Vierte Welt

Begriff für Menschen, die unter Armut und sozialer Ausgrenzung leiden
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Vierte Welt (englisch fourth world) war speziell in der Entwicklungspolitik und Entwicklungstheorie die Bezeichnung für Entwicklungsländer, die als rohstoff-, kapital- und exportschwach eingestuft werden.[1]

Weltkarte der am wenigsten entwickelten Länder 2020 (ehemalige Staaten in grün)

Allgemeines

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Die „Vierte Welt“ bildet die unterste Stufe einer Rangordnung, zu der die „Erste Welt“, „Zweite Welt“ und „Dritte Welt“ gehören. Heute wird die Vierte Welt häufig mit den am wenigsten entwickelten Ländern (englisch Least Devoloped Countries, LLDC) gleichgesetzt[2], ist aber kein Synonym. Die Abkürzung LLDC wird zur Abgrenzung gegen die weniger entwickelten Länder (englisch Less Developed Countries, LDC) verwendet.[3]

Der Begriff der „Vierten Welt“ (französisch quart monde) wurde im März 1969 von Joseph Wresinski geprägt[4] und bezog sich auf eine von Jean Labbens in Pariser Elendsvierteln durchgeführte soziologische Studie unter dem Titel „Quart Monde“. Der Name verknüpft die Begriffe „Dritte Welt“ und „Vierter Stand“.[5] Wresinski gründete 1957 die – später in ATD Vierte Welt umbenannte – Menschenrechtsorganisation.

Geschichte

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Im deutschen Sprachraum war der „Vierte Stand“ im 19. Jahrhundert gebräuchlich, um den Gegensatz zum „Dritten Stand“ (Geistliche, Gemeindeabgeordnete, Rechtsanwälte) zu kennzeichnen[6] und betraf die Not – aber auch den Emanzipationskampf – der armen Bevölkerung.

Die Auflösung der Kolonien durch die Kolonialmächte nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu mehr als 100 neuen Staaten, die von Staatsgründung an große soziale, religiöse, ethnische und wirtschaftliche Probleme hatten.[7]

Der Ausdruck „Dritte Welt“ geht auf einen Artikel von Alfred Sauvy vom August 1952 in einer französischen Wochenzeitung zurück, wobei er den sich um die Vorherrschaft ringenden kapitalistischen und kommunistischen Welten eine „Dritte Welt“ gegenüberstellte. „Diese missachtete, ausgebeutete, verschmähte Dritte Welt wolle – wie der Dritte Stand – ebenfalls etwas aus sich machen“.[8] Seitdem wurden „Dritte Welt“ und Entwicklungsländer sukzessive gleichgesetzt.[9]

Das „Subproletariat“ meldete sich 1968 in dem Manifest Un peuple parle erstmals öffentlich zu Wort.[10] Im Jahre 1975 führte die Weltbank den Ausdruck „Vierte Welt“ (englisch fourth world) für diejenigen Entwicklungsländer ein, die besonders arm an Rohstoffen sind.[11] Sie spricht dabei von ökonomischer Segmentierung.

In seiner Kritik an der traditionellen Geopolitik hat John A. Agnew 1998 die Welt in die Weltteile „fortgeschritten“ oder „primitiv“ und „modern“ oder „rückständig“ aufgeteilt. Danach steht die europäisch-amerikanische Welt als „Erste Welt“ zuoberst und setzt die Maßstäbe und Standards, an denen sich der Rest zu orientieren hat und messen lassen muss.[12] Mit seiner statischen Perspektive zementierte er die bisherigen geostrategischen Auffassungen.

Bei Johan Galtung wird der Begriff Vierte Welt neu definiert. Er rechnet sie gemeinsam mit der Ersten Welt zu den MDC (englisch more developed countries) und zählt den ostasiatischen Markt der buddhistisch-konfuzianistischen Länder Japan, China (zusammen mit Hongkong und Taiwan), Südkorea, Thailand und Vietnam dazu.[13]

Einteilung mit Stand 2012

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Die Bezeichnungen Dritte Welt oder Vierte Welt sind sozialökonomische und geodeterministische Einteilungen von Regionen auf der Makroebene. Für Dieter Senghaas war die Welt 2012 – trotz aller Globalisierungstendenzen – in vier Teilwelten mit unterschiedlichen Integrations- und Kompetenzniveaus gespalten:[14]

Klassifizierung Staat Bruttonationaleinkommen
pro Kopf jährlich in US-Dollar
Erste Welt OECD-Mitgliedstaaten > 13.000
Neue Zweite Welt Ostasien: (China Volksrepublik  Volksrepublik China, Taiwan  Taiwan)
Osteuropa: Estland  Estland, Lettland  Lettland, Litauen  Litauen, Polen  Polen,
Slowakei  Slowakei, Slowenien  Slowenien, Ungarn  Ungarn
Südamerika: Brasilien  Brasilien, Kolumbien  Kolumbien, Mexiko  Mexiko
4466 bis 13845
Dritte Welt Bangladesch  Bangladesch, Bolivien  Bolivien, Indien  Indien, Indonesien  Indonesien 1136 bis 4465
„Vierte Welt“ Afghanistan  Afghanistan, Burkina Faso  Burkina Faso, Burundi  Burundi,
Kongo Demokratische Republik  Demokratische Republik Kongo, Ruanda  Ruanda, Somalia  Somalia,
Tschad  Tschad, Zentralafrikanische Republik  Zentralafrikanische Republik, Sudan  Sudan
≤ 1135

Der weitaus größte Teil aller Staaten weltweit gehört zur zweiten bis vierten Welt. Der Übergang von der Dritten zur Vierten Welt ist fließend, zumal schon innerhalb der Dritten Welt, die sich noch durch eine leidlich konsolidierte Staatlichkeit auszeichnet, Länder mit Merkmalen der Vierten Welt anzutreffen sind.[15] Je nach wirtschaftlicher Entwicklung kann es hier zu Verschiebungen kommen etwa von der vierten zur dritten Welt oder umgekehrt. Die Dynamik innerhalb der ersten Welt dagegen ist – wegen des enormen Wohlstandsgefälles – sehr gering.

Zu den Staaten der vierten Welt gehören insbesondere Südasien, die Sahelzone und ein großer Teil Zentralafrikas.[16]

Wirtschaftliche Aspekte

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Die Vierte Welt (englisch failed states) kann ihre Bevölkerung nur unzureichend ernähren und medizinisch versorgen, das Pro-Kopf-Einkommen und die Arbeitsproduktivität sind gering. Deshalb sind ihre Einwohner oft Analphabeten, Arbeitslose und kaum qualifiziert. Die Vierte Welt weist ein hohes Bevölkerungswachstum, hohe Defizite bei Grundbedürfnissen (Bildung, Ernährung, Gesundheit)[17], Urbanisierung mit der Folge von Slums und Kriminalität in Großstädten auf. Die Politik ist geprägt von Korruption, Misswirtschaft und Cliquenherrschaft.[18] Allgemein gibt es Massenarmut und dadurch Hunger und Wassermangel (begünstigt durch Naturkatastrophen), schlechte Infrastruktur, politische Instabilität und hohe Staatsverschuldung.[19]

Die Entwicklungshilfe der „Ersten Welt“ und Gelder der UNO, Weltbank oder Internationalem Währungsfonds seit etwa 1948 konnten das Elend nur lindern.[20] In der Vierten Welt können deshalb die Prognosen der Malthusianischen Katastrophe und des Bevölkerungsgesetzes beobachtet werden. Durch das rasche Bevölkerungswachstum in der Dritten und Vierten Welt gewannen die Argumente von Thomas Robert Malthus wieder an Gewicht.[21] Paul R. Ehrlich griff 1968 die Malthusianische Katastrophe wieder auf und prognostizierte für die Zukunft unabwendbare Hungersnöte, da die Nahrungsmittelproduktion hinter dem Bevölkerungswachstum zurückbliebe.[22] Durch Naturkatastrophen wie Dürre oder Überschwemmungen wird die Lücke weiter verstärkt. Das hohe Bevölkerungswachstum erfordert zudem zusätzlichen Wohnraum, der zu Lasten der Agrarfläche geschaffen wird und dadurch das Güterangebot an Agrarprodukten weiter sinken lässt.

Die Bruttonationaleinkommenkategorisierung der Weltbank differenziert für 2024 die Pro-Kopf-Einkommen nach dem Bruttonationaleinkommen  :[23]

 .

Daraus entwickelte sie folgende Klassifizierungen, aus denen auch die „vier Welten“ abgelesen werden können:

Klassifizierung der Weltbank   in US-Dollar
pro Kopf und Jahr
Low Income Country ≤ 1135
Lower Middle Income Country 1136 bis 4465
Upper Middle Income Country 4466 bis 13845
High Income Country < 13846

Trotz teilweise hohem Wirtschaftswachstum ist das Wohlstandsgefälle in keinem Kontinent so groß wie in Asien. Spitzenreiter China Volksrepublik  Volksrepublik China und Japan  Japan werden gefolgt von den reichen Stadtstaaten Hongkong  Hongkong und Singapur  Singapur, während auf der untersten Stufe Bangladesch  Bangladesch, Bhutan  Bhutan oder Kambodscha  Kambodscha stehen.[24]

Die Vierte Welt dagegen umfasst nicht weniger als die von der Weltbank aufgeführten 48 am wenigsten entwickelten Staaten (LDCs) – gelegentlich auch als der „globale Süden“ bezeichnet –, die das niedrigste Niveau sozio-ökonomischer Entwicklung und staatlicher Autorität aufweisen und überwiegend in Afrika, Lateinamerika, Südasien und dem pazifischen Asien beheimatet sind.[25]

Die verschiedenen Welten sind keine „Closed Shops“, sondern es gelang einigen, von der „Dritten Welt“ zum Schwellenland aufzusteigen (Brasilien  Brasilien, China Volksrepublik  Volksrepublik China, Indien  Indien, Mexiko  Mexiko, Singapur  Singapur, Korea Sud  Südkorea oder Taiwan  Taiwan).[26]

Die Dependenztheorie untersucht das Bestehen hierarchischer Abhängigkeiten (Dependenzen) zwischen Industrie- (Metropolen) und Entwicklungsländern (Peripherien) und geht davon aus, dass die Entwicklungsmöglichkeiten der Vierten Welt durch dieses Hierarchieverhältnis als begrenzt anzusehen sind.

Literatur

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  • Marie-Rose Blunschi Ackermann: Joseph Wresinski. Wortführer der Ärmsten im theologischen Diskurs. Academic Press Fribourg, Freiburg 2005, S. 42–45, ISBN 3-7278-1535-3
  • Léon Cassiers et al.: Histoire: De la honte à la fierté. Histoire du passage de la honte de la misère à la fierté d’appartenir à un peuple. In: Groupe de recherche Quart Monde - Université (Hrsg.): Le croisement des savoirs. Quand le Quart Monde et l’université pensent ensemble. Les Editions de l’Atelier/Editions Ouvrières, Les Editions Quart Monde, Paris 1999, S. 43–140, ISBN 2-7082-3420-X
  • Louis Join-Lambert: Quart Monde. In: Encyclopédia Universalis, Universalia 1988 (1989), S. 341–344
  • Manuel Castells: Das Informationszeitalter (Opladen 2004) Bd. III, Kap. 2, S. 73–174

Einzelnachweise

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  1. Dirk Piekenbrock, Gabler Kompakt-Lexikon Volkswirtschaft, 2002, S. 458
  2. Springer Fachmedien Wiesbaden (Hrsg.), Kompakt-Lexikon Internationale Wirtschaft, 2013, S. 406
  3. Carsten Lenz/Nicole Ruchlak, Kleines Politik-Lexikon, 2001, S. 130
  4. Joseph Wresinski, Igloos: Science et Service – Le 4e monde, 1969, S. 41 f.
  5. Marie-Rose Blunschi Ackermann, Joseph Wresinski, 2005, S. 42
  6. Johann Caspar Bluntschli/Karl Ludwig Theodor Brater, Deutsches Staats-Wörterbuch, Band 11, 1870, S. 72 f.
  7. Helmut Michels, Die Geschichte der Welt in einem Band, 2015, S. 386
  8. Alfred Sauvy, Trois mondes, une planète, in: L’Observateur vom 14. August 1952, S. 118
  9. Marie-Rose Blunschi Ackermann, Joseph Wresinski, 2005, S. 44
  10. Claude Ferrand, Un peuple parle, 1968
  11. World Bank (Hrsg.), Rural Development Sector Policy Paper, 1975, S. 1 ff.
  12. John A. Agnew, Geo-Politics: Re-visioning World Politics, 1998, S. 8/33
  13. Johan Galtung, Frieden mit friedlichen Mitteln, 2007, S. 321
  14. Gert Krell/Peter Schlotter, Weltbilder und Weltordnung, 2018, S. 44
  15. Dieter Senghaas, Weltordnung in einer zerklüfteten Welt: Hat Frieden Zukunft?, 2012, S. 30
  16. United States. Congress. House. Committee on Banking, Finance, and Urban Affairs. Subcommittee on International Development Institutions and Finance (Hrsg.), International Development Institutions Authorizations, 1977, S. 166
  17. Adam Reining, Lexikon der Außenwirtschaft, 2003, S. 429
  18. Helmut Michels, Die Geschichte der Welt in einem Band, 2015, S. 386
  19. Gerd Reinhold/Siegfried Lamnek/Helga Recker (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, 2000, S. 122
  20. Helmut Michels, Die Geschichte der Welt in einem Band, 2015, S. 387
  21. Gabi Hesselbein/Lars Lambrecht (Hrsg.), Märkte - Staaten - Welt der Menschen, 2000, S. 120
  22. Paul R Ehrlich, The Population Bomb, 1968, S. 44; ISBN 978-1568495873
  23. World Bank (Hrsg.), World Bank Country and Lending Groups, 2023
  24. Peter Janocha, Asiens Märkte erfolgreich erschließen, 1998, S. 6
  25. Parag Khanna, Der Kampf um die Zweite Welt, 2008, S. 28
  26. Helmut Michels, Die Geschichte der Welt in einem Band, 2015, S. 387