Vivette Samuel
Vivette Samuel, geborene Hermann, (geb. 1919 in Paris; gest. 2006 ebenda) war eine französische jüdische Sozialarbeiterin, Widerstandskämpferin in der Résistance und Direktorin der OSE (Œuvre de secours aux enfants).
Leben
BearbeitenVivette Hermann studierte vor der deutschen Besetzung in Paris Philosophie.[1] Ihre Eltern (Nahum Hermann und Rachel Spirt) waren ukrainische Juden, die sich in Frankreich zionistisch engagierten.[2] Hermann selbst reiste zwar in den 1930er-Jahren nach Palästina, war aber selbst keine Zionistin.
Im Jahr 1939 verbrachte Vivette Hermann eine kurze Zeit in Barcelona, wo sie als Freiwillige während des Spanischen Bürgerkriegs Kinder mit Milch versorgte – ihre erste Erfahrung mit Fürsorgearbeit.[3]
Engagement im Zweiten Weltkrieg
BearbeitenNach der deutschen Besatzung von Paris im Mai 1940 floh Hermann nach Südfrankreich. Dort setzte sie ihr Studium in Toulouse fort. Im Sommer 1941 wurde sie von Andrée Salomon angeworben, um für die OSE (Œuvre de Secours aux Enfants) zu arbeiten. Hermann sprach fließend Deutsch, was einer der Gründe war, warum die OSE daran interessiert war, sie einzustellen.[4]
Zeit in Rivesaltes
BearbeitenHermann wurde nun eine sogenannte internée volontaire (zu dt.: freiwillige Internierte). Im Alter von nur 22 Jahren begab sie sich im November 1941 freiwillig in das Lager Rivesaltes. Das Nîmes-Komitee – ein Zusammenschluss von 25 internationalen Hilfsorganisationen – hatte im Jahr 1941 von der Vichy-Regierung die Erlaubnis erhalten, Kinder unter 15 Jahren aus den Vichy-Internierungslagern zu befreien.[5] Um dies vor Ort zu organisieren und den Häftlingen humanitär zu helfen, zogen nun Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen, Kindergärtnerinnen und Ärzte freiwillig in die Lager. Schweizer Krankenschwestern (wie Friedel Bohny-Reiter, Emma Ott und Elsa Lüthi-Ruth) oder amerikanische Sozialarbeiterinnen konnten sich ihrer Situation relativ sicher sein. Für französische Jüdinnen wie Hermann war die Gefahr jedoch wesentlich größer, da die zunehmend antisemtisich agierende Vichy-Regierung auch jederzeit beschließen konnte, die „freiwilligen Internierten“ der OSE nicht wieder herauszulassen. 1999 veröffentlichte Vivette Hermann eine Autobiographie (Die Kinder retten) über ihre Zeit in Rivesaltes, die auf Teilen auf ihrem Tagebuch aus Kriegszeiten basiert. Da sie das Buch unter ihrem Ehenamen Samuel veröffentlichte, wird sie in der Forschungsliteratur zu Rivesaltes oft fälschlicherweise als Vivette Samuel bezeichnet, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch Hermann hieß.[6] Ihre ersten Eindrücke an das Lager beschrieb sie später wie folgt:
„Am Eingang des weiträumigen Lagers weht eine Trikolore. […] Die Wege sind leer, doch plötzlich kommen uns einige Kinder entgegen. Schmutzig und zerlumpt, in graue Decken gehüllt, kommen sie auf dem steinigen Boden nur mühsam voran. […] Das ist die Realität des Lagers. Zwei Welten prallen aufeinander: ich, gut gekleidet, in einem roten Pulli, den ich mir im Sommer […] gestrickt habe, […] und festen Schuhen mit Kreppsohle, […] – und die Kinder, zusammengekrümmt, vor Kälte zitternd, in ihren schmutzigen Decken. Welch ein Gegensatz gleich im ersten Augenblick zwischen der Welt, aus der ich komme, und dem Elend im Lager!“
Zu Hermanns Aufgaben gehörte es, die Eltern davon zu überzeugen, sich von ihren Kindern zu trennen, die Kinder auf die Trennung vorzubereiten sowie alle administrativen Hürden zu überwinden und Verhandlungen mit der Lagerverwaltung zu führen.
Innerhalb von nur sieben Monaten schaffte es Hermann, alle 400 willigen jüdischen Kinder aus Rivesaltes zu befreien. Die meisten kamen daraufhin in Kinderheimen der OSE unter. Im Juni 1942 verließ Hermann schließlich Rivesaltes.[7]
Hochzeit und weiteres Engagement
BearbeitenIm Oktober 1942 heiratete Vivette Hermann ihren OSE-Kollegen Julien Samuel im OSE-Kinderheim Le Couret und nahm den Namen Vivette Samuel an. Anschließend arbeitete sie als Fürsorgerin für die OSE in Marseille und später Limoges und half verfolgten Jüdinnen und Juden.[4]
Am 19. Januar 1944 gelang es Vivette Samuel während einer Razzia im OSE-Büro in Limoges gerade noch rechtzeitig durch eine Hintertür zu fliehen. Ihr Vater Nahum Hermann wurde jedoch verhaftet und anschließend in Auschwitz vergast. Daraufhin ging Samuel in den Untergrund und überlebte den Rest des Krieges im Versteck.[1]
Nachkriegszeit
BearbeitenIn der unmittelbaren Nachkriegszeit kümmerte sich Samuel gemeinsam mit OSE-Kolleginnen und -Kollegen um hunderte Kinder aus dem befreiten KZ Buchenwald – darunter den späteren Nobelpreisträger Elie Wiesel.[8]
Nach Kriegsende ließ sich Samuel nun auch offiziell zur Sozialarbeiterin ausbilden. Sie arbeitete zuerst für ADIR, eine Organisation für ehemalige deportierte Widerstandskämpferinnen (L'Association des anciennes déportées et internées de la Résistance).
Ab 1954 arbeitete sie wieder für die OSE, wo sie amerikanische Methoden der Sozialarbeit wie Case Work einführte. Samuel blieb den Rest ihres Berufsleben bei der OSE. Von 1980 bis 1985 war sie schließlich Generalsekretärin. Als eine ihrer letzten Initiativen gründete sie das Archiv der OSE, das sich bis heute in Paris befindet.[7]
Vivette Samuel starb 2006 in Paris.[9]
Auszeichnungen
Bearbeiten- 1985: Légion d’honneur[7]
Publikationen
Bearbeiten- Die Kinder retten (Original: Sauver les enfants) – Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 978-3-596-14005-3.
Literatur
Bearbeiten- Katy Hazan (mit Serge Klarsfeld): Rescuing Jewish children during the Nazi occupation: OSE children's homes, 1938–1945.OSE / Somogy Éd. d'Art, Paris 2009.
- Mordechai Paldiel: Saving One's One. Jewish Rescuers during the Holocaust. Jewish Publication Society, Philadelphia 2017.
- Lilly Maier: Interventions by non-governmental organisations in state-run internment camps in France. The rescue of Jewish children from Rivesaltes as told through the example of Vivette Hermann. In: Gabriele Anderl, Linda Erker and Christoph Reinprecht (Hrsg.): Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. transcript Bielefeld 2023, S. 99-110. (Open Source)
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b Vivette Samuel: Die Kinder retten. Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-14005-6, S. 139–142.
- ↑ Nicole Samuel-Guinard, Catherine Nicault: De la Russie à Paris : autobiographie d’une immigrée et d’une sioniste, Rachel Hermann (1887–1979). In: Archives Juives. Band 48, Nr. 2, 1. Oktober 2015, ISSN 0003-9837, S. 43–66, doi:10.3917/aj.482.0043 (cairn.info [abgerufen am 8. März 2025]).
- ↑ Vivette Samuel: Die Kinder retten. Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-14005-6, S. 25–26.
- ↑ a b Katy Hazan: SAMUEL VIVETTE, SALOMÉ NÉE HERMANN. In: Centre d'études, de documentation, d'information et d'action sociales. Abgerufen am 8. März 2025 (französisch).
- ↑ Anne Boitel: Les enfants juifs internés au camp de Rivesaltes entre 1941 et 1942. In: Revue d’Histoire de la Shoah. Band 179. Centre de Documentation Juive Contemporaine, Paris 2003, S. 225–268.
- ↑ Lilly Maier: Interventions by non-governmental organisations in state-run internment camps in France. The rescue of Jewish children from Rivesaltes as told through the example of Vivette Hermann. In: Gabriele Anderl, Linda Erker, Christoph Reinprecht (Hrsg.): Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives. transcript, Bielefeld 2023, S. 99–109, hier S. 100.
- ↑ a b c Katy Hazan: Vivette SAMUEL. Paris 1919 - 2006. (PDF) In: OSE France. Abgerufen am 8. März 2025 (französisch).
- ↑ Katy Hazan: A La Vie!: Les enfants de Buchenwald, du shtetl à l'OSE. Editions Le Manuscrit, Paris 2005, ISBN 2-7481-5102-X.
- ↑ Vivette Samuel. 20. Juli 2006 (lemonde.fr [abgerufen am 8. März 2025]).
Personendaten | |
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NAME | Samuel, Vivette |
ALTERNATIVNAMEN | Hermann, Vivette (Geburtsname) |
KURZBESCHREIBUNG | französische Sozialarbeiterin und Widerstandskämpferin |
GEBURTSDATUM | 1919 |
GEBURTSORT | Paris, Frankreich |
STERBEDATUM | 2006 |
STERBEORT | Paris, Frankreich |