Wikipedia:GLAM/GLAM on Tour/Sammlung Prinzhorn/Einführung

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von Dr. Thomas Röske


Verantwortliches Sprechen und Schreiben über Werke der Sammlung Prinzhorn

Die Sammlung Prinzhorn besitzt ca. 30.000 Werke von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen. Zu diesen Ausnahmeerfahrungen gehören spiritistische Erlebnisse (die Begegnung mit Geistern Verstorbener) und veränderte Bewusstseinszustände unter dem Einfluss von Drogen. Zumeist handelt es sich aber um Männer und Frauen, die in psychische Krisen geraten waren und psychiatrische Behandlung erhielten. Die Begrifflichkeit für diese Ausnahmeerfahrung hat sich verändert. Prinzhorn sprach nach dem Ersten Weltkrieg noch von „Geisteskrankheit“, heute ist im Deutschen der Begriff Psychiatrieerfahrung politisch korrekt, da er von Betroffenen selbst favorisiert wird. Immer wieder möchten Besucher*innen unseres Museums wissen, was die Schöpfer*innen der hier präsentierten Werke „denn gehabt haben“, und erwarten offenbar psychiatrische Diagnosen. Wir könnten tatsächlich zitieren, welche Begriffe Ärzte in den Krankenakten jeweils verwendet haben. Aber wem nützte das? Einige der Begriffe, wie „Dementia praecox“, „Hysterie“ oder „einfache Seelenstörung“, werden heute nicht mehr verwendet, und eine „Aktualisierung“ der Diagnosen, wenn sie überhaupt möglich erscheint, wäre ethisch fragwürdig. Die genauere Bedeutung der heute eingesetzten Begriffe, wie „Schizophrenie“ oder „Zyklothymie“, ist aber dem größeren Publikum auch nicht bekannt. Ohne genauere Erklärung kann deren Zitierung nur zum Abbruch von Versuchen führen, die Werke zu verstehen.

Die heutige Leitung der Sammlung Prinzhorn besteht nicht aus Psychiater*innen, sondern aus Kunst- und Kulturwissenschaftler*innen und fühlt sich schon deshalb nicht berechtigt, ärztliche Begriffe außerhalb von Zitaten zu verwenden. Diese sollten allerdings auch deshalb vermieden werden, weil es sich nicht um gesellschaftlich wertfreie Begriffe handelt. Psychiatrieerfahrene werden heute immer noch diskriminiert. Die Zuschreibung von „Verrücktheit“, „Wahnsinn“ oder „Schizophrenie“ dient in der Alltagssprache nach wie vor der Abwertung.

Stattdessen zielt die Arbeit unseres Museums darauf, die hier aufbewahrten Werke und ihre Urheber*innen besser zu verstehen. Statt der Diagnosen interessiert uns, warum diese Menschen für „psychisch krank“ erklärt wurden und warum man sie früher aus der Gesellschaft entfernt und oft sogar auf Dauer in Sanatorien und Anstalten untergebracht hat. Und uns interessiert, welche Erfahrungen sich in den Werken spiegeln. Hans Prinzhorn ging 1922 noch davon aus, dass Psychiatrieinsassen diese vollkommen unbewusst hervorgebracht hätten, zitierte sogar die Bibel: „sie wissen nicht, was sie tun“. Wir können heute belegen, dass sich nicht nur psychische Ausnahmeerfahrungen in den Werken spiegeln, sondern ebenso Erinnerungen an das frühere Leben und Reaktionen auf damalige Lebensbedingungen in psychiatrischen Institutionen. Zudem verorteten sich die Schöpfer*innen dieser Werke in einer damaligen Alltagsbildkultur, wenn oftmals auch in eigensinniger Weise.

Die Werke der Sammlung Prinzhorn spiegeln komplexe Blickwinkel auf die jeweilige Gesellschaft, von Menschen, die am Rande dieser Gesellschaft lebten. Wir erfahren durch sie nicht nur etwas über ihre Schöpfer*innen und deren Wirklichkeiten, sondern auch über uns selbst. Diese Erkenntnis sollte verantwortliches Schreiben darüber leiten.


Dr. Thomas Röske leitet seit 2002 die Sammlung Prinzhorn am Universitätsklinikum Heidelberg.