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Philosophischer Gedankenaustausch zwischen Frankreich und Deutschland

Dank ihrer persönlichen Mobilität und der Zirkulation von literarischen und philosophischen Werken bewegten sich die europäischen Gelehrten haben sich schon sehr früh in einem transnationalen Raum. Die Begegnung zwischen deutschen und französischen Denkern, aber auch die Aufnahme von Werken aus dem anderen Land führten dabei regelmäßig zu Auseinandersetzungen, die für die Vorstellungen und die Wahrnehmung der intellektuellen Werke der beiden Nachbarn prägend wirken sollten. So entstand im 18. Jahrhundert zwischen zwei Denkschulen eine Auseinandersetzung darüber, wie die germanischen Freiheiten, die von den Franken bei der Eroberung Galliens eingeführt worden waren, auszulegen seien.

Auf der einen Seite vertraten die „Germanisten“, unter ihnen Henri de Boulainvilliers, die Ansicht, bei diesen handele es sich um aristokratische Freiheiten. Auf der anderen Seite bestand für die Romanisten, darunter Abbé Dubos, kein Unterschied zwischen den siegreichen Franken und den besiegten Gallo-Romanen: Ihrer Ansicht wurde der Adel erst durch eine monarchische Macht, die sich selbst absolut gesetzt hatte, willkürlich geschaffen. Der Philosoph Montesquieu vertrat die Ansicht, die germanischen Völker hätten die Freiheit in Europa eingeführt und die Engländer von ihnen die Ideen einer politischen Regierung übernommen. In seinen „Observations sur l’Histoire de France“ (dt. Beobachtungen zur Geschichte Frankreichs) (1765) stellt Abbé Mably das politische System der frühen Germanen als eine allgemeine Versammlung von Bürgern und einem Rat aus Königen und Stammesoberhäuptern dar. Diese Verbindung einer gesetzgebenden und einer ausführenden Macht sei der Vorläufer der politischen Systeme gewesen, die sich später in Europa entwickelten. Nach Ansicht der „Romanisten“ verdankt die französische Nation ihren Status der Gleichstellung des Souveräns, d.h. des Volkes, mit dem absoluten Monarchen. Diese Fragestellung wurde von den liberalen Historikern der Revolution und der Juli- Monarchie weiterverfolgt, u.a. von Charles Guizot, der in seinen „Essais sur l’Histoire de France“ (dt. Essays zur Geschichte Frankreichs) 1823 die Thesen von Mably aufgriff und über die Besonderheiten der französischen politischen Institutionen reflektierte. In Deutschland nahm die Diskussion eine andere Richtung, da die Französische Revolution auf die deutschen Denker große Faszination ausübte. Diesbezüglich bezeichnend ist die vielschichtige Haltung Georg Wilhelm Friedrich Hegels: In einem Text, den er zwischen 1799 und 1802 verfasste („Die Verfassung Deutschlands“) sah Hegel in der ursprünglichen germanischen Freiheit die Ursache für den Verfall des deutschen Volkes, während die von der Französischen Revolution eingeleitete Zentralisierung der Absicht entspräche, die Rechte des Bürgers zu garantieren. 1817 unterstützte Hegel sogar das autoritäre Vorgehen des württembergischen Königs gegen die von den liberalen Württembergern verteidigte Versammlung der Staaten, da dieser, Hegels Ansicht nach, die alte Ordnung vertrat. Die Überlegungen zum Verhältnis der ursprünglichen germanischen Freiheiten und zur Freiheit, wie sie von der Französischen Revolution definiert wurde, dauern in beiden Ländern das ganze 19. Jahrhundert über an und finden sich auch bei Historikern wie Heinrich Gotthard von Treitschke (1834 – 1896) und Numa Denys Fustel de Coulanges (1830 – 1889). Die grundsätzliche Frage des Ursprungs des Geistes der Freiheit nahm mit dem massiven Aufkommen nationaler Bewegungen eine neue Wendung. Nun wurde der Freiheits-Begriff zum Gegenstand politischer und intellektueller Kämpfe. Fustel de Coulanges lieferte sich auch mit Theodor Mommsen (1817 – 1903) einen Meinungsstreit über die Definition von Nation, bei dem es jedoch eigentlich um die nationale Zugehörigkeit von Elsass-Lothringen ging.

In den 1830er Jahren kam es zu einer wichtigen Debatte zwischen Heinrich Heine und Victor Cousin. Heine kam 1831 nach Paris, zu einem Zeitpunkt, da sich an französischen Universitäten viele germanophil eingestellte, französische Wissenschaftler durchsetzten. Paris, das sich seit der Wiederherstellung der Monarchie (Restauration) vom Juli 1830 wieder etwas stärker als Kulturhauptstadt behaupten konnte, zog viele deutschen Denker an. Schon sehr bald nahmen Zeitungen wie z.B. Le Globe mit Heine Kontakt wegen dessen Schriften über Deutschland auf. Heine kritisierte die französische Wahrnehmung Deutschlands, die sich durch das Buch von Madame de Staël auf Stereotypen beschränkte. Er griff auch Victor Cousin an, der den offiziellen französischen Diskurs über die deutsche Philosophie jener Zeit beherrschte und sich mehrfach in Deutschland aufgehalten hatte. Cousin verfügte über eine starke institutionelle Verankerung, einflussreiche akademische und politische Netzwerke und unterhielt auch enge Beziehungen zu vielen Philosophen und Sprachwissenschaftlern in Deutschland, wo die beiden Disziplinen damals nicht getrennt waren. In Artikeln für die Zeitschriften L’Europe littéraire und Revue des Deux Mondes wandte sich Heine gegen die Art und Weise, wie Cousin die deutsche Philosophie zur Rechtfertigung der Ideen der Juli-Monarchie einsetzte. Cousin antwortete auf diese Kritik im Journal général d’instruction publique“, einem Organ das dem Conseil royal d’instruction publique (Königlicher Rat für öffentliche Bildung) nahe stand und sprach Heine die Stellung eines ernsthaften Kommentators ab.

Diese Kontroverse zeigt anschaulich, in welcher Stimmung Teile der deutschen Philosophie in Frankreich eingeführt wurden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts übernahm die französische Universität das deutsche Modell, und deutsche philosophische Werke wurden übersetzt. Diese stärkte den hohen Stellenwert des sog. kosmopolitischen, also weltoffenen Denkens in der intellektuellen Landschaft Frankreichs. In der Soziologie war Maurice Halbwachs nach seinem Lehrer Emile Durkheim einer der ersten, welcher die deutsche Soziologie in Frankreich einführte und deren Beitrag, aber auch Grenzen, v.a. hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und politischen Tragweite, unterstrich. Halbwachs war 1930 Mitglied des Zentrums für Germanistische Studien der Universität Straßburg und setzte sich für den Austausch zwischen deutschen und französischen Wissenschaftlern ein. Er war sehr um die deutsch-französische Versöhnung bemüht und nahm zwischen 1928 und 1931 an den deutschfranzösischen Treffen von Davos teil.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine Ära der Debatten zwischen den Verfechtern eines Europas des Geistes ein, darunter André Gide, Paul Valéry, Thomas Mann, Robert de Traz und Ernst-Robert Curtius. Idee war es, einen neuen Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen in Europa zu begründen und so die politischen Konflikte zu überwinden. Der deutsch-französische Dialog blieb rege, aber schwierig. Er wurde eingeleitet von André Gide in seinen „Überlegungen zu Deutschland“ (Nouvelle Revue Française, 1. Juni 1919) und Ernst-Robert Curtius (1884 – 1956) mit seinen Untersuchungen zu französischen Schriftstellern. Curtius’ Arbeiten wurden in Deutschland heftig kritisiert, denn das Gefühl der Demütigung nach der Niederlage 1918 und die Bedingungen des Versailler Vertrages führten zu einem feindlichen Klima für die intellektuellen Hervorbringungen Frankreichs. Solche Debatten waren in der Zwischenkriegszeit allerdings Einzelerscheinungen. Sie fanden in Frankreich bei den von Paul Desjardins begründeten Dekaden von Pontigny (regelmäßige Treffen von Intellektuellen in der Normandie) und in Luxemburg, bei Begegnungen in Colpach, statt. Aline Mayrisch, Ehefrau des luxemburgischen Industriellen Emile Mayrisch, zählte zu den Akteuren dieser deutschfranzösischen Intellektuellentreffen. Ihr Ehemann war Präsident des Internationalen Stahlkartells, und das Ehepaar war sich darüber bewusst, dass die Interessen des Unternehmens am besten in einem friedlichen Europa, aufbauend auf einer deutschfranzösischen Annäherung, zu verwirklichen wären. Emile Mayrisch gründete 1926 das Deutsch-Französische Studienkomitee, aus dem später das Mayrisch-Komitee wurde. Diese Organisation sollte ein friedliches Europa aufgrundlage der deutsch-französischen Versöhnung befördern, während die zweite gegen nationale Vorteile kämpfen sollte. Das Ehepaar machte seinen Luxemburger Wohnort zu einem intellektuellen Treffpunkt für europäische Humanisten. Zu den Gästen zählten André Gide, die deutsche Schauspielerin Gertrude Eysoldt, Graf Richard Coudenhove-Kalergi, Begründer der paneuropäischen Bewegung, Jacques Rivière, sowie die Philosophen Karl Jaspers und Bernard Groethuysen. Gide traf dort sogar Walther Rathenau, den späteren deutschen Außenminister. Die Dekaden von Pontigny und die Treffen von Colpach bildeten einen Ort für Diskussionen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen, doch sollten diese Begegnungen in der 1930er Jahren mit der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland ein Ende finden. Die intellektuellen Debatten zwischen Deutschland und Frankreich spielten des Weiteren eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entstehung neuer geistiger Bewegungen, z.B. der Existentialisten, die die Ideen verschiedener deutscher Philosophen neu interpretierten, und sie waren geprägt vom Austausch von Konzepten und Ideen. Heute gibt es zahlreiche Orte in Deutschland und in Frankreich (Maison Heinrich Heine in der Cité Internationale in Paris, Deutsch-Französisches Institut, Stiftung Genshagen), wo diese deutsch-französischen Debatten im Geist einer besseren gegenseitigen Verständigung geführt werden.


  • Calvié Lucien, 1988, „Liberté, libertés et berté(s) germanique(s): une question francoallemande avant et après 1789”, in: Mots, 16, S. 9-33.
  • Merlio Gilbert, 1996, „Le pessimisme culturel entre la France et l’Allemagne“, in: Mille neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle”, vol. 14, S. 41-67.
  • Müller Guido, 1993, „Der luxemburgische Stahlkonzern ARBED nach dem Ersten Weltkrieg. Zum Problem der deutsch-französischen Verständigung durch Wirtschaftsverflechtung”, in: Revue d’Allemagne, 25, n°4, S. 535-544.