Bairesche Klasse

reelle Funktionen Mathematik

Die baireschen Klassen stellen eine partielle Klassifizierung der reellen Funktionen dar.

Sie ist zum ersten Mal von René Louis Baire in seiner Dissertation vom Jahre 1898 aufgestellt worden und als Antwort auf die zum ersten Mal von Dini (1878) gestellten Frage gedacht worden, ob jede Funktion eine analytische sprich durch Grenzübergang aus elementaren Funktionen gewonnene Darstellung hat.[1] Inspiration für solche Untersuchungen ist die von Karl Weierstraß in seinem Approximationssatz formulierte Erkenntnis gewesen, dass jede stetige Funktion Limes von Polynomenfolgen ist. Baire setzt diese Idee fort, in dem er die Klasse aller Funktionen definiert, die Limes von stetigen Funktionenfolgen sind, und nennt diese Funktionen Funktionen der ersten Klasse. Limites von Funktionenfolgen aus der ersten Klasse bilden die zweite bairesche Klasse, aus der zweiten Klasse – die dritte Klasse usw. Die Untersuchung der baireschen Klassen ist später von Henri Léon Lebesgue, Émile Borel, Felix Hausdorff und William Henry Young aufgegriffen worden. Die Hoffnung, dass man durch Klassifizierung aller reellen Funktionen und aller Mengen von reellen Punkten die Kontinuumshypothese beweisen könnte, ist bei diesen Untersuchungen ein wichtiger Motivationsfaktor gewesen.[2] Diese Hoffnung ist durch den von Hausdorff und Pawel Sergejewitsch Alexandrow im Jahre 1916 erbrachten Beweis der Kontinuumshypothese für borelsche Mengen,[3] die mit den baireschen Klassen eng verbunden sind, noch verstärkt worden. Heutzutage wissen wir allerdings, dass eine vollständige analytische Klassifizierung der reellen Funktionen und Punktmengen genauso wie der Beweis der Kontinuumshypothese unlösbare Aufgaben sind.

Definition

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Sei   für ein  .

Die nullte bairesche Klasse   auf   wird als die Menge aller stetigen Abbildungen

 

definiert.

Für jede höchstens abzählbare Ordinalzahl   ist die  -te bairesche Klasse auf   durch

 

definiert.[4]

Eine Funktion heißt bairesch, wenn sie Element einer baireschen Klasse ist. Sie heißt bairesch vom Typ  , wenn sie Element von

 

ist.

Klassifikation von Young

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In der Klassifikation von Young wird rekursiv die Menge der Funktionen definiert, die Limes von fallenden Folgen sind – genannt Funktionen vom Typ  , sowie die Menge der Funktionen, die Limes von wachsenden Folgen sind – Funktionen vom Typ  .[5][6] Dabei dient in den beiden Fällen als Basis der Rekursion die Menge der stetigen Funktionen. Eine gute Möglichkeit, die youngschen Klassen zu definieren und den Zusammenhang zwischen den youngschen Klassen und den baireschen Klassen zu veranschaulichen, bietet die Notation von Hahn:[7]

  • mit   wird die Menge der Funktionen bezeichnet, die Limes einer fallenden Folge von Funktionen aus einer Funktionenmenge   sind,
  •   – ist die Menge der Funktionen, die Limes einer wachsenden Folge von Funktionen aus   sind,
  •   – ist die Menge der Funktionen, die Limes einer beliebigen Folge von Funktionen aus   sind,
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  

Wenn   die Menge der stetigen Funktionen bezeichnet, dann entspricht die Bezeichnung   die schon verwendete Bezeichnung für die Menge der baireschen Funktionen vom Typ  . Die Menge der youngschen Funktion vom Typ   ist in dieser Notation   und vom Typ  :  . Die youngschen Funktionen vom Typ   sind die oberhalbstetigen und vom Typ   – die unterhalbstetigen Funktionen.[8]

Es gelten folgende Regeln:[9]

  • Falls  :   und  .
  • Falls   isoliert ist (hat also einen unmittelbaren Vorgänger  ):   und  .
  • Für  :   und  .
  • Für  :   und  .
  • Falls   keinen unmittelbaren Vorgänger hat (ist also eine Limeszahl):  .
  • Für  :   und  .
  • Für  :  .
  • Falls   eine Limeszahl ist:  
  •   (Einschiebungssatz),

Zusammenhang zwischen baireschen Funktionen und youngschen Funktionen:

  •  .
  •   und  

Wegen   bedeutet die letzte Regel, dass sich die Hierarchie der youngschen Funktionen auch mit Hilfe der Hierarchie der baireschen Funktionen definieren lässt.

Verbindung zu den borelschen Mengen

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Die Untermengen der Menge  , die Borelmengen sind, lassen sich wie folgt klassifizieren:

  •   sei die Menge der abgeschlossenen und   der offenen Untermengen von  .
  •   für eine beliebige Mengen   sei die Bezeichnung der Menge von Vereinigungen und   der Menge von Durchschnitten von abzählbar vielen Elementen von  .
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  
  •  

Man nennt   die multiplikative Klasse  .   wird die additive Klasse   genannt. Jede borelsche Menge gehört zu mindestens einer diesen Klassen (mit  ). Eine Funktion heißt B-messbar der Klasse  , wenn für jede abgeschlossene Menge   das Urbild   Element der multiplikativen Klasse   ist. Die B-messbaren Funktionen lassen sich auch durch Lebesgue-Mengen charakterisieren. Sei für jede beliebige Menge  

  •  
  •  
  •  

wobei  .

Es lässt sich zeigen, dass die Menge der B-messbaren Funktionen der Klasse   die Menge   ist.

Für jede endliche Ordinalzahl   sind die baireschen Funktionen vom Typ   die B-messbaren Funktionen der Klasse  . Für jede transfinite höchstens abzählbare Ordinalzahl sind die baireschen Funktionen vom Typ   die B-messbaren Funktionen der Klasse   (Satz von Lebesgue-Hausdorff).[10][11]

Dieser Satz lässt sich mit Hilfe der oben eingeführten Notation in einer sehr kompakten Form aufschreiben:

 .

Er lautet für die youngschen Funktionen

 .[12][7]

Eigenschaften

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Die Menge der baireschen Funktionen vom Typ   ist für jede höchstens abzählbare Ordinalzahl   bezüglich der algebraischen Operationen Addition, Multiplikation und Division abgeschlossen:[13]

  •  
  •  

Es gilt außerdem:[13]

  •  
  •  

Jede Funktion mit höchstens abzählbar viele Unstetigkeitstellen sowie jede charakteristische Funktion von einer beschränkten abgeschlossenen Menge ist eine Funktion der höchstens ersten Klasse.[14] Beispiel für eine Funktion der zweiten Klasse ist die Dirichlet-Funktion mit ihrer analytischen Darstellung:

 

Das Konstruieren von Beispielen aus höheren baireschen Klassen ist nicht trivial.[15] Die Frage, ob die baireschen Klassen leer sind, ist 1905 von Lebesgue beantwortet worden. Ihm gelingt es zu zeigen, dass keine der baireschen Klassen leer ist[11] und dass die Menge der baireschen Funktionen und das Kontinuum gleichmächtig sind. Das letztere bedeutet, dass es Funktionen gibt, die in keiner der baireschen Klassen liegen. Man müsste, um ein explizites Beispiel für eine solche Funktion zeigen zu können, eine im borelschen Sinne nicht messbare Menge konstruieren. Nicht B-messbare Mengen sind die Vitali-Mengen. Sie sind auch Beispiel für nicht L-messbare Mengen. Allerdings wird bei ihrer Definition   (das Auswahlaxiom) verwendet.

Die Menge der Unstetigkeitstellen jeder baireschen Funktion vom Typ   ist mager. Diese Aussage ist für eine beliebige bairesche Funktion im Allgemeinen nicht richtig. Gegenbeispiel ist die Dirichlet-Funktion. Für jede bairesche Funktion existiert aber eine Menge, deren Komplement mager ist und für die   relativ zu dieser Menge stetig ist.

Universalfunktion

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Wichtiges Instrument zur Untersuchung der borelschen Mengen und der baireschen Funktionen stellen die sogenannten Universalfunktionen dar.

Die Funktion

 

heißt Universalfunktion für die Funktionenmenge

 ,

falls

 

Die Funktion

 

heißt Universalfunktion relativ zu der Menge  , falls

 

Zentrale Rolle bei dem Beweis, dass die baireschen Klassen   und die multiplikativen Klassen   für jede   nicht leer sind, spielt der Satz von Lebesgue über die Universalfunktion: Für jede positive höchstens abzählbare Ordinalzahl   existiert eine Universalfunktion

 

für die Menge  , die bairesch ist.[16]

Der entsprechende Satz für borelsche Mengen lautet: Für jede höchstens abzählbare Ordinalzahl   existiert Universalfunktion   relativ zu der multiplikativen Klasse  , so dass

 

Die Klasse B+

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Anwendung in der Integrationstheorie finden die Funktionen der so genannten baireschen Klasse  . Für jede Folge   aus Elementen der Menge

 

sei

 

falls es eine solche Zahl   gibt, so dass  . Sonst sei

 

Die Klasse   wird wie folgt definiert

 

wobei   die Menge der stetigen Funktionen   mit kompaktem Träger bezeichnet. Bei dem Daniell-Lebesgue-Prozess wird das Integral zuerst für stetige Funktionen mit kompaktem Träger definiert und dann auf die Funktionen der baireschen Klasse   durch

 

ausgedehnt. Mit Hilfe des Satzes von Dini lässt sich zeigen, dass diese Definition korrekt (also von der Wahl der monoton wachsenden Funktionenfolge   nicht abhängig) ist.[17]

Verallgemeinerungen

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Der Begriff bairesche Funktion lässt sich für Abbildungen

 

zwischen beliebigen metrischen Räumen   und   definieren. Allerdings sind nicht alle Eigenschaften der reellen baireschen Funktionen ohne weiteres auf die allgemeinen baireschen Funktionen übertragbar. Alle Abbildungen des metrischen Raumes der algebraischen Zahlen auf sich selbst gehören zum Beispiel zu der nullten oder zu der ersten baireschen Klasse. Wenn   die Menge der reellen Zahlen ist, dann ist die Vollständigkeit und das Vorhandensein eines nichtleeren insichdichten Kerns von   ausreichend dafür, dass keine der baireschen Klassen   leer ist.[12] Jede reellwertige B-messbare Funktion ist eine bairesche Funktion. Falls   eine abzählbare Basis hat, dann ist jede B-messbare Funktion der Klasse   Limes von B-messbaren Funktionen niedriger Klassen. Jede bairesche Funktion ist B-messbar.[18] Falls   eine bairesche Funktion vom Typ   und   eine bairesche Funktion vom Typ   ist, dann ist ihre Komposition eine bairesche Funktion vom Typ  .[10]

Quellen und Bemerkungen

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  1. Israel Kleiner: Evolution of the Function Concept: A Brief Survey. In: The College Mathematics Journal. Bd. 20, Nr. 4, September 1989, ISSN 0746-8342, S. 282–300.
  2. Diese Idee ist auf Cantor zurückzuführen. Er zeigt in seiner Arbeit Ueber unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten. (Mathematische Annalen. Bd. 23, 1884, S. 453–488, Digitalisat), dass jede abgeschlossene Menge von reellen Punkten Vereinigung von einer perfekten und einer abzählbaren Menge ist, und äußert die Vermutung, dass sich dieses Schema auf solche Weise erweitern lässt, so dass alle Mengen von reellen Punkten durch einfache Mengen beschrieben werden können. Die Arbeiten von Cantor und Baire gelten als die ersten auf dem Gebiet der so genannten deskriptiven Mengenlehre (von lateinisch describere „beschreiben“).
  3. Felix Hausdorff: Die Mächtigkeit der Borelschen Mengen. In: Mathematische Annalen. Bd. 77, Nr. 3, 1916, S. 430–437, Digitalisat.
  4. Die Einschränkung auf die höchstens abzählbaren Ordinalzahlen ist nicht zwingend erforderlich. Sie ist damit begründet, dass alle  -ten baireschen Klassen für überabzählbare  -s leer sind, was man leicht durch transfinite Induktion zeigen kann (siehe: Péter Komjáth, Vilmos Totik: Problems and Theorems in Classical Set Theory. Springer, New York NY 2006, ISBN 0-387-30293-X.)
  5. Л. В. Канторович: Об обобщенных производных непрерывных функций. In: Математический сборник. Bd. 39, Nr. 4, 1932, ISSN 0321-4540, S. 153–170, PDF (Memento vom 28. September 2007 im Internet Archive).
  6. Friedrich Hartogs: Zur Darstellung und Erweiterung der Baireschen Funktionen. In: Mathematische Zeitschrift. Bd. 42, Nr. 1, Dezember 1937, Digitalisat bei digizeitschriften.de.
  7. a b Hans Hahn: Reelle Funktionen (= Mathematik und ihre Anwendungen in Monographien und Lehrbüchern. Bd. 13, ZDB-ID 503786-4). Akademisches Verlagsgesellschaft mbH, Leipzig 1932.
  8. An dieser Stelle sei noch einmal unterstrichen worden, dass es sich hier um im engeren Sinne reellwertige Funktion handelt. Falls man zulässt, dass die Limesfunktionen auch die Werte ±∞ annehmen, dann ist zwar jede youngsche Funktion halbstetig, nicht jede halbstetige Funktion ist aber Youngsch.
  9. Alle diese Regeln findet man in: Hans Hahn: Reelle Funktionen (= Mathematik und ihre Anwendungen in Monographien und Lehrbüchern. Bd. 13, ZDB-ID 503786-4). Akademisches Verlagsgesellschaft mbH, Leipzig 1932, unter 35.1.1, 35.1.11, 35.1.21, 35.1.5, 34.2.1, 34.2.11 und 34.1.1.
  10. a b Kazimierz Kuratowski: Topology. Band 1. New edition, revised and augmented. Academic Press u. a., New York u. a. 1966, § 31.
  11. a b Henri Lebesgue: Sur les fonctions representables analytiquement. In: Journal de Mathématiques Pures et Appliquées. Série 6, Bd. 1, 1905, ISSN 0021-7824, S. 139–216, Digitalisat bei Gallica.
  12. a b Felix Hausdorff: Mengenlehre (= Göschens Lehrbücherei. Bd. 7, ZDB-ID 503797-9). 2., neubearbeitete Auflage. de Gruyter, Berlin u. a. 1927, § 39.
  13. a b Casper Goffman: Reelle Funktionen. Bibliographisches Institut-Wissenschafts-Verlag, Mannheim u. a. 1976, ISBN 3-411-01510-1.
  14. Isidor P. Natanson: Theorie der Funktionen einer reellen Veränderlichen. Unveränderter Nachdruck der 4. Auflage. Harri Deutsch, Zürich u. a. 1977, ISBN 3-87144-217-8 (auch in digitaler Form auf Russisch bei INSTITUTE OF COMPUTATIONAL MODELLING SB RAS, Krasnojarsk).
  15. Beispiel für eine Funktion aus   findet man in: Hans Hahn: Reelle Funktionen (= Mathematik und ihre Anwendungen in Monographien und Lehrbüchern. Bd. 13, ZDB-ID 503786-4). Akademisches Verlagsgesellschaft mbH, Leipzig 1932, unter § 37.4.
  16. Man kann sogar zeigen, dass es für   eine bairesche Universalfunktion aus der  -ten baireschen Klasse gibt. Für die Menge der baireschen Funktionen vom Typ   existiert keine bairesche Universalfunktion aus der  -te bairesche Klasse. Für die Menge der youngschen Funktionen vom Typ   existiert eine youngsche Universalfunktion, die auch vom Typ   ist. (siehe: Л. В. Канторович: Об универсальных функциях. In: урнал Ленинградского физико-математического общества. Bd. 2, H. 2, 1929, ZDB-ID 803408-4, S. 13–21, PDF (Memento vom 28. September 2007 im Internet Archive)).
  17. Eberhard Freitag: Vorlesungen über Analysis. Skript, Teil II, pdf.
  18. Sashi M. Srivastava: A course on Borels sets (= Graduate Texts in Mathematics. Bd. 180). Springer, New York NY u. a. 1998, ISBN 0-387-98412-7.