Aufschub ist ein Stummfilm von Harun Farocki aus dem Jahr 2007.[1] Der Film geht aus von der Frage, wie die Konzentrationslager der Nazis in Fotografie und Film repräsentiert werden.[2]

Film
Titel Aufschub
Produktionsland Deutschland, Südkorea
Originalsprache Deutsch
Erscheinungsjahr 2007
Länge 41 Minuten
Stab
Regie Harun Farocki

Das Filmmaterial Rudolf Breslauers

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Die ersten 27 Minuten des Originalfilms von Rudolf Breslauer (1944)

Der Film basiert auf dem Material des KZ-Häftlings Rudolf Breslauer, der 1944 für die SS Aufnahmen über das Leben der Gefangenen in dem deutschen Durchgangslager Westerbork machen musste. Breslauer drehte 1944 im Auftrag des Lagerkommandanten Gemmeker über mehrere Monate an einem Film über das KZ-Sammellager – wahrscheinlich zur Information für offizielle Besucher des einen der beiden von den Besatzern in den Niederlanden eingerichteten zentralen KZ-Sammellager. Die 90 Minuten des wieder aufgefundenen Filmmaterials blieben damals ungeschnittenes Fragment.

Ihnen fehlt nach Ansicht vieler Kritiker im Unterschied zu den in der gleichen Phase des Zweiten Weltkriegs und der Shoa entstandenen Filmszenen aus dem „Ghetto“ Theresienstadt die direkte propagandistische Intention. Die tonlosen Bilder sind außergewöhnlich, so liegt hier u. a. wahrscheinlich die einzige Filmaufnahme vom Start eines Deportationszugs ins KZ Auschwitz-Birkenau vor.

Einer der erhaltenen Zwischentitel, der für den Film vorgesehen war, lautete: Seit zwei Jahren immer wieder das gleiche Bild: TRANSPORT.[3] Der Kameramann Breslauer wurde samt seiner Familie im September 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Harun Farockis Bearbeitung

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Das erhaltene Filmmaterial Rudolf Breslauers hat Harun Farocki in zweifacher Weise bearbeitet:

Eine Auswahl von Sequenzen von ungefähr 30 Minuten Länge hat er neu montiert: Zum einen hat er die ausgewählten Sequenzen einzelnen Themen zugeordnet – so dem Vorhaben des Lagerkommandanten Gemmeker, Westerbork im Film wie einen Industriebetrieb aussehen zu lassen mit Sport- und Kulturveranstaltungen für die Freizeit der Insassen; zum anderen wiederholt er einzelne Sequenzen oder Einstellungen aus Breslauers Filmmaterial, um Dinge zu betonen oder um auf mögliche verschiedene Deutungen der Bilder hinzuweisen.

Neu hinzugefügtes Material stellen einzig Text-Inserts dar – meist jeweils nur ein Satz –, die Farocki zwischen die einzelnen Sequenzen gesetzt hat. Auf sie reduziert sich bei diesem Film, was in Essayfilmen häufig vom Regisseur oder Erzähler als Off-Kommentar gesprochen wird. Die per Inserts eingefügten Texte haben in manchen Fällen rein faktischen Charakter – wie z. B. „Das Lager hieß jetzt Polizeiliches Judendurchgangslager Westerbork“, in anderen Fällen fordern sie den Betrachter zur Auseinandersetzung mit den Bildern auf – wie z. B. „Zugleich gilt es, das Lächeln dieser Frauen wahrzunehmen“ – und fügen oft Farockis eigene Deutung hinzu – wenn er darin „Augenblicke der Selbstbehauptung“ erkennt. Die eingefügten Texte halten dem Betrachter immer gegenwärtig, dass der Aufenthalt in Westerbork für die allermeisten Insassen nur „Aufschub“ der Deportation nach Auschwitz oder in andere Vernichtungslager bedeutete.

Farockis Vorgehen wurde als „gleichermaßen minimalistisch, bescheiden und subtil“ (Sylvie Lindeperg) und als „deutlich und leise zugleich“ (Antje Ehmann) bezeichnet, es sei eine „Politik der minimalen Intervention“ (Thomas Elsaesser).[4]

Erstaufführungen

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Die Uraufführung des Films fand im April 2007 in Südkorea beim Jeonju International Film Festival statt, dort unter dem englischen Titel Respite. Die ersten europäischen Aufführungen hatte der Film im August 2007 beim Locarno Film Festival sowie im November 2007 bei der Duisburger Filmwoche.[5]

Literatur

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  • Harun Farocki: Sursis – Respite – Aufschub. (Abbildungen und Texte, französisch und deutsch, aus dem Film.) Ursprünglich erschienen in: intermédialités, Nr. 11, Frühjahr 2008; wiederveröffentlicht in: Harun Farocki: Lerne das Einfachste! – Texte 2001–2014. – Schriften. Band 6. Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2022, ISBN 978-3-7533-0325-3, S. 271–296.
  • Sven Kramer: Wiederholtes Lesen. H. F.'s Lektüre der Filmdokumente aus dem Lager Westerbork in „Aufschub“. In: Dsb. (Hrsg.): Transformationen der Gewalt im Film. Über Leni Riefenstahl, Jean Améry, David Cronenberg, Atom Egoyan, Chris Marker, Alexander Kluge, Farocki. Reihe Deep Focus, 20. Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-86505-323-7, S. 142–167.
  • Florian Krautkrämer (Hrsg.): Aufschub – Das Lager Westerbork und der Film von Rudolf Breslauer / Harun Farocki. Vorwerk 8, Berlin 2018, ISBN 978-3-940384-94-2. Darin Texte von Axel Doßmann, Sylvie Lindeperg, Florian Krautkrämer und Farocki sowie die DVD des Films.[6]
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Einzelnachweise

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  1. Kurzinformation zum Film bei harunfarocki.de (abgerufen am 29. Oktober 2022).
  2. „Im Herbst 2005 bat mich Ludger Schwarte, auf einem Kongress etwas zu der Frage beizutragen, wie die Lager der Deutschen in Fotografie und Film repräsentiert werden. Nachdem ich mir die hier erwähnten Filme angesehen hatte …, nahm ich mir vor, das Material aus dem Lager Westerbork zu bearbeiten.“ Harun Farocki: Wie Opfer zeigen?; Wiederveröffentlichung eines Vorlesungstextes in: Florian Krautkrämer (Hrsg.): Aufschub (darin S. 117–126; s. Literatur).
  3. Ausführliche Beschreibung des Filmmaterials und seiner Entstehung in: Sylvie Lindeperg: Westerbork: Das doppelte Spiel des Films; deutsche Übersetzung ihres ursprünglich auf Französisch veröffentlichten Textes in: Florian Krautkrämer (Hrsg.): Aufschub (darin S. 21–61; s. Literatur).
  4. Hier zitiert nach: Peter Geimer: Harun Farocki – „Politik der minimalen Intervention“; online verfügbar auf der Website des Harun Farocki Instituts (abgerufen am 18. November 2022).
  5. Für Jeonju siehe: archiv.harun-farocki-institut.org (abgerufen am 18. November 2022); für Locarno und Duisburg siehe: filmportal.de (abgerufen am 18. November 2022).
  6. Kurzinformation zum Buch auf Website des Herausgebers floriankrautkraemer.de (abgerufen am 29. Oktober 2022).