Uti possidetis

völkerrechtlicher Grundsatz

Uti possidetis (lateinisch „wie ihr besitzt“; vollständig: uti possidetis, ita possideatis – „wie ihr besitzt, so sollt ihr besitzen“) ist eine Ausformung des völkergewohnheitsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes.[1]

Ursprünglich besagte das Uti-possidetis-Prinzip, dass Vertragsparteien nach einer kriegerischen Auseinandersetzung das Territorium und andere Besitzungen behalten dürfen, die sie während des Krieges gewonnen und zum Zeitpunkt des Friedensschlusses in Besitz hatten. Dieses Prinzip wird auch status quo post bellum (lat. für „Stand der Dinge nach dem Krieg“) genannt. Nach Beendigung eines Krieges und zum Zeitpunkt des Friedensschlusses kann ein völkerrechtlicher Vertrag den Grundsatz des uti possidetis oder den Grundsatz des status quo ante bellum (lat. für „Stand der Dinge vor dem Krieg“) oder eine Kombination aus beidem anwenden. Wenn ein Vertrag keine Bedingung hinsichtlich des Besitzes von Eigentum und gewaltsam erobertem Territorium enthält, gilt uti possidetis.[1]

Weil die Grenzen des Staatsgebietes durch das Gebiet bestimmt werden, das ein Staat tatsächlich in Besitz hat, wird es auch als das ursprüngliche, an den tatsächlichen Verhältnissen orientierte Prinzip (uti-possidetis-de-facto) bezeichnet. Die Grenzen der Staaten Süd- und Mittelamerikas beruhen allerdings nicht auf dem Ergebnis kriegerischer Eroberungen, sondern auf den Grenzen ehemaliger kolonialer Verwaltungsbezirke.[2] In der Fortentwicklung des Prinzips sollte dementsprechend weniger der effektive Besitz die maßgebliche Rolle spielen, sondern bestehende Rechtsverhältnisse, die auf Dokumenten, Karten und Rechtsakten beruhen. Zur Unterscheidung wurde der Begriff uti-possidetis-iuris-Prinzip („uti possidetis de iure“) geprägt.[3]

In ihrer heutigen Ausformung geht die Regel über den Grundsatz stabiler politischer Grenzen nicht hinaus. Eine weitergehende Bedeutung hat sie nicht. Anwendung erfuhr und erfährt sie insbesondere im Rahmen der Unabhängigkeit der kolonialen Besitzungen sowie bei Dismembration, Sezession bzw. dem Zerfall von Staaten. In jüngerer Zeit wurde beim Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion darauf zurückgegriffen.

Für das Uti-possidetis-Prinzip ist es unerheblich, ob ein neuer Staat seine Unabhängigkeit auf legalem Weg erreicht hat oder ob es überhaupt eine Legitimation dafür gab. Es legt ausschließlich die Grenzen zwischen neuen Staaten fest, die wirksam ihre Unabhängigkeit erreicht haben. Für diese Bestimmung der Grenzen müssen keine Voraussetzungen für ein Selbstbestimmungsrecht erfüllt sein. Es widerspricht einem solchen Recht aber auch nicht. Es gibt ihm lediglich eine territoriale Basis; es existiert für Völker innerhalb dieser Grenzen.

Das Uti-possidetis-Prinzip ist nicht bedeutungsgleich mit dem Prinzip der territorialen Integrität. Es definiert allerdings das Territorium eines neuen Staates, dessen Integrität von diesem Prinzip geschützt wird.

Literatur

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  • Santiago Torres Bernárdez: The „Uti Possidetis Juris Principle“ in Historical Perspective. In: Konrad Ginther, Gerhard Hafner, Winfried Lang, Hanspeter Neuhold, Lilly Sucharipa-Behrmann (Hrsg.): Völkerrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Realität. Festschrift für Karl Zemanek zum 65. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 1994, ISBN 3-428-08175-7, S. 417–437.
  • Dieter Blumenwitz: Uti possidetis iuris – uti possidetis de facto. Die Grenze im modernen Völkerrecht. In: Horst Dreier, Hans Forkel, Klaus Laubenthal (Hrsg.): Raum und Recht. Festschrift 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät. Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 3-428-10943-0, S. 377–389.
  • Helen Ghebrewebet: Identifying Units of Statehood and Determining International Boundaries. A Revised Look at the Doctrine of „Uti Possidetis“ and the Principle of Self-Determination. Peter Lang, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-631-55092-8 (Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht 66) (Zugleich: Göttingen, Univ., Diss., 2005).
  • Malcolm Shaw: The Heritage of States. The Principle of Uti Possidetis Juris Today. In: British Year Book of International Law. Vol. 67, 1996, ISSN 0068-2691, S. 75–154.
  • Christiane Simmler: Das uti possidetis-Prinzip. Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten (= Schriften zum Völkerrecht; SVR 134), Duncker & Humblot, Berlin 1999, ISBN 978-3-428-09566-7.
  • Christiane Simmler: Selbstbestimmungsrecht der Völker contra uti possidetis? Zum Verhältnis zweier sich angeblich widersprechender Regeln des Völkerrechts. In: Verfassung und Recht in Übersee. Law and Politics in Africa, Asia and Latin America (VRÜ), Vol. 32, No. 2, 1999, S. 210–235.

Einzelnachweise

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  1. a b Uti possidetis Law & Legal Definition. USLegal, Inc. (uslegal.com), abgerufen am 16. August 2010 (englisch).
  2. Vgl. Bernd Roland Elsner, Die Bedeutung des Volkes im Völkerrecht. Unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Praxis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, Duncker & Humblot, Berlin 2000, S. 272 f.
  3. Wilfried Schaumann, Uti-possidetis-Doktrin, S. 483.