Vom Umgang mit Texten – Kritik-Knigge
Eine gute Enzyklopädie zeichnet sich vor allem durch gute Artikel aus. Die müssen zuallererst geschrieben werden. Damit die Artikel gut werden, ist aber auch eine qualitativ hochwertige Kritik nötig: auf den Diskussionsseiten der Artikel, im Review und auf der Kandidatenseite.
Es gibt Empfehlungen zum Schreiben guter Artikel. Diese Seite hat zum Ziel, Empfehlungen für gute Artikelkritik zu geben. Es handelt sich nicht um Vorschriften oder Richtlinien, sondern um Empfehlungen. Sie stammen aus den Erfahrungen von Lektorat und Literaturkritik.
Schreiben ist trotz aller Kooperation auch in der Wikipedia gewöhnlich ein einsames Handwerk. Und man macht sich dadurch verletzbar: Man gibt ein Stück von sich preis – auf dass sich die Kritik darauf stürzen kann. Wie die Erfahrung zeigt, geht Kritik tatsächlich oft ans Eingemachte. Durch ungeschickte oder aggressive Kritik sind schon viele gute Autoren nachhaltig abgeschreckt worden. Deswegen:
- Versuche immer respektvoll zu kritisieren, auch wenn dir der Text gar nicht gefällt. Werte den Autor nicht ab, respektiere seine Leistung, auch wenn sie deines Erachtens nicht ausreichend ist. Beziehe kritische Aussagen auf den Text und nicht auf den Autor („Dieser Abschnitt stört den Aufbau des Artikels“ statt: „Du hast den Aufbau des Artikels zerstört“).
- Kritisiere so konkret wie möglich. Vermeide Pauschalurteile (z. B. „der Abschnitt ist eine einzige Katastrophe“).
- Sei friedfertig, verständigungswillig – baue Brücken. Verzichte insbesondere auf Drohungen (z. B. „ist dir mein Kontra bei einer eventuellen Abstimmung sicher“) oder düstere Prophezeiungen (z. B. „wirst du am Ende gnadenlos scheitern“); sie sind garantiert Sprengstoff.
- Gib eine Bewertung (etwa bei Kandidaturen) nur dann ab, wenn du den Artikel ganz gelesen hast. Nichts spricht gegen einzelne Anfragen oder Kritikpunkte vor einer Bewertung, aber der Respekt vor dem Schreiber gebietet es als Minimum, wenigstens das Produkt vollständig in Augenschein zu nehmen, bevor man es für gelungen oder misslungen erklärt.
- Versuche den Artikel in seiner Logik, seinem Geist, ja seinem „Klima“ zu verstehen. Es gibt gewöhnlich nicht nur eine Art und Weise, wie man einen Gegenstand in einer Enzyklopädie behandeln kann. Vielleicht hat der Autor einen ungünstigen oder sogar unbrauchbaren Blickwinkel gewählt – versuche aber auch dann, wenn du dieser Ansicht bist, nachzuvollziehen, wie er seinen Text strukturiert hat und worin evtl. die Vorteile dieses Aufbaus liegen könnten.
- Wikipedia-Konventionen haben ihren Sinn. Sie sind aber dem Ziel, eine Enzyklopädie zu schaffen, untergeordnet. Wenn ein Artikel irgendwelche Konventionen verletzt, muss er deswegen noch nicht schlecht sein. Versuche abzuwägen, ob der Bruch einer Konvention gerechtfertigt sein könnte, und urteile dann.
- Lass es den Autor nicht büßen, wenn Du in einem Artikel eine bedenkliche Tendenz verkörpert siehst. Du magst Burschenschaften nicht oder findest Artikel zu Alltagsgegenständen sinnlos? Das wird natürlich in dein Urteil eingehen. Es sollte dich aber nicht davon abhalten, den Artikel als solchen zu würdigen. Es ist respektlos, ihn ausschließlich als Beispiel einer verfehlten Tendenz zu betrachten.
- Kritik ist immer subjektiv und muss es sein (sonst kann sie auch gar nicht zur objektiven Verbesserung beitragen). Sei dir dessen bewusst. Es ist weder respektvoll noch hilfreich, die Kriterien der eigenen Kritik als ehernes Gesetz und unwandelbare Mindestanforderung für alle denkbaren Artikel zu verkünden. Wendungen wie „muss unbedingt“, „das Allermindeste wäre“ etc. sollten grundsätzlich äußerst sparsam gebraucht, lieber ganz vermieden werden.
- Gehe nicht von der Annahme aus, Deine Kritik müsse ihren Adressaten ebenso einleuchten wie dir selbst. Deshalb: Begründe deine Kritik.
- Versuche die Trag- und Reichweite deiner Kritik zu spezifizieren. Ist (nach deiner Auffassung) die ganze Anlage oder auch „Haltung“ verfehlt? Oder geht es nur um einige technische Details? Oder sind es bestimmte Abschnitte, die dir fragwürdig erscheinen? Du erhöhst die Akzeptanz Deiner Kritik und hilfst den Autoren auch sehr dabei, den Artikel zu verbessern, wenn du sorgfältig unterscheidest, was genau gelungen und was misslungen ist.
- Versuche auch das Positive zu sehen und zu benennen – vielleicht sogar zuerst. Eine Kritik ist viel annehmbarer, wenn der Autor seine keineswegs „selbstverständliche“ Mühe, sich mit einem Gegenstand und den Problemen angemessener Darstellung auseinanderzusetzen, gewürdigt fühlen kann.
- Es kann sehr nützlich sein, Kritik an einem oder mehreren Beispielen zu üben, etwa an bestimmten Textstellen. Man sieht so sehr viel konkreter, wo es hakt, als bei einem generellen Urteilsspruch über Stil, Neutralität und dergleichen.
- Oft wird gefordert, Kritik solle konstruktiv sein. Wenn das möglich ist – wunderbar. Vorschläge zur Verbesserung, Ideen, wo es langgehen könnte, helfen fast immer. Aber es ist nicht immer möglich. Auch Kritik, die im Augenblick keine alternative Lösung zu bieten hat, kann der Verbesserung des Artikels dienlich sein – wenn sie ihre Reich- und Tragweite sorgfältig geprüft hat.
- Der Respekt vor der Arbeit der Hauptautoren gebietet es auch, bei eigenen Bastelarbeiten Rücksicht auf deren Leistung zu nehmen. Also: Wer am Artikel selber mitbasteln will, sollte die Meinung der Hauptautoren nicht beiseiteschieben, sondern sich mit ihr ernsthaft befassen – sie haben das Ding schließlich geschrieben. Natürlich gehört ihnen der Artikel nicht, aber sie haben erhebliche unentgeltliche Arbeit hineingesteckt. Deshalb kann es sich oft empfehlen, vor einer Änderung das Gespräch mit dem Hauptautor zu suchen.
- Das Gleiche gilt natürlich für Fälle, in denen Entwürfe von Artikeln oder einzelnen Passagen diskutiert werden: Trage deine Bedenken frühzeitig vor, das hilft manchen Ärger zu vermeiden.
- Beachte, dass neue Autoren die Gepflogenheiten und Ansprüche an gute Artikel bei Wikipedia noch nicht kennen. Nimm dir Zeit für eine Erklärung und biete die Möglichkeit der Rückfrage an.
Und für die Hauptautoren selbst:
- Kritik ist immer schwer zu ertragen und sehr oft ein Schlag gegen das Ego. Ganz zu vermeiden ist das nicht. Versuche es philosophisch zu sehen und das für dich mitzunehmen, was dir und dem Artikel nützt.
- Nimm eine gute, umfangreiche Kritik als Wertschätzung Deiner Arbeit. Warum sonst sollte jemand Zeit in anderer Leute Artikel stecken.
- Bedenke, dass in einer guten, umfangreichen Kritik genauso Herzblut wie in Deinem Artikel steckt.
Und schließlich hat Knigge selbst einen guten Rat für die Autoren:
„Sei aber nicht gar zu sehr ein Sclave der Meinungen, welche Andere von Dir hegen. Sei selbstständig. Was kümmert Dich am Ende das Urtheil der ganzen Welt, wenn Du thust, was Du nach Pflicht und Gewissen und nach Deiner redlichen Ueberzeugung thun sollst?“