Soziale Durchmischung

Konzept der Stadtentwicklung

Soziale Durchmischung oder Soziale Mischung ist ein Konzept der Stadtentwicklung. Sie fusst auf der soziologischen Annahme der Segregation.

Durch soziale Durchmischung wird versucht, soziale Integration zu fördern und soziale Segregation zu reduzieren. Dies kann durch unterschiedliche Wohnformen erreicht werden, wie beispielsweise durch eine Mischung aus Sozialwohnungen und höherpreisigen Eigentumswohnungen sowie durch den Zugang zu gemeinsamen öffentlichen Einrichtungen wie Schulen, Parks und Freizeitzentren.

Das Hauptziel der sozialen Durchmischung ist es, eine diverse und inklusive Gesellschaft zu fördern.[1][2]

Wichtige Teilziele sind:

  • Soziale Integration: Menschen unterschiedlicher sozialer und wirtschaftlicher Hintergründe leben zusammen und interagieren miteinander, was zu einem besseren Verständnis und einer stärkeren Gemeinschaft führt.[3]
  • Reduzierung von sozialer Segregation: Verhinderung der Bildung von Stadtteilen oder Gemeinschaften, in denen nur eine soziale Schicht dominiert, und damit Verringerung sozialer Ungleichheit.[4]
  • Erhöhung der Chancengleichheit: Zugang zu denselben Ressourcen und Möglichkeiten für alle Bewohner, unabhängig von ihrem sozialen Status.[5]
  • Verbesserung der Lebensqualität: Schaffung einer lebendigeren und dynamischeren Umgebung durch die Mischung verschiedener Bevölkerungsgruppen, was zu kulturellem Austausch und gegenseitiger Unterstützung führt.[6]

Geschichte

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19. Jahrhundert

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Als Urvater der sozialen Durchmischung gilt Georges-Eugène Haussmann, bekannt als Baron Haussmann, französischer Stadtplaner, der von 1853 bis 1870 als Präfekt des Départements Seine tätig war. Er ist berühmt für die umfassende Umgestaltung von Paris, die als „Haussmannisierung“ bekannt geworden ist. Durch die Neugestaltung der Stadt wurden viele ärmere Bewohner aus den Stadtzentren verdrängt und in periphere Bereiche umgesiedelt. Dies führte zu einer gewissen sozialen Durchmischung, da neue Wohngebiete für Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten geschaffen wurden.[7]

Bei seinem 1862 verabschiedeten „Bebauungsplan der Umgebungen Berlins“, legte Städteplaner James Hobrecht erstmals explizit Wert auf soziale Durchmischung, in dem er plante, dass im Vorderhaus von Wohnblöcken Unternehmende und Angestellte wohnen sollten, während in den Seitenflügeln und Hinterhöfen die Arbeiter untergebracht werden sollten.[8]

Der Sozialreformer Ebenezer Howard sprach sich in seinem ab 1888 geschaffenem Gartenstadt-Konzept für eine Durchmischung der Bevölkerung aus.[9]

20. Jahrhundert

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lm frühen 20. Jahrhundert setze sich Patrick Geddes, ein schottischer Biologe und Stadtplaner, für die Integration verschiedener sozialer Schichten in städtischen Gebieten ein.[10]

Als Folge des Zweiten Weltkriegs waren Wohnungsnot und Wiederaufbau zentrale Themen in der Politik Europas und den USA, weswegen sich das Konzept der sozialen Durchmischung in den damals durchgeführten Projekten des sozialen Wohnungsbaus wiederfindet.[11][12] Wichtige Akteure waren hier, unter anderen, der schweizerische Architekt Le Corbusier ab 1947[13] und die US-amerikanische Städteplanerin Jane Jacobs ab 1961.[14]

In der Reformära der 1960er und 1970er Jahre wurde die soziale Durchmischung als progressive Politik angesehen, die darauf abzielte, inklusivere und gerechtere Gemeinschaften zu schaffen. Regierungen und Stadtplaner in westlichen Ländern wie Deutschland, Kanada und Großbritannien setzten Maßnahmen zur Förderung der sozialen Durchmischung in städtischen Gebieten um.[15]

Der Fair Housing Act von 1968 (auch bekannt als Civil Rights Act von 1968) ist ein bedeutendes amerikanisches Bundesgesetz, das Diskriminierung im Wohnungswesen aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder Familienstand verbietet. Es wurde am 11. April 1968 von Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnet und gehörte zum Reformprogramm „Great Society“.[16]

Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus in den 1980er Jahren verschob sich der Fokus der sozialen Durchmischungspolitik hin zu marktorientierten Lösungen. Die soziale Durchmischung trat in den Hintergrund, da Regierungen mit Finanzkrisen konfrontiert waren und die Finanzierung sozialer Programme reduzierten.[17]

Die Forderung nach sozialer Durchmischung gewann in den 1990er-Jahren wieder an Bedeutung, da die sozialen Ungleichheiten und Segregationen in den Städten weiterhin bestanden und sich teilweise verschärft hatten.[18][19]

Unklare Definition und Zielsetzung

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Die soziale Durchmischung wird oft als diffuser Begriff verwendet, ohne klar definierte Ziele und Maßnahmen. Dies führt dazu, dass die Ergebnisse schwer messbar und die Erfolgskriterien unklar sind.[20]

Empirische Wirksamkeit

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Studien zeigen, dass soziale Durchmischung nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der sozialen Integration führt. Individuelle Notlagen und soziale Benachteiligungen werden durch eine bessere soziale Mischung nicht automatisch gelöst.[21]

Gentrifizierung

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Ein häufiger Nebeneffekt der Bemühungen um soziale Durchmischung ist die Gentrifizierung. Während hochwertige Wohnprojekte und Annehmlichkeiten in ein Viertel gebracht werden, steigen oft die Mieten und Eigentumspreise, was zur Verdrängung einkommensschwächerer Bewohner führt.[22]

Stigmatisierung

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Es besteht die Gefahr, dass bestimmte Viertel als "Problemzonen" oder "sozial schwache" Gebiete stigmatisiert werden, was negative Auswirkungen auf das soziale Gefüge und die Wahrnehmung der Bewohner haben kann.[18]

Fehlende Nachhaltigkeit

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Viele Projekte zur Förderung der sozialen Durchmischung sind langfristig nicht nachhaltig. Kurzfristige Erfolge werden nicht immer in langfristige soziale Integration und Stabilität umgesetzt.[20]

Politische Widerstände

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Soziale Durchmischung erfordert oft politische und öffentliche Unterstützung, die nicht immer gegeben ist. Es gibt Widerstände von Seiten von Lokalpolitikern und Bewohnergruppen, die Änderungen in ihrer Nachbarschaft skeptisch gegenüberstehen.[22]

Ungleiche Machtverhältnisse

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Kritiker argumentieren, dass soziale Durchmischung oft zugunsten wohlhabenderer Haushalte gestaltet wird, während die Bedürfnisse der ärmeren Bevölkerung nicht ausreichend berücksichtigt werden.[20]

Literatur

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  • Berking, Helmut; Neckel, Sighard (1998): "Stadtmarathon — Die Inszenierung von Individualität als urbanes Ereignis", in: Scherpe, Klaus (Hrsg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 203-221.
  • Tilman Harlander, Gerd Kuhn et al. (Hrsg.): Soziale Mischung in der Stadt: Fallstudien zur Wohnungspolitik in Europa. Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 2001.
  • Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Soziale Integration – Urbanität und soziale Ungleichheit. In: Stadtsoziologie. Campus Verlag, 2004.
  • Talja Blokland: Gemeinschaft in der Stadt: Die soziale Organisation von Vielfalt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007.
  • Heinz Faßmann, Yvonne Franz: Soziale Mischung und soziale Durchmischung: Ein gesellschaftspolitisches Ideal zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Waxmann Verlag, 2015
  • Christa Reicher, Holger Hoffschröer (Hrsg.): Transformation und Mischung: Städtebau im Wandel. JOVIS, 2022

Einzelnachweise

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  1. Die offene Stadt – divers, integrativ, sozial. In: Egon Zehnder.com. Abgerufen am 5. Januar 2025.
  2. JOH: Soziale Mischung in Wohnquartieren. Bundestag.de, abgerufen am 8. Januar 2025.
  3. Jutta Guhl, Maurice Blanc: Segregation und soziale Benachteiligung. In: Marginalisierung, Stadt und Soziale Arbeit : Soziale Arbeit im Spannungsfeld von Politik, Quartierbevölkerung und professionellem Selbstverständnis. Springer Fachmedien, Wiesbaden 2023, ISBN 978-3-658-37386-3, S. 187–202, doi:10.1007/978-3-658-37386-3_10.
  4. „Die Spaltung wird größer“. In: FAZ.de. 2. Juni 2018, abgerufen am 5. Januar 2025.
  5. Mehr Chancengleichheit durch soziale Durchmischung. Zusammensetzung der Schulen beeinflusst die Schulleistungen. In: Research Gate. 2014, abgerufen am 5. Januar 2025.
  6. Olaf Schnur: Quartierseffekte und soziale Durchmischung. (PDF) In: Vhw.de. vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung, 2020, abgerufen am 5. Januar 2025.
  7. Haussmannisierung. In: Architektur Lexikon. Abgerufen am 5. Januar 2025.
  8. In Berlin wird Geschichte geschrieben – wir zeigen, wo sie lebendig wird. Tip Berlin, abgerufen am 6. Januar 2025.
  9. Gartenstadt Modell von Ebenezer Howard: Beispiele und Merkmale in Deutschland (Geographie/Erdkunde). In: Knowunity.de. Abgerufen am 5. Januar 2025.
  10. Patrick Geddes. In: Hodgers.com. Abgerufen am 6. Januar 2025.
  11. Riege Mario: Der soziale Wohnungsbau. Sein Beitrag und seine Grenzen für eine soziale Wohnungspolitik. 19. Februar 1993, abgerufen am 6. Januar 2025.
  12. Christina Gräwe: Sozialer Wohnungsbau der Moderne – Umbau oder Abriss? In: Bauwelt. Abgerufen am 6. Januar 2025.
  13. Karl-Heinz Braun: Die „Unité d’habitation“ von Le Corbusier in Marseille. In: Soziale Passagen. Band 7, Nr. 1, 1. Juni 2015, ISSN 1867-0199, S. 85–121, doi:10.1007/s12592-015-0192-z.
  14. Reformprojekt Great Society. Die Entdeckung der „Mannigfaltigkeit“. In: Zeithistorische Forschungen. Abgerufen am 5. Januar 2025.
  15. Bridge, G., Butler, T., & Lees, L. (2012). Mixed Communities: Gentrification by Stealth?. Policy Press.
  16. Daniela Grunow, Patrick Sachweh, Uwe Schimank, Richard Traunmüller: Social Integration: Conceptual Foundations and Open Questions. An Introduction to this Special Issue. In: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Band 75, Nr. 1, 1. Dezember 2023, ISSN 1861-891X, S. 1–34, doi:10.1007/s11577-023-00896-1 (springer.com [abgerufen am 6. Januar 2025]).
  17. Tunstall, R., & Lupton, R. (2010). *Mixed Communities: Evidence Review*. Communities and Local Government Publications.
  18. a b Soziale Durchmischung: Ein Ideal auf dem Prüfstand. In: Giersch. 23. Januar 2022, abgerufen am 6. Januar 2025.
  19. Segregation in Deutschland: Die soziale Spaltung der Städte nimmt zu. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 6. Januar 2025]).
  20. a b c Soziale Durchmischung. In: Bertelsmann Stiftung. 2022, abgerufen am 5. Januar 2025.
  21. Soziale Durchmischung: Mythos oder Realität. BFH, abgerufen am 5. Januar 2025.
  22. a b Uwe Rada: Die Urbanisierung der Angst Von einer kulturellen zur sozialen und räumlichen Technik der Verdrängung. In: Kultur in der Stadt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1998, ISBN 978-3-8100-2052-9, S. 101–119, doi:10.1007/978-3-663-10580-0_7.