Wackelkontakt (Roman)

Roman von Wolf Haas

Wackelkontakt ist ein Roman des österreichischen Schriftstellers Wolf Haas aus dem Jahr 2025. Als doppelter „Roman-im-Roman“ angelegt, bringt er zwei höchst unterschiedliche Protagonisten zusammen: einen süditalienischen Ex-Mafioso, den es auf seiner Flucht nach Wien verschlägt, und einen Wiener Trauerredner, der Puzzles und Mafia-Bücher liebt. Abwechselnd liest der eine ein Buch über den anderen, und ähnlich einem „Wackelkontakt“ springt die Erzählung zwischen ihnen hin und her, bis sie am Ende aufeinander zuläuft. M. C. Eschers Bild „Drawing Hands“ – zwei Hände, die einander zeichnen – fungiert einleitend als zentraler Handlungs- und Interpretationsbaustein. Im Roman vereinen sich Vorzüge der Brenner-Krimis, die Haas bekannt machten, mit denen seiner späteren „Non-Brenners“, wie Das Wetter vor 15 Jahren oder Verteidigung der Missionarsstellung.[1][2]

Die deutschsprachigen Literaturfeuilletons waren des Lobes voll. Die Startauflage hatte 100.000 Exemplare,[3] der Roman stieg auf Platz 3 in die Belletristik-Bestsellerliste des Spiegel ein.[4]

Ein Wackelkontakt in einer oft benutzten, aber seit langem schadhaften Steckdose führt endlich dazu, dass Franz Escher, alleinstehender Wiener Trauerredner um die 50, den Elektriker bestellt. Die Wartezeit vertreibt er sich mit seinen einzigen beiden Leidenschaften: dem Legen von Puzzles und der Lektüre von Mafia-Büchern. Der Roman im Roman, den er liest, handelt von dem 21-jährigen Mafioso Elio Russo, der als Kronzeuge 27 Mafia-Bosse der Justiz ausgeliefert hat und nun im Gefängnis darauf wartet, freizukommen und zu seinem eigenen Schutz mit neuer Identität zunächst in der Schweiz und dann in Deutschland unterzutauchen. Als Marko Steiner lässt er sich in Duisburg nieder; seine Werkstatt, in der er Fahrräder repariert und aus Altteilen neu zusammenbaut, wird bald zu einer der angesagtesten Insider-Adressen. Erst als er nach fünf Jahren seinem Grundsatz, den Handel mit italienischen Marken strikt zu verweigern, untreu wird, gerät er in eine bedrohliche Situation, sieht sich zum Ortswechsel genötigt und zieht nach Berlin. Auch dort erwirbt er sich, nunmehr auf E-Bikes spezialisiert, binnen kürzester Zeit einen glänzenden Ruf, und auch dort verletzt er eines Tages eins seiner Prinzipien, indem er der dringenden Bitte einer Frau, ihr Auto zu reparieren, nachgibt. Diesmal erwächst ihm daraus jedoch Gutes: Gabi, die Fahrerin, wird bald darauf seine Frau und Mutter einer gemeinsamen Tochter, Ala. Vier Jahre später ist es dann Gabi, die plötzlich auf einen sofortigen und radikalen Ortswechsel drängt. Die Wahl fällt auf Wien. Nach weiteren zehn Jahren verlangt die bis dahin pflegeleichte Ala, angeregt durch ihren Geschichtslehrer, von ihren Eltern Auskunft darüber, was beide selbst voreinander in stillem Einverständnis verheimlicht hatten: ihr Vorleben. Mit ausweichenden Antworten abgespeist, schnüffelt Ala in den Privatsachen ihres Vaters, ohne Merkwürdiges zu entdecken, mit Ausnahme eines Buches, das sie zu lesen beginnt und das ihr der wutentbrannte Eigentümer, als er sie in flagranti ertappt, vergeblich zu entreißen versucht.

Es ist das gleiche Buch, das er vor Jahren im Gefängnis zu lesen begonnen hatte, während er nachts sowohl auf seine Entlassung wartete als auch auf das einsetzende Schnarchen seines Mitinsassen Sven, von dem er glaubte, dessen eigentliche Mission sei nicht, ihm ein paar Brocken Deutsch beizubringen, sondern ihn zu töten. Dieser zweite Roman im Roman, ein Geschenk Svens, den er seither sporadisch weiter-, aber nie zu Ende gelesen hat, ist das Pendant zum ersten und handelt von dem Wiener Junggesellen Franz Escher, der darauf wartet, dass ein Elektriker kommt, um die überfällige Reparatur einer Steckdose vorzunehmen. Fatalerweise kostet sie den, der sie fachmännisch ausführt, das Leben, verursacht durch Escher, der – versehentlich, aber nicht zum ersten Mal – eine falsche Taste drückt, diesmal den Sicherungsschalter. Weder die Polizei noch die Elektrofirma hegen Argwohn gegenüber dem sich unschuldig gebenden Hausherrn und gehen von einem Arbeitsunfall aus. Sein Gewissen jedoch meldet Widerspruch an, weshalb er nun nach Wegen sucht, es zu beruhigen, ohne sich zugleich verdächtig zu machen. So braucht er für die Trauerrede, die er als naheliegendste Chance begreift, jemanden, der sie offiziell übernimmt und ihm dann, plausibel begründet, zuschanzt. Eine Kollegin, mit ihm seit Studienzeiten in Freundfeindschaft verbunden, erklärt sich dazu bereit. Sie vermittelt ihm auch den Kontakt zur Witwe des Elektrikers. Dort empfangen, um Auskünfte einzuholen, versetzt ihn das, was er zu hören bekommt, in eine Achterbahn der Gefühle.

Jüngst sei ein Streit zwischen Vater und Tochter darin eskaliert, dass er die 14-Jährige geohrfeigt habe; nie zuvor habe sie, die Witwe, an ihm das leiseste Anzeichen von Gewaltbereitschaft bemerkt und hätte dies auch nie toleriert; sie selbst sei den Fängen ihrer patriarchalen Familie, die ihr mit 15 eine Kinderehe aufzwingen wollte, nur durch ein Zeugenschutzprogramm entkommen, was sie ihrem Mann wohlweislich verheimlicht habe. Dass auch er mit gefälschter Identität im Zeugenschutz lebte, habe er ihr gestanden, nachdem sein Ex-Clan ihm per Anruf mitgeteilt hatte, man habe seine Tochter, die nach dem Streit geflüchtet und offenbar auf väterliche Spurensuche gegangen war, in der Gewalt. Geschehen sei das am Vorabend seines Todes und erkläre seinen emotionalen Ausnahmezustand, in dem er morgens an die Arbeit gegangen sei in Eschers Wohnung. Dessen erster Impuls ist Erleichterung über sein nun nahezu perfektes Alibi und zugleich das Bedürfnis, der Witwe die Wahrheit zu sagen. Als er tags darauf die Höhe der Lösegeldforderung erfährt, entschließt er sich aber zu handeln, an Unmögliches zu glauben und nichts in seiner Macht Stehende unversucht zu lassen, was Ala retten könnte.

Im Verlauf seiner schriftstellerischen Karriere hatte Haas die Form erst unter- und dann überschätzt, bevor er sich zum Ziel setzte, beides – Form und Inhalt – möglichst in ein Gleichgewicht zu bringen.[5] An seiner Bevorzugung der Form hält er allerdings zum einen als Leser fest, den nur ein ansprechender „Tonfall“ zur Lektüre reize,[6] und zum anderen mit Blick auf das eigene Schreiben, das ihm in der Phase am besten von der Hand gehe und sogar Spaß machen könne, wenn er die für ihn unverzichtbare „formale Idee“ oder „Einengung“ umsetzt.[7]

Haas‘ Formwille wird in mehreren Feuilletons, die das Erscheinen von Wackelkontakt begleiteten, mit Nachdruck gewürdigt. So kürt Richard Kämmerlings den Wiener Autoren zum „großen Roman-Tüftler der Gegenwartsliteratur“,[1] und Andrea Gerk bewundert, dass Haas sich jedes Mal neu erfinde; nicht einmal in seinen Brenner-Krimis habe er ein Erfolgsrezept nach bewährtem Muster durchgezogen und jetzt mit Wackelkontakt noch einmal „eine Umdrehung mehr draufgesetzt“.[6]

Struktur und Zeit

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Auf die ambitionierte Struktur seines Romans angesprochen, erklärte Haas wiederholt, sein Ausgangspunkt sei, wie auch bei anderen seiner Werke, zunächst eine sehr einfache Idee gewesen: ein Buch zu schreiben, „wo nach ein paar Seiten die Romanfigur ein Buch zur Hand nimmt und zu lesen beginnt“.[3][6][7] Als gezielte Irritation habe er zudem geplant, dass Person A nicht nur einen Satz liest, sondern den Anfang einer ganz anderen Handlung als der, mit der begonnen wurde.[3] Da es ihn aber unwiderstehlich reize, bestehende Regeln zu brechen – die eigenen eingeschlossen –,[7] verfiel Haas auf den eigentlichen Clou von Wackelkontakt, der darin besteht, dass der Protagonist der zweiten Handlung Person A ist – und umgekehrt, wobei beide dies nicht wissen, und auch nicht, dass sie selbst in der Geschichte des Anderen vorkommen. Zumindest gilt das für den ersten Teil, überschrieben mit „Off“, gefolgt vom etwas kürzeren zweiten mit dem Titel „On“.

Die so entstandene Struktur des Romans veranschaulicht Haas durch den Vergleich mit einem Zopf, andere mit einem Möbiusband und das Buch selbst durch die Analogie mit den sich gegenseitig zeichnenden Händen auf dem Bild „Drawing Hands“ von M. C. Escher, das für die Romanfigur Franz Escher zur Initiation für seine Puzzlesucht wird.[3][1]

Die ihm des Öfteren gestellte Frage, ob er einem genau kalkulierten Plan gefolgt sei, wird von Haas klar verneint.[3][6] Er habe zunächst „drauflos geschrieben“, jedoch lange Zeit ohne Hoffnung auf ein Gelingen. Eine Unsicherheit war die, ob sich die Erwartung erfüllen werde, dass die weit voneinander entfernten Handlungsstränge je schlüssig zueinander finden würden. Andere ergaben sich daraus, dass sie auf getrennten Zeitschienen und unterschiedlich schnell verlaufen. Die erzählte Zeit des Franz-Escher-Romans beträgt ja nur ein paar Tage, die des anderen mehr als zwei Jahrzehnte. Escher nähert sich beim Lesen des Ex-Mafioso-Romans der Gegenwart von der Vergangenheit her, Elio/Marko hingegen aus der Zukunft.[8] Hinzu komme, so Haas, dass analog zu den Logikbrüchen in M. C. Eschers Bildern bei ihm die „Zeitebenen ein bisschen durcheinanderkommen“, indem Dinge, die eigentlich später geschehen müssten, sich früher ereignen.[3] Jedenfalls habe er, so Haas weiter, etwa ab der Hälfte des Manuskripts Zuversicht gefasst, es könne „funktionieren“, habe weiter und weiter geschrieben, mit so viel Spaß wie noch bei keinem Buch zuvor, bis der Roman „plötzlich“ fertig war.[3][6][7]

Rezeption

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Wolfgang Haas beschere den Wackelkontakt-Lesern großes Vergnügen, bescheinigen Feuilletonisten dem Werk des Schriftstellers.

In der Neuen Zürcher Zeitung fragt Paul Jandl rhetorisch: „Kann man sich etwas Langweiligeres als ein Puzzle mit tausend Teilen denken?“ und antwortet, dass es nichts Vergnüglicheres als einen Roman über solche Puzzles gebe, sofern Wolf Haas ihn geschrieben habe.[9]

Das präzise durchgestaltete literarische Spiel des Romans sei nicht nur eine virtuose l’Art-pour-l’Art-Etüde, sondern vor allem eine riesengroße Gaudi, urteilt Katharina Granzin in der taz. Der Autor habe spürbar selbst den größten Spaß bei der Sache und lebe sich unter anderem in linguistischer Hinsicht hemmungslos aus.[8]

Tilman Spreckelsen schreibt in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wo die Zeit je nach Betrachtung eine Schleife einlegt oder zur Fläche wird, ist die Gefahr nicht gering, dass ein Roman Leser verliert, die einer solchen Konstruktion nicht folgen möchten.“ Wackelkontakt gelinge das Kunststück, diese Struktur nachdrücklich als ein Mittel der Welterkenntnis zu etablieren.[10]

Wer sich auf Wolfgang Haas einlasse, werde großen Spaß haben, verspricht Stefan Kuzmany in seiner Wackelkontakt-Rezension im Spiegel und hebt das „kunstvolle Spiel des Autors mit der Form und der Struktur“ hervor. Es sei womöglich etwas früh, schon jetzt das Lieblingsbuch des Jahres zu küren. Nach der Lektüre des Romans sei „die Versuchung allerdings groß, sich schon festzulegen“.[11]

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Einzelnachweise

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  1. a b c Richard Kämmerlings: Dieser Roman ist wie ein Bild von M. C. Escher. In: welt.de. 13. Januar 2025, abgerufen am 30. Januar 2025.
  2. Jürgen Deppe: ‚Leicht verwirrt‘ finde ich eine interessante Situation. Gespräch mit Wolf Haas. In: swr.de. 27. Dezember 2024, abgerufen am 30. Januar 2025.
  3. a b c d e f g Jürgen Deppe: Ich lasse es drauf ankommen. Gespräch mit dem Bestsellerautor Wolf Haas. In: ndr.de. 12. Januar 2025, abgerufen am 30. Januar 2025.
  4. Spiegel-Bestseller. In: Der Spiegel Nr. 4/2025, 18. Januar 2025, S. 107.
  5. Claus Lochbihler: Früher habe ich das Lesen gehasst. Interview mit Wolf Haas. In: welt.de. 2. Januar 2011, abgerufen am 6. Februar 2025.
  6. a b c d e Andrea Gerk: Ein Buch über ein Buch in einem Buch. Gespräch mit Wolf Haas. In: deutschlandfunkkultur.de. 13. Januar 2025, abgerufen am 6. Februar 2025.
  7. a b c d Michael Wurmitzer: Ich höre oft Hörbücher, aber ich bin nicht einverstanden damit. Gespräch mit Wolf Haas. In: derstandard.de. 9. Januar 2025, abgerufen am 6. Februar 2025.
  8. a b Katharina Granzin: Der Roman als Einserschmäh. In: taz, die tageszeitung. 27. Januar 2025, abgerufen am 31. Januar 2025.
  9. Paul Jandl: Wolf Haas’ neuer Roman beisst sich in den eigenen Schwanz. In: NZZ.ch. 7. Januar 2025, abgerufen am 31. Januar 2025 (Schweizer Hochdeutsch).
  10. Tilman Spreckelsen: Kein Puzzleteil darf fehlen. In: FAZ.net. 25. Januar 2025, abgerufen am 31. Januar 2025.
  11. Stefan Kuzmany: Tausend Teile. In: Der Spiegel. Nr. 2/2025, 4. Januar 2025, S. 115.