Waki' ibn al-Dscharrah

sunnitisch-islamischer Rechtsgelehrter und Traditionarier

Abū Sufyān Wakīʿ ibn al-Dscharrāḥ ibn Malīḥ al-Ruʾāsī al-Kufī (arabisch أبو سفيان وكيع بن الجراح بن مليح الرؤاسي الكوفي, geb. 746 in Kufa, gest. 821 in Faid), in der Literatur überwiegend Wakī' genannt, war ein bedeutender Hadith-Gelehrter aus Kufa. Er war einer der wichtigsten Lehrer des großen sunnitischen Rechtsgelehrten Ahmad ibn Hanbal.[1][2]

Herkunft

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Wakīʿ wurde in Kufa[3] oder im Dorf Ustuwa[4] nahe Nishapur im Jahr 128/129 AH (745–747 n. Chr.)[5] geboren. Sein Vater al-Ǧarrāḥ b. Māliḥ gehörte zum ʿUbayd b. Ruʾās-Clan des Banū Kilāb-Stammes und wurde in Sogdien geboren, während seine Mutter, eine Tochter von ʿAmra b. Šaddād b. Ṯawr aus demselben Clan, in Buḫārā (heute: Buxoro) geboren wurde.[6] Die ʿUbayd ibn Ruʾās hatten sich nach der islamischen Eroberung des Irak in den 630er Jahren[7] in Kufa niedergelassen. Die Familie war wohlhabend und al-Ǧarrāḥ war der Aufseher des bayt al-ḍarb (Münzstätte) in Rayy[4], bevor er unter dem abbasidischen Kalifen Hārūn ar-Raschīd (reg. 786–809) zum Leiter des bayt al-māl (Schatzamt) in Bagdad ernannt wurde.[4][3]

Karriere

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Ausgebildet in den islamischen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere im Hadith wurde Wakīʿ ein führender Traditionalist (muḥaddith) in seiner Heimatstadt, bekannt für die Überlieferung zahlreicher Hadithe basierend auf seinen Memorierungen[8][9] Trotz der ihm zugeschriebenen Übertragungsfehler galt er allgemein als der beste muḥaddith seiner Zeit.[3] Über Wakīʿ und Ibn Mahdī soll Ibn Ḥanbal gesagt haben: "Wann immer Wakīʿ und ʿAbd al-Raḥmān uneins waren, war ʿAbd al-Raḥmān der zuverlässigere, weil er über mehr Wissen über das Buch verfügte."[9][10] Ibn Hanbal entwickelte sich später vom Schüler zum Lehrer. Qutayba b. Saʿīd berichtete, dass Wakīʿ eines Tages am Abend nach Hause zurückkehrte und Ibn Ḥanbal ihn begleitete. An der Tür von Wakīʿs Haus blieb Ibn Ḥanbal bei ihm stehen, und sie führten eine Diskussion (mudhākara) über abwechselnde Isnāde. Als die Nacht hereinbrach, öffente Wakīʿ die Haustür, bot jedoch Ibn Ḥanbal an, einen Isnād zu erklären, den dieser (aber) bereits kannte. Dann erwähnte er einen weiteren Isnād, den Ibn Ḥanbal ebenfalls kannte. Nach mehreren Versuchen, seinem Schüler etwas Neues beizubringen, wurden die Rollen umgekehrt, und Ibn Ḥanbal begann, Wakīʿ zu lehren. Sie standen an der Tür, bis ein Diener erschien und sagte, dass die Sterne aufgegangen seien.[11]

Seine Ablehnung der Ernennung zum Qāḍī durch Hārūn ar-Raschīd aus Sorge vor Abhängigkeit vom Staat trug weiter zu seinem Ruf der Frömmigkeit und Askese bei.[3] Ibn Haǧar al-Asqalānī hat in seiner Gelehrtenbiographie Tahdhīb al-Tahdhīb eine lange Liste seiner Lehrer und Schüler zusammengestellt. Er überlieferte Ḥadīṯe nach Autoritäten der früheren Gelehrten Ismāʿīl ibn Abī Ḫālid, ʿIkrīma ibn ʿAmmār, al-Awzāʿī, al-Aʿmash und Mālik ibn Anas sowie nach seinem Vater.[3][9] Adh-Dhahabī hat in seinem Siyar aʿlāmi n-nubalāʾ die Namen von rund zwanzig seiner Lehrer aufgelistet, von denen die bekanntesten Sufyān al-Thawrī, Shuʿba ibn al-Ḥajjāj und Ibn Jurayj waren.[12] Die Namensliste seiner Lehrer und Schüler umfasst bei al-Mizzī acht Druckseiten.[13] Er war einer der wichtigsten Lehrer von Aḥmad ibn Ḥanbal, dem Gründer und Namensgeber der hanbalitischen Rechtsschule des sunnitischen Islam (fiqh).[14]

Wie sein um Jahre jüngerer Kollege und Begleiter Ibn Ḥanbal war Wakīʿ selbst als Gegner der Lehre der Erschaffenheit des Korans bekannt und begründete seine theologische Position mit den Worten: derjenige, der behauptet, der Koran ist erschaffen, dann behauptet er, der Koran sei erfunden (muḥdaṯ). Und derjenige, der das behauptet, ist ein Ungläubiger.[15]

Zugleich verstand er auch, die Stellung des Ḥadīth als grundlegende Quelle der Rechtsprechung zu festigen: Wer die Tradition sucht (ṭalaba l-ḥadīṯ), der ist Anhänger des Ḥadīṯ (ṣāḥib as-sunna). Derjenige (aber), der dadurch nur seine eigene, subjektive Meinung (Raʾy) festigen will, ist ein Anhänger der Bidʿa.[16]

al-Wakīʿ ist auch als Anhänger der Rechtsschule der Hanafiten in Kufa bekannt.[17] Er ließ in Kufa eine Moschee bauen und setzte seinen Stammesangehörigen, Ḥumayd ibn ʿAbd al-Raḥmān ibn Ḥumayd al-Ruʾaisī, als ihren Imam ein.

Nach der Aufzählung seiner gottgefälligen Eigenschaften als Vorbilder seiner Zeit, die ad-Dhahabī mit der Frage abschließt "wo gibt es einen wie ihn?", setzt der Gelehrtenbiograph seine Ausführungen mit folgenden Worten fort: "dennoch war er mit dem Genuß von Wein (nabīḏ) aus Kufa verbunden, dessen Übermaß berauscht. Er selbst suchte in dessen Trank nach einem Ausgleich (kāna mutʾawwilan fī šurbihi)...Das ist aber nicht Gegenstand dieser Dinge. Jeder wird gemäß seiner Aussage anerkannt oder abgelehnt. Der Fehler des Gelehrten ist kein Beispiel. Genau! Wegen seiner Handlung gemäß Iǧtihād wird er nicht getadelt. Wir bitten Gott um Vergebung."[18]

In einem weiteren Bericht, vermittelt durch den bekannten Ḥadīṯ-Gelehrten ad-Dāraquṭnī (geb. 918; gest.995 in Bagdad), (GAS, Band 1, S. 206–209) in der Schilderung von Sulaimān, dem Sohn von Waqīʿ, weiß man über einen Tagesablauf seines Vaters mit Koranunterricht zu berichten. Nach dem Mittagsgebet bis zur Zeit des Nachmittagsgebets gab er koranische Unterweisungen. Dann zog er sich in seine Moschee zurück, wo er das Gebet verrichtete und bis Ende des Tages Gottes gedachte. Zum Abendessen verzehrte er zu Hause rund 10 Raṭl Fleisch[19], begleitet von rund 10 Raṭl Wein, von dem er nach und nach etwas trank und den Rest vor sich hinstellte. Dann betete er den Rest seiner zusätzlichen Nachtgebete (ward). Nachdem er etwas gebetet hatte, trank er vom Wein, bis er alle war. Dann schlief er ein.[20]

Der in seiner Zeit sehr bekannte Hadīth-Gelehrte Isḥāq b. Bahlūl al-Anbārī (geb. 164/780 gest. 252/866)[21] überliefert eine Episode aus seiner Zeit als Schüler von Wakīʿ, der in der dortigen „Moschee von al-Furāt“ (masǧid al-Furāṭ)[22] niederließ. Er bat Wakīʿ, ihm Wein in die Vorlesung mitzubringen: „während er getrunken hat, las ich ihm Ḥadīth vor. Und als (der Wein) alle war, den ich ihm gebracht habe, machte er das Licht aus. Darauf hin fragte ich ihn: „Was heißt das?“ Er erwiderte: „Bringst du uns mehr, geben wir Dir mehr.“[23]

Tod und Nachkommen

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Auf seiner Rückkehr von der Ḥaǧǧ (Pilgerfahrt nach Mekka) starb Waki in der Oase Fayd im Jahr 197 AH (812). Sein Sohn Sufyān war ebenfalls ein kufischer Traditionalist, allerdings mit schlechtem Ruf. Er starb in hohem Alter im Jahr 861.[24][25]

  • Tafsīr al-Qurʾān (Koranexegese, benutzt von al-Thaʾlabī in seiner eigenen Koranexegese)
  • al-Sunan (Hadithsammelwerk)
  • al-Maʿrifa wa-t-Taʾrīḫ (Biografie- und Geschichtswerk)
  • al-Muṣannaf (Hadithsammelwerk)
  • al-Musnad (Hadithsammelwerk nach den Namen der Prophetengefährten kategorisiert, zitiert von Aḥmad b. Ḥanbal und Ibn Ḥadschar in al-Iṣāba fī tamyīz aṣ-ṣaḥāba)
  • al-Zuhd (Überlieferungen zur Askese, Fragmente davon in der Ẓāhiriyya-Bibliothek)[26]
  • Kitāb aṣ-ṣalāt (auf Papyrus erhalten)[27]

Literatur

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  • Joseph Schacht, Ch. Pellat, V. L. Lewis (Hrsg.): The Encyclopaedia of Islam: New Edition. Band 11, Brill, Leiden 1986, S. 101 (englisch).
  • Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Band 1, Brill, Leiden 1967, S. 96–97.
  • Ibn ʿAsākir: Taʾrīḫ madīnat Dimašq. Bd. 63, S. 99–100. Ed. ʿUmar b. Ġarāma al-ʿUmarī. Beirut 1996
  • Muḥammad b. Aḥmad Adh-Dhahabī: Siyar aʿlām al-nubalāʾ. Band 9. Muʾassasat al-Risāla, 2001, S. 141–142 (arabisch).
  • Chair ad-Dīn az-Ziriklī: Kitāb al-Aʿlām. Band 8. Dār al-ʿilm lil-Malāyīn, 2002, S. 117 (arabisch).
  • Khoury, R. G. (2002). "Wakīʿ b. al-Djarrāḥ b Malīḥ" In Bearman, P. J.; Bianquis, Th.; Bosworth, C. E.; van Donzel, E. & Heinrichs, W. P. (Hrsg.): The Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Band XI: W–Z. Leiden: E. J. Brill. p. 101. ISBN 978-90-04-12756-2.
  • al-Mizzī: Tahḏīb al-kamāl fī asmāʾ ar-riǧāl. Bd. 30, S. 463–470. Ed. Baššār Awwād Maʿrūf. Beirut 1992.
  • Abū Nuʿaim al-Iṣbahānī: Ḥilyat at al-awliyāʾ wa-ṭabaqāt al-aṣfiyāʾ. 4. Auflage. Beirut 1985.
  • Rosenthal, Franz, ed. (1989). The History of al-Ṭabarī, Band I: General Introduction and from the Creation to the Flood. SUNY Series in Near Eastern Studies. Albany, New York: State University of New York Press. ISBN 978-0-88706-562-0.
  • Szilagyi, K. (2009). A Prophet like Jesus? Christians and Muslims Debating Muhammad's Death. In: Jerusalem Studies in Arabic and Islam. Band 36 (2009), S. 131–171.
  • Caskel, Werner (1966). Ğamharat an-nasab: Das genealogische Werk des His̆ām ibn Muḥammad al-Kalbī, Band II (Brill:Leiden)
  • Salem, Feryal (2016). The Emergence of Early Sufi Piety and Sunnī Scholasticism: ʿAbdallāh b. al-Mubārak and the Formation of Sunni Identity in the Second Islamic Century. Leiden and Boston: Brill. ISBN 978-90-04-31029-2.
  • Spectorsky, Susan A. (2013). "Aḥmad b. Ḥanbal (d. 243/855)". In Powers, David S.; Spectorsky, Susan A.; Arabi, Oussama (Hrsg.): Islamic Legal Thought: A Compendium of Muslim Jurists. Leiden and Boston: Brill. pp. 85–106. ISBN 978-90-04-25452-7.
  • Cooperson, Michael, Ed. His Deference to His Teachers and His Respect for Learning. Virtues of the Imam Ahmad Ibn Hanbal: Volume One, NYU Press, 2013, Seiten 88–91. JSTOR, online (Abgerufen am 3. Dezember 2024)

Einzelnachweise

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  1. Cooperson, 2019 S. 88–91. Zitat: „Wir saßen im Unterricht bei Wakīʿ, als Aḥmad ibn Ḥanbal hereinkam und sich setzte.“ Er begann, zu schildern, wie respektvoll Aḥmad sich gegenüber Wakīʿ verhielt. Dann sagte er: „Ich sagte Aḥmad, wie hoch unser Lehrer ihn schätzte, und fragte ihn, warum er in seiner Gegenwart nicht sprechen würde...“
  2. Spectorsky (2013), S. 87. Zitat: „Zu den bedeutendsten seiner Lehrer können wir jeweils einen aus den zuvor genannten Städten hervorheben: Hushaym b. Bashīr (gest. 188/803) in Bagdad; Wakīʿ b. al-Jarrāḥ (gest. 197/812–13) in Kufa; ʿAbd al-Raḥmān b. Mahdī (gest. 198/813) in Basra; Sufyān b.ʿUyayna (gest. 198/813–14) in Mekka und ʿAbd al-Razzāq b. Hammām (gest. 211/827) im Jemen. Die Biografien all dieser Männer beschreiben sie als Universalgelehrte, doch sind sie insbesondere für ihre Expertise als Traditionarier bekannt.“ und weiter: „In Kufa studierte Ibn Ḥanbal Ḥadīth bei Wakīʿ b. al-Jarrāḥ – einem der führenden Ḥadīth-Gelehrten dieser Stadt, der jedoch oft der Tadlīs (der absichtlichen Irreführung und Manipulation in den Angaben der überlieferten Materialien ) beschuldigt wurde. Wakīʿ überlieferte Ḥadīthe von einer Reihe prominenter Gelehrter des 2./8. Jahrhunderts, darunter ʿIkrima b. ʿAmmār, al-ʿAmash, al-Awzāʿī und Mālik b. Anas.“
  3. a b c d e Khoury 2002, S. 101.
  4. a b c Wakīʿ b. al-Ǧarrāḥ: Biographical Reports. Al-Ikhbar: Translations of Classical Arabic Texts
  5. Rosenthal 1989, Seite 200, Fußnote 242.
  6. Szilagyi 2009, Seite 148, Fußnote 64.
  7. Caskel 1966, Seite 560.
  8. Salem 2016, Seite 21, Fußnote 64.
  9. a b c Spectorsky 2013, Seite 87.
  10. Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī, Tahdhīb al-tahdhīb, 6:280
  11. Spectorsky 2013, S. 89, zitiert aus Dhahabī, Tarjamat al-imām Aḥmad min Tārīkh al-Islām, 16
  12. Al-Dhahabī. Siyar aʿlāmi n-nubalāʾ, Band 9. Seite 141–142.
  13. Tahḏīb al-kamāl fī asmāʾ ar-riǧāl, Bd. 30, S. 463–470. Ed. Baššār Awwād Maʿrūf. Beirut 1992.
  14. Spectorsky 2013, Seite 86–87.
  15. adh-Dhahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ. Bd. 9, S. 166; Ibn ʿAsākir: Taʾrīḫ madīnat Dimašq. Bd. 63, S. 99–100. Ed. ʿUmar b. Ġarāma al-ʿUmarī. Beirut 1996
  16. adh-Dhahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ. Bd. 9, S. 144.
  17. Hurvitz 2002, Seite 51.
  18. adh-Dhahabī, Siyar aʿlām an-nubalāʾ, Bd. 9, S. 143–144.
  19. In der Werkausgabe: 375 g./Bagdader Raṭl; gemäß Angabe des Herausgebers
  20. adh-Dhahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ, Bd. 9, S. 149–150.
  21. adh-Dhahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ, 12, S. 489–491; al-Ḫaṭīb al-Baġdādī, Taʾrīḫ, Bd. 7, S. 390–394.
  22. Siehe Yāqūt,Muʿǧam al-buldān, Bd. 1,S. 257
  23. adh-Dhahabī, Siyar aʿlām an-nubalāʾ, Bd. 9, S. 150. Ein weiteres Beispiel für Alkoholgenuss unter Gelehrten siehe: An-Nasāʾī.
  24. Rosenthal 1989, Seite 176, Fußnote 66.
  25. Blankinship 1993, Seite 134, Fußnote 726.
  26. siehe Ziriklī, 2002
  27. Tillier, Mathieu; Vanthieghem, Naïm (2018-09-30). "Une œuvre inconnue de Wakīʿ b. al-Ǧarrāḥ (m. 197/812 ?) et sa transmission en Égypte au IIIe/IXe siècle" Arabica. 65 (5–6): 675–700. doi:10.1163/15700585-12341510; ISSN 0570-5398; S2CID 195465795