der Ukraine forderten (Deutschlandfunk / FAZ).
Während seiner Amtszeit als Vorsitzender der Delegation des Europäischen Parlaments des Gemeinsamer Parlamentarischer Ausschuss EU-Türkei konnte Lagodinsky gemeinsam mit seinen Kollegen die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und der türkischen Delegation wiederbeleben. (Europäisches Parlament) Lagodinksky setzte sich immer wieder für die Belange von politischen Gefangenen ein und nahm unter anderem als Beobachter am Prozess um Osman Kavala teil.[18]
Digitalpolitik:
Als Schattenberichterstatter für den AI Act in dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten (LIBE) spielte Lagodinsky eine Schlüsselrolle bei der Ausgestaltung einer ethischen und nachhaltigen KI-Regulierung, die Grundrechte in den Mittelpunkt stellt und Vertrauen in Innovationen schafft (Grüne/EFA). Außerdem arbeitete Lagodinsky aktiv am Digital Governance Act (DGA) mit Open Future, European Parliamen, der die sichere und transparente Weiterverwendung von geschützten Daten fördert, sowie die Etablierung neutraler und vertrauenswürdiger Datenvermittlungsdienste, um Innovation und die Nutzung von Daten für das Gemeinwohl zu unterstützen (Europäische Kommission).
Publizistische Stellungnahmen und Kontroversen
BearbeitenLagodinsky beteiligt sich seit Jahren an der Diskussion um Integration von Migranten[19] und schildert dabei auch autobiografische Einsichten zum Thema der Identität als jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.[20][21]
Sergey Lagodinsky stellte sich in der Diskussion um den Bau der Kölner Moschee gegen Ralph Giordano und setzte sich für den Bau repräsentativer muslimischer Gotteshäuser in Deutschland ein.[22] Er kritisierte scharf die Absetzung des Leiters des Zentrums für Türkeistudien Faruk Şen und sprach sich gegen eine Tabuisierung des Vergleichs von türkischen und jüdischen Diskriminierungserfahrungen aus.[23] In der Diskussion um die Vergleichbarkeit von Antisemitismus und Islamophobie vertritt er die Ansicht, dass vergleichende Analysen beider Phänomene von großem Nutzen sein können.[24]
Außenpolitisch hat Lagodinsky u. a. zu den Fragen des deutsch-israelischen Verhältnisses,[25] der transatlantischen Beziehungen[26] und zu EU-Fragen[27] Stellung bezogen. Im Jahre 2009 lieferte er sich eine kontroverse Auseinandersetzung mit Klaus Harpprecht auf den Seiten der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte zum Stellenwert der deutsch-israelischen Beziehungen.[28]
Im Jahre 2006 forderte Lagodinsky in der Süddeutschen Zeitung vom Zentralrat der Juden in Deutschland eine institutionelle Anerkennung der kulturellen und religiösen Vielfalt des gegenwärtigen jüdischen Lebens in Deutschland.[29] Nach der Lancierung der Information über Charlotte Knoblochs Rücktritt im Jahr 2010 bezeichnete er die Kampagne innerhalb des Zentralrates der Juden gegen die damalige Präsidentin als „würdelos“.[30]
Im Februar 2011 kam es zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen Henryk M. Broder und Lagodinsky bezüglich der Erinnerungsarbeit zum Widerstand in der Rosenstraße. Broder warf Lagodinsky vor, durch seine Zusammenarbeit mit Irene Runge und Mario Offenberg, die Broder als DDR-Kollaborateure und „schäbige Trittbrettfahrer der Geschichte“ bezeichnete, das Ansinnen der Gedenkveranstaltung, Zivilcourage in totalitären Regimen zu ehren, zu konterkarieren.[31] Lagodinsky antwortete, für ihn stehe die Arbeit mit Menschen im Mittelpunkt, auch mit solchen, die in der Vergangenheit Fehler begangen hätten.[32] Auch Lagodinskys Plädoyer für eine Beteiligung Deutschlands an der Durban-Review-Konferenz 2009 in Genf, die von diversen westlichen Staaten boykottiert wurde,[33] führte zu einer weiteren Auseinandersetzung mit Broder.[34]
Lagodinsky warnte 2021 vor der Entwicklung Russlands zum totalitären Staat, darüber hinaus vor russischer Vereinnahmung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und westliche Naivität. In Russland gebe es anstelle eines positiven Gesellschaftsentwurfs nur „ideologischen Angriff“, also ständige „Ablehnung dessen, wofür der Westen steht“.[35]
In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Dezember 2023 vertrat Lagodinsky die Ansicht, dass ein „EU-Nuklearschirm kein Tabu“ mehr sein dürfe und begründete die Notwendigkeit, darüber zumindest nachzudenken und zu debattieren, mit der möglichen Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und der Eskalationsgefahr, die durch Russland seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine bestehe.[36]
Auszeichnungen
Bearbeiten1998 wurde Lagodinsky mit dem Theodor-Fontane-Preis der Studienstiftung des deutschen Volkes „für seinen Einsatz in der deutsch-jüdischen Aussöhnung“ ausgezeichnet.[37][38]
Weblinks
Bearbeiten- Offizieller Internetauftritt von Lagodisnky
- Sergey Lagodinsky in der Abgeordneten-Datenbank des Europäischen Parlaments
- Profil des Global Public Policy Institute (englisch)
- Interview zur Gründung des Arbeitskreises „Jüdische Sozialdemokraten“ ( vom 12. Juli 2007 im Internet Archive) in der Jüdischen Zeitung 2007
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Alphabetisches Verzeichnis aller Gewählten - Der Bundeswahlleiter. Abgerufen am 27. Mai 2019.
- ↑ Übertritt für russischsprachige Zuwanderer - Konversion light? Abgerufen am 6. Dezember 2021.
- ↑ lagodinsky.de: VITA | lagodinsky.de. Abgerufen am 31. März 2020 (deutsch).
- ↑ Eugen El: "Ich wünsche ihm, dass er überlebt" Interview. In: Jüdische Allgemeine. Zentralrat der Juden in Deutschland, 18. Januar 2021, abgerufen am 18. Januar 2021.
- ↑ Jüdisches Museum Frankfurt: Sergey Lagodinsky: Curriculum Vitae ( vom 14. April 2016 im Internet Archive).
- ↑ Körber-Stiftung: Kurzbiographie ( vom 4. März 2016 im Internet Archive).
- ↑ Repräsentantenversammlung: Mitglieder. Jüdische Gemeinde zu Berlin, abgerufen am 21. Juni 2018.
- ↑ Sarrazin war ihm zu viel taz.de vom 27. April 2011
- ↑ SPD hat „grundlegende Werte verraten“ – Interview. Deutschlandradio Kultur, 28. April 2011
- ↑ „Betrübt und beschämt“ – ein trauriger Brief an Nahles, Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2011
- ↑ Offener Brief – „Die Partei will sich Sarrazin nicht stellen“, Jüdische Allgemeine vom 27. April 2011
- ↑ Von der SPD zu den Grünen ( vom 10. September 2012 im Webarchiv archive.today). Süddeutsche.de, 8. Juni 2011.
- ↑ Sergey Lagodinsky auf der Homepage der Heinrich-Böll-Stiftung
- ↑ Grüne Europaliste. Abgerufen am 13. Juli 2019.
- ↑ dpa: Grüne empfehlen sich kämpferisch für Europa. Berliner Morgenpost, 10. November 2018, archiviert vom am 13. Juli 2019 (deutsch).
- ↑ Home | Sergey LAGODINSKY | Abgeordnete | Europäisches Parlament. Abgerufen am 13. Juli 2019.
- ↑ Sergey Lagodinsky. In: European Parliament. Europäisches Parlament, abgerufen am 15. Juli 2019 (englisch).
- ↑ European Parliament delegation to visit Turkey for Osman Kavala case, auf duvarenglish.com
- ↑ Unser Uwe. Tagesspiegel, 10. August 2006
- ↑ Jüdischer Almanach – Identitäten. Suhrkamp Verlag, 2009, S. 45
- ↑ Unechte Juden, Echte Probleme. In: tachles – jüdisches Wochenmagazin, 2. Februar 2007
- ↑ Keine Angst von Minaretten. In: Welt am Sonntag
- ↑ Die Grenzen des Akzeptablen. taz.de
- ↑ Veröffentlicht in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Islamfeindschaft und ihr Kontext. Dokumentation der Konferenz „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“. Metropol, Berlin 2009. S. 151. Rezension (PDF; 109 kB) von Armin Pfahl-Traughber in DÖW Mitteilungen, 191, S. 7 f.
- ↑ Israel – ein progressiver Traum. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, August 2008.
- ↑ Sergey Lagodinsky, Thorsten Benner: Vom Liliputaner zur Mittelmacht. ( vom 6. Januar 2009 im Internet Archive) (PDF; 35 kB) In: Handelsblatt, 11. Januar 2007, S. 8
- ↑ Von der Frage zur Antwort. ( vom 18. September 2013 im Internet Archive) (PDF; 102 kB) In: Financial Times Deutschland, 20. März 2007.
- ↑ Israel und die Deutschen. ( vom 30. März 2016 im Internet Archive) (PDF; 338 kB) In: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Juli/August 2009.
- ↑ Die Arroganz der Altvorderen. (PDF; 117 kB) In: Süddeutsche Zeitung, 10. Juni 2006
- ↑ Lagodinsky: Zentralrat hat sich würdelos verhalten. Interview auf Deutschlandradio Kultur, 8. Februar 2010
- ↑ Henryk M. Broder: „Sehr geehrter Genosse Lagodinsky“ Achse des Guten, 23. Februar 2011
- ↑ Arbeit mit Menschen. Achse des Guten, 24. Februar 2011
- ↑ Entgiften statt Torpedieren. In: Jüdische Allgemeine, 2. April 2009
- ↑ Henryk M. Broder: Kein Grund zur Dankbarkeit. Achse des Guten, 20. April 2009
- ↑ «Wir müssen verstehen, dass wir uns auf ein geopolitisches Spiel einlassen», NZZ, 16. Mai 2021
- ↑ Helene Bubrowski, Matthias Wyssuwa: Europas Verteidigung: Warum ein Nuklearschirm kein Tabu sein darf. In: FAZ.NET. 27. Dezember 2023, ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 28. Dezember 2023]).
- ↑ „Studienstiftung des deutschen Volkes vergab Theodor-Fontane-Preis“ ( vom 13. Juli 2012 im Internet Archive). Meldung des Informationsdienst Wissenschaft, 30. November 1998.
- ↑ Global Public Policy Institute: Sergey Lagodinsky, fellow ( vom 29. April 2011 im Internet Archive) (englisch).
Personendaten | |
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NAME | Lagodinsky, Sergey |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Rechtsanwalt und Publizist |
GEBURTSDATUM | 1. Dezember 1975 |
GEBURTSORT | Astrachan, Russische SFSR, Sowjetunion |