Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Verfassung der Schweiz
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Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (französisch Constitution fédérale de la Confédération suisse, italienisch Costituzione federale della Confederazione Svizzera, rätoromanisch Constituziun federala da la Confederaziun svizra/?) vom 18. April 1999 (abgekürzt BV, SR 101) ist die Verfassung der Schweiz. Sie geht zurück auf die erste Bundesverfassung vom 12. September 1848, mit der die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat geeint wurde.

Basisdaten
Titel: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft
Kurztitel: Bundesverfassung
Abkürzung: BV
Art: Verfassung
Geltungsbereich: Schweizerische Eidgenossenschaft
Rechtsmaterie: Verfassungsrecht
Systematische
Rechtssammlung (SR)
:
101
Ursprüngliche Fassung vom:18. April 1999
Inkrafttreten am: 1. Januar 2000
Bitte den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung beachten.
Original der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848 (Bild zum Blättern)
Erste Seite der Bundesverfassung (Stand 1. Januar 2008)

Stellung in der Rechtshierarchie

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Die Bundesverfassung steht auf der obersten Stufe des schweizerischen Rechtssystems. Ihr sind sämtliche Erlasse des Bundes (Bundesgesetze, Verordnungen, Bundesbeschlüsse) und Erlasse der Kantone und der Gemeinden untergeordnet. Grundsätzlich dürfen diese daher der Bundesverfassung nicht widersprechen. Eine Ausnahme bildet das zwingende Völkerrecht (ius cogens), dem die Bundesverfassung untergeordnet ist.[1] Auf gleicher Stufe wie die Bundesverfassung stehen völkerrechtliche Verträge, die dem Menschenrechtsschutz dienen. Das sind beispielsweise die EMRK oder die UNO-Pakte I und II.[2]

Die Bundesverfassung schliesst allerdings die direkte (abstrakte) gerichtliche Anfechtung von «Akten» (d. h. rechtsetzenden Bestimmungen und Einzelakten) der Bundesversammlung und des Bundesrates aus (Art. 189). Die Überprüfung einer Verordnung des Bundesrates oder der Bundesversammlung durch das Bundesgericht auf ihre Verfassungsmässigkeit ist aber in konkreten Anwendungsfällen möglich, ausser wenn ihr Inhalt durch die nicht anfechtbare Delegationsbestimmung im Gesetz gedeckt ist.[3] Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend (Art. 190), d. h., gegen ihre Anwendung ist keine Beschwerde vor einem Schweizer Gericht möglich. Es gibt somit keine Verfassungsgerichtsbarkeit für Bundesgesetze. Diese spezielle Regelung ist Ausdruck eines speziellen Rechtsstaatsverständnisses: Die von der Volksvertretung erlassenen – und allenfalls in einem Referendum vom Stimmvolk angenommenen – Gesetze sollen nicht durch ein Gericht ausser Kraft gesetzt werden können.[4]

Gliederung

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Allgemeine Bestimmungen

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Die Verfassung wird mit der Präambel eingeleitet, die mit dem Gottesbezug «Im Namen Gottes des Allmächtigen!» beginnt. Die darauffolgenden enthalten die «staatsgestaltenden Grundentscheidungen» des Verfassungsrechts:[5] die Träger (Art. 1) und den Zweck der Eidgenossenschaft (Art. 2), die föderale Grundausrichtung (Art. 3), die vier Landessprachen (Art. 4), die Rechtsstaatlichkeit (Art. 5), das Subsidiaritätsprinzip im Bundesstaat (Art. 5a) und die persönliche Verantwortung des Einzelnen für sich und die Gemeinschaft als Ausdruck der Subsidiarität zwischen Staat und Gesellschaft (Art. 6). Diese Normen sind rechtlich verbindlich, in der Regel jedoch nicht einklagbar. Der Verfassungsgeber verzichtete darauf, einen eigentlichen «Wesensartikel» wie Art. 20 GG aufzunehmen, und normierte abgesehen vom Bundesfeiertag (Art. 110 Abs. 3) keine Symbole der Eidgenossenschaft.[6]

Grundrechte

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Titel 2 umschreibt die Grundrechte (Art. 7–36), die Bürgerrechte (Art. 37–40) und die Sozialziele (Art. 41). Grundrechte schützen elementare Ausprägungen des menschlichen Daseins und insbesondere jene Aspekte, die sich gegenüber der Staatsgewalt als besonders gefährdet erwiesen.[7] Die Freiheitsrechte sind die ältesten anerkannten Grundrechte und sichern dem Individuum als Abwehrrechte eine Sphäre menschlicher Handlungen, in die der Staat nur unter hohen Anforderungen eingreifen darf. Die Freiheitsrechte suchen die staatliche Macht zu begrenzen.[8] Klassische Freiheitsrechte sind der Schutz der körperlichen und geistigen Unversehrtheit, die Religions-, Wirtschafts- oder Meinungsfreiheit. Daneben verbrieft die Bundesverfassung zahlreiche rechtsstaatliche Garantien, die greifen, wenn das Individuum im Kontakt mit dem Staat ist. Art. 8 verpflichtet den Staat, die Rechtsunterworfenen gleich zu behandeln, und verbietet Diskriminierung aufgrund bestimmter verpönter Merkmale.[9] Zu den rechtsstaatlichen Garantien gehören die Verfahrensgrundrechte (Art. 29 ff.), die den Rechtsunterworfenen, wenn sie sich in den Händen des Staates befinden, Rechte im und auf Verfahren einräumen.[10] Die Bundesverfassung garantiert auch soziale Grundrechte, die direkt einklagbare Ansprüche auf staatliche Leistung verbriefen. Anerkannt sind das Recht auf Grundschulunterricht, Existenzsicherung und unentgeltliche Rechtspflege.[11]

Bund, Kantone und Gemeinde

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Titel 3 nennt sich «Bund, Kantone und Gemeinden» und regelt in den Art. 43–135 die Kompetenzaufteilung zwischen den drei staatlichen Gliederungsebenen. Darin ist insbesondere die umfassende Liste der Zuständigkeiten des Bundes (Art. 54–125) von Bedeutung: Jeder Erlass des Bundes muss sich auf eine solche Norm stützen. Existiert keine explizite Bundeskompetenz in einem bestimmten Gebiet, so sind dafür die Kantone zuständig und der Bund ist darin nicht befugt, gesetzgeberisch tätig zu werden (siehe Föderalismus in der Schweiz, Subsidiarität).[12] Die Kompetenzen des Bundes sind im Laufe der Zeit ständig erweitert worden, und auch heute ist diese Liste relativ häufigen Änderungen unterworfen – sei es durch Anstoss der Bundesbehörden mittels obligatorischen Referendums oder durch Volksinitiativen.[13]

Volk und Stände

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Der vierte Titel ist mit «Volk und Stände» überschrieben und regelt in Art. 136 die politischen Rechte des Volkes und der Kantone, insbesondere die direktdemokratischen Volksrechte (Initiative und Referendum).

Organisation der Bundesbehörden

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Titel 5 ist den Bundesbehörden gewidmet und umreisst die Organisation und Kompetenzen der Bundesversammlung (Legislative, Art. 143–173), des Bundesrates und der Bundesverwaltung (Exekutive, Art. 174–187) sowie des Bundesgerichtes und der anderen richterlichen Behörden (Judikative, Art. 188–191 sowie Art. 191a–c). Der sechste und letzte Titel enthält die Revisionsmöglichkeiten der Verfassung (Art. 192–195, siehe unten) und die Übergangsbestimmungen (Art. 196 und Art. 197).

Verfassungsrevision und Übergangsbestimmungen

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Der sechste und letzte Titel enthält zum einen die Bestimmungen über die Verfassungsänderung, zum anderen die Übergangsbestimmungen.

Geschichte

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Darstellung zur Erinnerung an das Inkrafttreten der ersten Bundesverfassung am 12. September 1848

Bundesrevisionskommission von 1848

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Die Tagsatzung hatte am 16. August 1847 beschlossen, eine Kommission zur Revision des Bundesvertrages einzusetzen.[14] Am 17. Februar 1848 traten die Verfassungsmacher von 1848 im Rathaus zum Äusseren Stand Bern zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Es waren mehrheitlich Kantonsoberhäupter und Mitglieder von Kantonsregierungen. Sechs der 23 Kommissionsmitglieder wurden im neuen Staat in den allerersten Bundesrat gewählt. Die Bundesrevisionskommission von 1848 wurde vom Berner Ulrich Ochsenbein präsidiert. Die Arbeit der Kommission beanspruchte 31 Sitzungen in 51 Tagen und endete am 8. April mit der Präsentation eines Verfassungsentwurfs. Dieser wurde anschliessend den Kantonalinstanzen und der Tagsatzung unterbreitet, wo nur wenige Retuschen angebracht wurden.[15]

Bundesverfassung von 1848

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Siegel der Bundesverfassung von 1848

Grundlage für die heutige Bundesverfassung ist die Verfassung vom 12. September 1848, als die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat wurde.[16] Diese Verfassung wurde am 14. September 1848 vom letzten Präsidenten der Tagsatzung Alexander Ludwig Funk und dem Kanzler der Eidgenossenschaft Johann Ulrich Schiess unterzeichnet.[17] Der Einführung der Verfassung von 1848 war der kurze Sonderbundskrieg vorausgegangen.

Die Verfassung von 1848 wurde im Juli und August 1848 vom Schweizer Volk (nur Männer) in kantonalen Volksabstimmungen (mit Ausnahme des Kantons Freiburg, für welchen das Kantonsparlament abstimmte)[18] mit 72,8 % Ja-Stimmen angenommen. Dafür stimmten die Kantone ZH, BE, LU, GL, FR, SO, BS, BL, SH, AR, SG, GR, AG, TG, VD, NE, GE.[19] Der Kanton Luzern nahm die Verfassung nur deswegen an, weil die Nichtstimmenden als Ja-Stimmen (Veto-Prinzip) gezählt wurden.[20]

Die neue Verfassung war von der Verfassung der Vereinigten Staaten (das Zweikammerparlament ist dem amerikanischen Repräsentantenhaus und Senat nachgebildet)[21] sowie dem Gedankengut der Französischen Revolution (Bürgerrechte) beeinflusst. Sie sah vor, dass die Kantone eigenständig (souverän) seien, soweit sie diese Souveränität nicht explizit einschränke.[22] Die Zuständigkeit des Bundes war damals eng begrenzt und umfasste im Wesentlichen die Aussenpolitik, das Münzregal, die Festlegung der Masse und Gewichte sowie die Errichtung oder Unterstützung öffentlicher Werke.[23]

Revision von 1866

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Die Verfassung von 1848 wurde 1866 das erste Mal geändert. Die Juden erhielten die Gleichstellung gegenüber den Schweizer Bürgern. 1864 hatte er Bund einen Handels- und Niederlassungsvertrag mit den Frankreich abgeschlossen. Der Vertrag sah die gegenseitige Personenfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit für Franzosen und Schweizer vor. Damit wurde eine Inländerdiskriminierung hergestellt, denn die französischen Juden erhielten das Recht auf freie Niederlassung in der gesamten Schweiz, während dieses Recht in der Schweiz den Christen (Art. 41 BV 1848) vorbehalten war. Die öffentliche Meinung erachtete das als ungerecht und forderte eine Gleichstellung der Juden bei der Niederlassung.[24] Diesem Anliegen kam die Bundesversammlung mit einer Änderung der Artikel 41 und 48, mit der eine allgemeine Gleichstellung der Juden vor dem Gesetz eingeführt wurde.[25]

Totalrevisionen von 1872 und 1874

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Flugblatt der Gegner der Totalrevision von 1874

Eine Auseinandersetzung im Parlament um die Einführung der Zivilehe setzte eine Debatte in Gang, an deren Ende die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stand. Die vorgeschlagene Totalrevision von 1872 war sehr zentralistisch geprägt und rief nicht nur den Widerstand der Katholisch-Konservativen hervor, sondern auch von Föderalisten in der Romandie, denen die Einschränkung der Kantonshoheit zu weit ging. In der Abstimmung am 12. Mai 1872 scheiterte sie am Volks- und Ständemehr.

Da die Abstimmungsniederlage relativ knapp ausgefallen war, machte sich das Parlament umgehend daran, eine gemässigtere Totalrevision auszuarbeiten. Sie sah unter anderem die Einführung des Gesetzesreferendums auf eidgenössischer Ebene vor. Durch den im Vergleich zu 1872 eingeschränkten Ausbau der Bundeskompetenzen konnten die Bedenken der Föderalisten ausgeräumt werden. Die Totalrevision von 1874 wurde am 19. April von Volk und Ständen angenommen und trat am 29. Mai in Kraft.[26] Seit 1891 enthält die Verfassung das Initiativrecht auf Teilrevision der Bundesverfassung. Demzufolge kann ein Bruchteil der Stimmberechtigten (derzeit 100'000) den Erlass, die Änderung oder Aufhebung einzelner Bestimmungen der Bundesverfassung vorschlagen und eine Abstimmung von Volk und Ständen (Kantonen) erwirken. Teilrevisionen der Verfassung sind jederzeit möglich.

Letzte Totalrevision von 1999

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Medienkonferenz am 26. Juni 1995 zur Vernehmlassung zur Reform der Bundesverfassung
 
Schweizer Bundesverfassung: Umschlag der amtlichen Ausgabe

Die bisher letzte Totalrevision der Schweizer Verfassung datiert aus dem Jahre 1999. Der Bundesrat bezeichnete seinen Entwurf vom 20. November 1996 als «Nachführung», in deren Rahmen nicht geschriebenes Verfassungsrecht (entstanden im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung durch das Bundesgericht) kodifiziert wurde und nicht auf Verfassungsebene gehörende Bestimmungen (z. B. Absinthverbot) «herabgestuft» wurden. Die Bundesversammlung folgte diesem Konzept einer «Nachführung» zum grösseren Teil, nahm aber auch einige über den Entwurf des Bundesrates hinausgehende inhaltliche Neuerungen auf, insbesondere im Bereich der Organisation der Bundesbehörden, wo die Stellung der Bundesversammlung gegenüber dem Bundesrat wesentlich gestärkt wurde. Die neue Bundesverfassung wurde von Volk und Ständen am 18. April 1999 mit 59,2 % respektive 12 ganzen und 2 halben von 20 ganzen und 6 halben Standesstimmen gutgeheissen. Sie ersetzte die Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (alte Bundesverfassung, kurz aBV) und hat unter anderem neun verschiedene, bis dahin lediglich in Entscheiden des Bundesgerichts und Rechtskommentaren festgehaltene Grundrechte erfasst. Europaweites Novum war außerdem der Schutz der Würde der Kreatur in Art. 120. Die Totalrevision trat am 1. Januar 2000 in Kraft.[22]

Verfassungsänderung

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Verfahren

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Jede Änderung der Bundesverfassung bedarf der Zustimmung der Mehrheit des Volkes und der Kantone. Damit gehört die Schweiz im internationalen Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Hürden für eine Verfassungsänderung.[27] Die hohe Rigidität der Verfassung passt in das System der föderalen Konkordanz- und Konsensdemokratie, in der nicht eine parlamentarische Mehrheit durchregiert, sondern auf die Zusammenarbeit der anderen Parteien angewiesen ist.[28]

Die Bundesverfassung kann durch die Bundesversammlung oder das Volk geändert werden. Dabei können entweder einzelne Artikel (Teil- bzw. Partialrevision) oder die gesamte Verfassung (Totalrevision) geändert werden. Mittels Volksinitiative können 100'000 Stimmberechtigte die Totalrevision der Bundesverfassung verlangen (siehe für Einzelheiten Volksinitiative (Schweiz)#Volksinitiative auf Totalrevision der Bundesverfassung), was mit der Fronteninitiative nur einmal vorkam; die Initiative wurde abgelehnt.[29] Die beiden Parlamentskammern können mit einer parlamentarischen Initiative (Art. 107 ParlG) und einer Motion (Art. 120 ParlG) eine Totalrevision einleiten, desgleichen die Kantone (Art. 160 Abs. 1 BV) oder der Bundesrat (Art. 181 BV).

Auch eine Teilrevision der Bundesverfassung kann von den Stimmberechtigten oder dem Parlament, dem Bundesrat oder den Kantonen verlangt werden. Der Antrag zur Einleitung der Teilrevision kann von jedem Ratsmitglied, jeder Fraktion, jeder parlamentarischen Kommission und jedem Kanton (Art. 160 Abs. 1 BV) sowie vom Bundesrat (Art. 181 BV) ausgehen. Anders als bei der Totalrevision kommt es nicht zu einer Volksabstimmung, wenn sich National- und Ständerat nicht einig sind, ob sie eine Teilrevision der Bundesverfassung durchführen wollen oder nicht. Sollten sich die Differenzen der beiden Räte nicht bereinigen lassen, scheitert das Verfahren (siehe Gesetzgebungsverfahren (Schweiz)). Die Bundesversammlung beschliesst eine Verfassungsänderung mit einfacher Mehrheit.[30] Zur Teilrevision auf dem Weg der Volksinitiative siehe Volksinitiative (Schweiz)#Verfahren bei der Volksinitiative in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs.

Schranken

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Die Bundesverfassung kann jederzeit abgeändert werden. Inhaltlich sind der Abänderbarkeit dadurch Schranken gesetzt, dass die Verfassung zwingendes Völkerrecht nicht verletzen darf (Art. 194 Abs. 2 BV). Ob weitere inhaltliche Schranken bestehen, indem die Kernbereiche der fundamentalen Normen der Verfassung wie Grundrechte, Föderalismus, Demokratie und Rechtsstaat verbindlich sind, wird in der Praxis der Bundesversammlung und des Bundesrates verneint, von der juristischen Lehre aber uneinheitlich beurteilt.[31] Die einzige anerkannte ungeschriebene Schranke ist die faktische Durchführbarkeit der Initiative. Dieser Tatbestand ist etwa erfüllt, wenn die angestrebte Regelung etwa physisch Unmögliches verlangt. Im einzigen Anwendungsfall, der Chevalier-Initiative,[32] lag die Undurchführbarkeit darin im Zeitpunkt begründet: Die Initiative verlangte, dass noch im selben Jahr ihres Zustandekommens die Armeeausgaben um 50 % gesenkt werden sollten. Bis es zur Abstimmung hätte kommen können, wäre die im Text vorgesehene Frist abgelaufen gewesen.[33]

Demnach enthält die Bundesverfassung ausser dem zwingenden Völkerrecht keine unantastbare Verfassungsgarantien, während solche im Ausland vergleichsweise verbreitet sind.[34] Das deutsche Grundgesetz verbietet etwa in der Ewigkeitsklausel (Art. 79Abs. 3 GG) Verfassungsänderungen, die die Menschenwürde antasten[35] oder das republikanische Prinzip, das Demokratie-, Rechtsstaat-, Sozialstaats- oder Bundesstaatsprinzip, die Souveränität der Bundesrepublik sowie das Widerstandsrecht des deutschen Volkes angreifen.[36] Mit Berufung auf Art. 79 Abs. 3 GG setzte das Bundesverfassungsgericht etwa die Identität des Grundgesetzes gegenüber Akten der Unionsorgane durch.[37] In Frankreich und Italien ist nur die republikanische Staatsform immerwährend geschützt.[34]

Die Teilrevision darf zudem nicht gegen den Grundsatz der Einheit der Materie verstossen (Art. 193 und Art. 194 BV).

Die Bundesverfassung wird im internationalen Vergleich oft revidiert[38] – pro Jahr durchschnittlich 1,2 mal[39] trotz der hohen Hürden. Verfassungsänderungen gehören damit zur Alltagspolitik.[40] Der Hauptgrund dafür liegt im Schweizer Verständnis von Verfassung und Verfassungsänderung begründet, das sich auf die Wirren des 19. Jahrhunderts zurückführen lässt. Im Jahr 1848 konstituierte sich die Schweiz als Bundesstaat, der die Verlierer eines teilweise kriegerischen Konflikts in das Gemeinwesen integrieren musste. Politische Konflikte sollten nunmehr durch Änderung von Recht und Gesetz, nicht mehr mit Gewalt ausgetragen werden. Dieser Anspruch bedingt aber, dass die Verfassung überhaupt geändert werden kann.[41] Im Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung 1848 schlug die «Revisions-Commission» daher Bestimmungen vor, «welche die Revision sehr erleichtern, weil es ein Ausfluß der Souveränetät ist, daß ein Volk die Verfassung ändern könne, wann dasselbe es nothwendig findet, und weil die Erfahrung beweist, daß die meisten Revolutionen ihre Ursache gerade darin fanden, daß Verfassungsänderungen zu viele Hindernisse in den Weg gelegt waren […].»[42]

Die Praxis hat den Anspruch, dass politische Auseinandersetzungen im Rahmen einer Verfassungsänderung gelöst werden sollen, weitgehend verwirklicht.[43] Das Verfassungsrecht entwickelt sich in der Schweiz überwiegend durch formelle Änderung des Texts, nicht durch gerichtliche Interpretation und Rechtsfortbildung. Das hängt auch mit der begrenzten Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene zusammen.[44]

Warum die rigide Bundesverfassung doch so häufig geändert wird, ist nicht abschliessend geklärt. Giovanni Biaggini, Staatsrechtslehrer an der Universität Zürich, führt als wichtigen Grund die Tatsache an, dass es für eine Verfassungsänderung im Parlament keine qualifizierte Mehrheit gibt.[45] Stefan G. Schmid, Verfassungsrechtler und -historiker, sieht dagegen die Ursache für die «permanente Verfassungsrevision» in einem der Schweiz eigenen Verfassungsverständnis, das seine Wurzeln im 19. Jahrhundert hat.[46] Die Verfassungen des 19. Jahrhunderts wurden als ewige, unveränderliche und gleichsam vollkommene Gesetze angesehen.[47] Eine solche Position hat zur Folge, dass Änderungen kaum möglich sind. In der Schweiz waren dennoch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Totalrevisionen der kantonalen Verfassungen häufig. Erst der Rechtspositivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der die Verfassung von ihrem Nimbus befreite, verschaffte der Idee einer Teilrevision der Bundesverfassung den Durchbruch, weil er die Verfassung «als ein in der Geschichte stehendes, jederzeit gestaltbares, zeitbedingtes, ja durchaus auch «zeitgeistiges», profanes Dokument» begriff.[48]

Siehe auch

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Literatur

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Commons: Die schweizerische Bundesverfassung – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Ulrich Häfelin, Walter Haller, Helen Keller, Daniela Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. Schulthess, Zürich 2020, S. 625 N. 1922
  2. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 169.
  3. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 5. Auflage. Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 191.
  4. Giovanni Biaggini: BV Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2. Auflage. Zürich 2017, ISBN 978-3-280-07320-9, S. 1451.
  5. Bernhard Ehrenzeller: Vorbemerkungen zu den Allgemeinen Bestimmungen. In: Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 1, 2023, Rn. 2.
  6. Bernhard Ehrenzeller: Vorbemerkungen zu den Allgemeinen Bestimmungen. In: Die schweizerische Bundesverfassung. St. Galler Kommentar. 4. Auflage. Band 1, 2023, Rn. 4 f..
  7. Jörg Paul Müller: Entstehung und Entwicklung der Grundrechte in der Schweiz. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, 1.
  8. Peter Saladin: Grundrechte im Wandel: Die Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts zu den Grundrechten in einer sich ändernden Umwelt. 2. Auflage. Stämpfli, Bern 1975, ISBN 3-7272-9624-0, S. 292 f.
  9. Regina Kiener, Walter Kälin, Judith Wyttenbach: Grundrechte. 4. Auflage. 2024, Rn. 41.
  10. Daniela Thurnherr: Verfahrensgrundrechte. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1477 f.
  11. Regina Kiener: Grundrechte in der Bundesverfassung. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1209.
  12. Biaggini: BV Kommentar Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 2017, S. 94 N 5
  13. Paolo Dardanelli, Sean Mueller: Dynamic De/Centralization in Switzerland, 1848–2010. In: Publius: The Journal of Federalism. Band 49, Nr. 1, 1. Januar 2019, ISSN 0048-5950, S. 153 f., doi:10.1093/publius/pjx056.
  14. Bundesrevision. In: Alfred Escher-Briefedition. Alfred Escher-Stiftung, abgerufen am 17. Oktober 2017.
  15. Rolf Holenstein: Wie die Schweiz 1848 den Stein der Weisen fand. In: NZZ Geschichte. Nr. 17, Juli 2018, S. 28.
  16. Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848 / erstattet von der am 16. August 1847 von der Tagsatzung ernannten Revisionskommission. 1848 (e-rara.ch).
  17. Dossier zur Bundesverfassung auf parlament.ch.
  18. Andreas Kley: Bundesverfassung (BV). In: Historisches Lexikon der Schweiz.
  19. Wolf Linder, Christian Bolliger, Yvan Riedle: Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 bis 2007. 1. Auflage. Haupt, Bern 2010, ISBN 978-3-258-07564-8, S. 19.
  20. Georg Kreis: Die erste Volksabstimmung der neuen Schweiz. In: Neue Zürcher Zeitung. 7. September 2023, ISSN 0376-6829 (nzz.ch).
  21. René Roca: Schweiz und USA: Schwesterrepubliken Im Blog des Schweizerischen Nationalmuseums vom 20. Januar 2021
  22. a b Dossier zur Bundesverfassung auf parlament.ch.
  23. Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz (= Studienkurs Politikwissenschaft). 4. Auflage. Nomos, Baden-Baden 2020, ISBN 978-3-8487-6564-5, S. 432 f.
  24. Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Band 2: Ihre Gundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, 2004, S. 497 f.
  25. Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Band 2: Ihre Gundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, 2004, S. 507.
  26. Alfred Kölz: Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Band 2: Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Stämpfli, Bern 2004, ISBN 3-7272-9455-8, S. 599.
  27. Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. 2020, S. 425; Arend Lijphart: Patterns of Democracy. 2012, S. 208, 211; Astrid Lorenz: How to Measure Constitutional Rigidity. In: Journal of Theoretical Politics. 2005. Band 17, Nr. 3, doi:10.1177/0951629805052883, S. 339–361, hier: S. 359,
  28. Ruth Lüthi, in: Graf/Caroni (Hrsg.), Kommentar zum Parlamentsgesetz. 2. Auflage, 2024, Die Stellung der Bundesversammlung im politischen System der Schweiz Rn. 22.
  29. Volksabstimmung vom 8.9.1935. Abgerufen am 2. Februar 2025.
  30. Bernhard Ehrenzeller/Gabriel Gertsch, in: Ehrenzeller et al. (Hrsg.), St. Galler Kommentar, Art. 194 Rn. 7 f.
  31. Häfelin/Haller/Keller/Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 20. Auflage. 2020, Rn. 27 f.
  32. Eidgenössische Volksinitiative 'Vorübergehende Herabsetzung der militärischen Ausgaben (Rüstungspause)'. In: bk.admin.ch. Bundeskanzlei, abgerufen am 1. Februar 2025.
  33. Bernhard Ehrenzeller/Gabriel Gertsch, in: Ehrenzeller et al. (Hrsg.), St. Galler Kommentar, 2023, Art. 139 Rn. 37.
  34. a b Stefan G. Schmid: «Constitutio semper reformanda»: permanente Verfassungsrevision als wahre Zauberformel der Schweiz? In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Band 121, Nr. 12, 2020, S. 639–663, hier: S. 645.
  35. Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 79 Rn. 26.
  36. Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, Art. 79 Rn. 31 ff.
  37. BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14Europäischer Haftbefehl II»); BVerfG, Urteil vom 5. Mai 2015 – 2 BvR 859/15 («PSPP-Programm der EZB»).
  38. Adrian Vatter: Das politische System der Schweiz. 4. Auflage. 2020, S. 426.
  39. Abstimmungen. In: bfs.admin.ch. Bundesamt für Statistik, abgerufen am 1. Februar 2025.
  40. Andreas Kley: Eigenheiten des schweizerischen Verfassungsrechts. In: Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Band 1, 2020, Rn. 4.
  41. Kaspar Ehrenzeller/Bernhard Ehrenzeller, in: Ehrenzeller et al. (Hrsg.), St. Galler Kommentar, 2023, Vorbemerkungen zur Verfassungsrevision Rn. 6.
  42. Henry Druey: Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848. S. 76 f. Abrufbar auf e-rara.ch, doi: 10.3931/e-rara-24304.
  43. Oliver Diggelmann/Maya Hertig Randall/Benjamin Schindler: Verfassung. In: Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Band 1, 2020, Rn. 8.
  44. Andreas Kley: Eigenheiten des schweizerischen Verfassungsrechts. In: Diggelmann/Hertig Randall/Schindler (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Band 1, 2020, Rn. 5.
  45. Giovanni Biaggini: Verfahren und Methoden der Verfassungsfortbildung. In: Giovanni Biaggini et al. (Hrsg.): Demokratie – Regierungsreform – Verfassungsfortbildung. 2008, ISBN 978-3-7190-2828-2, S. 126.
  46. Stefan G. Schmid: «Constitutio semper reformanda»: permanente Verfassungsrevision als wahre Zauberformel der Schweiz? In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Band 121, Nr. 12, 2020, S. 639–663, hier: S. 646.
  47. Stefan G. Schmid: Direkte Demokratie und dynamische Verfassung – Zum Wandel des Verfassungsverständnisses in der Schweiz im 19. Jahrhundert. In: René Roca, Andreas Auer (Hrsg.): Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen (= Schriften zur Demokratieforschung). 2011, ISBN 978-3-7255-6463-7, S. 24 f. (unisg.ch).
  48. Stefan G. Schmid: «Constitutio semper reformanda»: permanente Verfassungsrevision als wahre Zauberformel der Schweiz? In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Band 121, Nr. 12, 2020, S. 639–663, hier: S. 647 f..