Trugschluss (Musik)

Begriff aus der Musiktheorie

Als Trugschluss werden in der Musiktheorie Formen von Kadenzflucht (von italienisch sfuggir la cadenza)[1] bezeichnet, bei denen der Schlussklang eines vollkommenen authentischen Ganzschlusses, der ein Stück oder einen Abschnitt beschließen könnte, abgewandelt bzw. durch einen anderen Klang ersetzt wird. Der endgültige Schluss wird auf diese Weise aufgeschoben; man spricht dann auch von Trugfortführung.[2] Die wichtigsten Trugschlüsse, welche das Ohr um die erwartete Schlusswirkung der Tonika „betrügen“, sind als Tonikavertreter in Dur die Tonikaparallele und in Moll der Tonikagegenklang. Auch Mediantklänge dienen als Trugschluss.[3] Nachweisbar ist der Begriff (von ital. cadenza d’inganno) ab dem späten 18. Jahrhundert.[4]

Im heutigen Sprachgebrauch zielt der Begriff häufig in einem engeren Sinn auf Fälle, wo die Dominante (in Grundstellung) in den Dreiklang der VI. Stufe (ebenfalls in Grundstellung) statt in die Tonika geführt wird.[5]

Kontrapunktische Erklärung

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Aus kontrapunktischer Perspektive schreitet dabei der vorletzte Ton (die Pänultima) der Bassklausel unterhalb eines Kadenzgerüsts aus Tenor- und Diskantklausel aufwärts, anstatt eine Quinte abwärts (oder eine Quarte aufwärts) zu springen:

 

Da die Tenor- und die Sopranklausel unverändert bleiben ("verantwortlich" für die Kadenzflucht ist hier nur die Bassstimme), ergibt sich (vom Bass aus gesehen) im Zielklang eine Verdopplung der Terz (eine aufwärts geführte Tenorklausel ergäbe eine Quintparallele zum Bass).

Stufentheoretische Beschreibung

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Die Stufentheorie beschreibt eine solche Fortschreitung als Stufenfolge V–VI.

Funktionstheoretische Deutung

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Trugschluss in C-Dur mit Funktionsbezeichnungen

Aus der Perspektive der Funktionstheorie wird die Dominante statt in die Tonika in einen Tonikavertreter geführt: In Dur in die Tonikaparallele (Tp), in Moll in den Tonikagegenklang (tG), z. B.:

  • in C-Dur: C-Dur (Tonika) - G-Dur (Dominante) - a-Moll (Tonikaparallele)
  • in c-Moll: c-Moll (Tonika) - G-Dur (Dominante) - As-Dur (Tonikagegenklang).

Als Varianttrugschluss wird in der Funktionstheorie ein Trugschluss in Dur bezeichnet, dessen Zielklang der gleichnamigen Molltonart entnommen ist, z. B. in C-Dur: C-Dur (T) – G-Dur (D) – As-Dur (tG).

Weitere Varianten

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Quellen und Literatur (chronologisch)

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Einzelnachweise

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  1. Geprägt wurde diese Formulierung von Nicola Vicentino (1555, S. 54f.) und Gioseffo Zarlino (1558, Kap. 54). Belege aus den folgenden Jahrhunderten sind u. a. Bononcini 1673, S. 81 und Walther 1732, S. 125. Eingedeutschte Varianten sind u. a. nachweisbar in Scheibe 1745, S. 478, 687 („Ausfliehen der Cadenz“) oder Marpurg 1753, S. 112 („fliehender Tonschluß“). In der heutigen deutschsprachigen Musiktheorie ist der Begriff „Kadenzflucht“ gängig auch im Hinblick auf Musik des 18. Jahrhunderts; siehe z. B. Daniel 2000, S. 198ff.
  2. Reiner Gaar: Orgelimprovisation. Carus Verlag, Stuttgart 2003. ISBN 3-89948-054-6, S. 16, Notenbild 11
  3. Wieland Ziegenrücker: Allgemeine Musiklehre mit Fragen und Aufgaben zur Selbstkontrolle. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1977; Taschenbuchausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, und Musikverlag B. Schott’s Söhne, Mainz 1979. ISBN 3-442-33003-3, S. 125.
  4. Türk 1789, S. 352.
  5. Hempel 2001, S. 189.
  6. Türk 1789, S. 352. Das dortige Notenbeispiel besteht nur aus einem bezifferten Bass. Die Oberstimmenrealisierung wurde hinzugefügt.