Unterbindungsgewahrsam

Haft zur Vorbeugung bei erwarteten Straftaten

Als Unterbindungsgewahrsam, Präventivgewahrsam, Präventivhaft oder Präventionshaft, in Anspielung auf die Zeit des Nationalsozialismus satirisch-überspitzt auch „Vorbeugungshaft[1][2], wird im Polizeirecht der deutschen Länder eine Form des Polizeigewahrsams zur Verhütung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung oder deren Fortsetzung bezeichnet.[3] Eine derartige präventive Freiheitsentziehung unterliegt verfassungsrechtlich hohen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit.[4] Die Ermächtigungsgrundlage hierfür ist meist in den Polizeigesetzen der Länder zu finden. Voraussetzung ist immer, dass die Beeinträchtigung des Rechtsgutes nicht auf mildere Weise verhindert werden kann.[5] Während die polizeilich angeordnete Ingewahrsamnahme spätestens zum Ablauf des folgenden Tages enden muss (so bereits Art. 104 Abs. 2 und 3 GG), kann ein Richter eine Verlängerung anordnen.

Begründet wird Unterbindungsgewahrsam allgemein damit, dass durch ihre Gefangennahme die betroffene Person daran gehindert werde, eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung oder eine Straftat zu begehen oder fortzusetzen. In Bayern ist darüber hinaus eine Ingewahrsamnahme seit 1. August 2017 auch schon zur Abwehr einer (konkreten) Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zulässig. Aus verfassungsrechtlichen Gründen wurden vor allem wegen dieses Punkts eine Vielzahl an Klagen gegen das Polizeiaufgabengesetz (Bayern) beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingereicht, zumal gleichzeitig die bisherige Höchstdauer von zwei Wochen abgeschafft worden war. Über die Klagen wurde bisher noch nicht im Hauptsacheverfahren entschieden; im einstweiligen Rechtsschutz wurden entsprechende Anträge abgelehnt[6]. Inzwischen führte der Bayerische Landtag zum 1. August 2021 eine Befristung auf zwei Monate ein.[7]

Regelung nach Gesetzen des Bundes und der Länder

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Die genaue Ausgestaltung (insbesondere der Höchstdauer aufgrund gerichtlicher Anordnung) des Gewahrsams ist in den Polizeigesetzen des Bundes und der einzelnen Ländern unterschiedlich:

Bundesbehörde/Land Paragraph Höchstdauer Gewahrsamszweck
Bundespolizei § 39–42 BPolG 4 Tage „wenn eine Straftat nach den §§ 125, 125a des Strafgesetzbuches oder eine gemeinschaftlich begangene Nötigung nach § 240 des Strafgesetzbuches begangen worden ist und Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der Betroffene sich an einer solchen Straftat beteiligt hat oder beteiligen wollte und ohne die Freiheitsentziehung eine Fortsetzung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist“ (§ 42 BPolG) „um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern“ (§ 39 Abs. 1 Nr. 3 BPolG)
Bundeskriminalamt § 57 BKAG 4 Tage (§ 57 Abs. 2 BKAG in Verbindung mit § 42 BPolG) „um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung von Straftaten nach § 5 Absatz 1 Satz 2 zu verhindern“
Baden-Württemberg § 33 PolG 14 Tage Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit
Bayern Art. 17–20 PAG 2 Monate[8][9] Abwehr einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut; Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat[10]
Berlin §§ 30, 31, 33 ASOG 2 Tage[11] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat
Brandenburg § 20 Abs. 1 BbgPolG 4 Tage[12] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit, die hinsichtlich ihrer Art und Dauer geeignet ist, den Rechtsfrieden nachhaltig zu beeinträchtigen
Bremen § 13–16 BremPolG 4 Tage bzw. genauer „96 Stunden“[13] Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr
Hamburg § 13c SOG 10 Tage[14] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder einer Straftat
Hessen § 35 HSOG 6 Tage[15] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit
Mecklenburg-Vorpommern § 56 Abs. 5 SOG M-V 10 Tage (unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat), sonst 3 Tage[16] Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung; Verhinderung einer unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat
Niedersachsen §§ 18, 19, 21 NPOG 10 Tage, bei „einer bevorstehenden terroristischen Straftat“ bis zu insgesamt 35 Tage[17] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit
Nordrhein-Westfalen §§ 35 Abs. 1 Nr. 2, 36–38 PolG 28 Tage „wenn es sich um eine Straftat nach § 12 Absatz 1 StGB (Verbrechen) handelt“, ansonsten 2 Tage[18] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit
Rheinland-Pfalz §§ 14, 15, 17 Abs. 2 POG 7 Tage „zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat“ oder um eine Platzverweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchzusetzen, sonst 2 Tage[19] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung
Saarland § 16 SPolG 8 Tage[20] Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit
Sachsen § 26 Nr. 3 SächsPVDG 14 Tage[21] „unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung zu verhindern“[22]
Sachsen-Anhalt § 40 Abs. 1 Nr. 3 SOG LSA 4 Tage[23] „unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern“[24]
Schleswig-Holstein § 204 Abs. 5 LVwG keine Höchtsdauer genannt[25] „unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern“[25]
Thüringen § 22 Nr. 3 PAG 10 Tage[26] „unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung zu verhindern“[27]

Siehe auch

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Einzelnachweise

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  1. Oliver Welke et al.: heute-show vom 11. November 2022. In: ZDF Mediathek. Zweites Deutsches Fernsehen, 11. November 2022, abgerufen am 12. November 2022.
  2. Constanze Kurz: Klimaaktivisten ohne Gerichtsverfahren in Haft. In: Netzpolitik.org. 7. November 2022, abgerufen am 12. November 2022.
  3. Dieter Kugelmann: Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, S. 140.
  4. Dieter Kugelmann: Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, S. 140.
  5. Dieter Kugelmann: Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, S. 141.
  6. VerfGH Bayern, Entscheidung vom 7. März 2019 – Vf. 15-VII-18
  7. Mit Gesetz vom 23. Juli 2021 (GVBl. S. 418)
  8. Art. 20 Dauer der Freiheitsentziehung. In: Polizeiaufgabengesetz (PAG) / Bayern.Recht. Abgerufen am 8. Dezember 2022 (Text gilt ab: 1. August 2021).
  9. Gesetz zur Änderungen des Polizeiaufgabengesetzes. In: www.gesetze-bayern.de. Bayerische Staatskanzlei, 23. Juli 2021, abgerufen am 1. August 2021.
  10. Nach Festklebe-Aktion am Stachus: Zwölf Klimaaktivisten müssen 30 Tage in Gewahrsam. Süddeutsche Zeitung, 4. November 2022.
  11. § 33 ASOG
  12. § 20 BbgPolG
  13. § 16 BremPolG, Transparenzportal Bremen – Bremisches Polizeigesetz (BremPolG) in der Fassung vom 6. Dezember 2001 (Brem.GBl. 2001, S. 441; 2002, S. 47), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 20. September 2022 (Brem.GBl. S. 512). Abgerufen am 2. Dezember 2022.
  14. § 13c SOG – Dauer der Freiheitsentziehung. In: Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG), Hamburg. lexsoft.de – Justizportal Nordrhein-Westfalen, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  15. § 35 Dauer der Freiheitsentziehung. In: Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) in der Fassung vom 14. Januar 2005, Fassung vom 25. Juni 2018, Gültig ab 4. Juli 2018. Bürgerservice Hessenrecht, Land Hessen, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  16. § 56 Verfahren bei amtlichem Gewahrsam. In: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (Sicherheits- und Ordnungsgesetz – SOG M-V) vom 27. April 2020, Fassung vom 27. April 2020, gültig ab 5. Juni 2020. Landesrecht M-V, Mecklenburg-Vorpommern, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  17. § 21 NPOG, Dauer der Freiheitsbeschränkung oder Freiheitsentziehung. Abgerufen am 2. Dezember 2023.
  18. § 38 […] Dauer der Freiheitsentziehung. In: Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW); Bekanntmachung der Neufassung vom 25. Juli 2003, mit Stand vom 1. Dezember 2022, § 38 geändert durch Gesetz vom 13. Dezember 2018 (GV. NRW. S. 684, ber. 2019 S. 23), in Kraft getreten am 20. Dezember 2018. recht.nrw.de, Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  19. § 17 POG – Dauer der Freiheitsentziehung. In: Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (POG), [Landesrecht Rheinland-Pfalz], in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. November 1993 (GVBl. S. 595), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 23. September 2020 (GVBl. S. 516). lexsoft.de, Justizportal Nordrhein-Westfalen, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  20. § 16 Dauer der Freiheitsentziehung. In: Bürgerservice Saarland, Ministerium der Justiz, Saarland. Abgerufen am 2. Dezember 2022.
  21. § 26 Beendigung der Freiheitsentziehung. In: Gesetz über die Aufgaben, Befugnisse, Datenverarbeitung und Organisation des Polizeivollzugsdienstes im Freistaat Sachsen (Sächsisches Polizeivollzugsdienstgesetz – SächsPVDG), erlassen als Artikel 1 des Gesetzes zur Neustrukturierung des Polizeirechtes des Freistaates Sachsen, vom 11. Mai 2019. REVOsax, Sächsische Staatskanzlei, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  22. § 22 Gewahrsam. In: Gesetz über die Aufgaben, Befugnisse, Datenverarbeitung und Organisation des Polizeivollzugsdienstes im Freistaat Sachsen (Sächsisches Polizeivollzugsdienstgesetz – SächsPVDG), erlassen als Artikel 1 des Gesetzes zur Neustrukturierung des Polizeirechtes des Freistaates Sachsen, vom 11. Mai 2019. REVOsax, Sächsische Staatskanzlei, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  23. § 40 Dauer der Freiheitsentziehung. In: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Mai 2014. Landesrecht Sachsen-Anhalt, Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Sachsen-Anhalt, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  24. § 37 Gewahrsam. In: Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Mai 2014. Landesrecht Sachsen-Anhalt, Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Sachsen-Anhalt, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  25. a b § 204 LVwG – Gewahrsam von Personen. In: Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein (Landesverwaltungsgesetz – LVwG), in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1992 (GVOBl. Schl.-H. S. 243, 534), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 29. April 2022 (GVOBl. Schl.-H. S. 549). gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de, Justizportal Schleswig-Holstein, abgerufen am 20. Dezember 2022.
  26. § 22 Dauer der Freiheitsentziehung. In: Thüringer Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG –) vom 4. Juni 1992, Fassung vom 27. November 1997, gültig ab 1. Januar 1998. Bürgerservice Thüringen, Thüringer Finanzministerium, abgerufen am 2. Dezember 2022.
  27. § 19 Gewahrsam. In: Thüringer Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG –) vom 4. Juni 1992, Fassung vom 19. September 2013, gültig ab 28. September 2013. Bürgerservice Thüringen, Thüringer Finanzministerium, abgerufen am 2. Dezember 2022.